Aktive Gewaltfreiheit. Группа авторов

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Название Aktive Gewaltfreiheit
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063849



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nicht nur vorgeführt und entlarvt, sondern durchbrochen und kreativ überwunden werden.

      Die blitzschnelle Gegenaktion „pariert“ nicht auf der Ebene der Aktion des Gewalttäters – das wäre im Sinne der von Jesus problematisierten „Anti“-Haltung –, sondern „dreht“ die Situation. Der normalerweise mit der rechten Hand ausgeführte Schlag auf die Wange des Gegenübers kann nur mit dem Handrücken ausgeführt werden; das ist nicht nur eine Form der Gewalt, sondern Ausdruck der Herabsetzung, der Entwürdigung des Gegenübers. Dreht dieser dem Schläger die andere Wange zu, verschiebt sich die Situation; aus der Herabwürdigung wird nackte Gewalt. „Durch die Gegenprovokation, auch die andere Wange hinzuhalten, verändert er [d.i. der Unterlegene, G.St.] die Situation. Das Objekt des Unrechts wird zum Handlungssubjekt und gewinnt so ein Stück weit Handlungssouveränität und Würde zurück. Selbst wenn nun das Gegenüber durch dieses ‚Entgegenkommen‘ nicht dazu stimuliert wird, innezuhalten und sein Verhalten zu überdenken, sondern die Skrupellosigkeit besitzt, die ‚Einladung‘ anzunehmen, hat sich die Konstellation gegenüber dem ersten Schlag fundamental verändert.“14

      An diesem „Paradebeispiel“ des jesuanischen Pazifismus scheint die Logik der Gewaltfreiheit überdeutlich auf. Der Gewaltverzicht bedeutet den Austritt aus dem ewigen Hin und Her von Gewalt und Gegengewalt, er unterbricht den Kreislauf der Destruktivität und ermöglicht einen Ausweg. Eines bietet er nicht: eine Garantie, dass die Gewalt ein Ende findet. Und er bietet auch keine billige Lösung; der Preis kann sogar sehr hoch sein. Man darf die Assoziationen nicht zu weit treiben, aber gleich das erste Beispiel der Dreierreihe in Mt 5,39b ruft die Passionsgeschichte des Evangeliums in Erinnerung (vgl. Mt 26,67f) und lässt erahnen, was Nachahmung Gottes als Weg aus der Gewalt bedeuten kann. Aber auch wenn dieser Ernst immer im Blick zu behalten ist, wenn es um den Widerstand gegen zerstörerische Gewalt geht, sind die weiteren Beispiele nicht ohne Humor, der auch zum Aufbrechen einer verfahrenen Situation gehört und dem Unterdrückten wie dem Unterdrücker den Weg in eine andere Zukunft öffnen kann.

      Wer vor Gericht unter Zwang zusätzlich zum Untergewand auch noch den als lebenswichtiges Kleidungsstück nicht pfändbaren Mantel (vgl. Ex 22,25f; Dtn 24,12f) hergibt, steht nackt vor dem Publikum; die Vorstellung überbietet die eigentlich ernste Situation, in der es um das letzte Hab und Gut des Armen geht, in Richtung eines Straßentheaters – mit dem Appell an den Gläubiger, „sein Verhalten gegenüber den Armen überhaupt zu überdenken und zu verändern“15. Das Mitgehen der „zweiten Meile“ führt nicht zum Zusammenbruch des römischen Besatzungsregimes, zeigt aber einen Weg zur Wahrung der Würde in einer bedrückenden Situation. „But why carry his pack a second mile? Is this not to rebound to the opposite extreme of aiding and abetting the enemy? Not at all. The question here, as in the two previous instances, is how the oppressed can recover the initiative and assert their human dignity in a situation that cannot for the time being be changed. The rules are Caesar’s, but how one responds to the rules is God’s, and Caesar has no power over that. Image then the soldiers’s surprise when, at the next mile marker, he reluctantly reaches to assume his pack (…) From a situation of servile impressment, the oppressed have suddenly seized the initiative. They have taken back the power of choice. (…) Imagine the situation of a Roman infantryman pleading with a Jew to give back his pack. The humor of this scene may have escaped us, but it could scarcely have been lost on Jesus’ hearers, who must have been regaled at the prospect of this discomfiting their oppressors.“16

      Praktizierte Schöpfungstheologie

      Die sechste These führt das Programm einer schöpferischen Überwindung zerstörerischer Gewaltverhältnisse fort. Mehr noch als das Hinhalten der Wange gilt die Feindesliebe als Charakteristikum der Botschaft Jesu und als extreme, ja ungeheuerliche Forderung christlicher Ethik, deren Praktikabilität und Verbindlichkeit fraglich erscheint. Die Argumentation der Bergpredigt unterläuft mit einigen ebenso schlichten wie zwingenden Überlegungen alle Relativierungsversuche. Feindesliebe gleicht nicht einer ethischen Gipfeltour, sondern ist das Pendant des biblischen Gottesglaubens, plausibilisiert durch eine einfache schöpfungstheologische Argumentation. Vorgängig zu allen Differenzen zwischen „Bösen und Guten“ – die Bösen werden sogar zuerst genannt! – gibt es eine tiefe Solidarität aller, die in ihrer Kreatürlichkeit gründet.17 Die moralischen Unterschiede werden nicht verwischt, aber die Welt allein mit diesem Maßstab zu beurteilen, hieße, Grundlegendes zu übersehen. Wie in These fünf ist diese Erkenntnis unmittelbar für das Handeln bedeutsam. Ein die direkte Erfahrung nur spiegelndes Verhalten übersieht den größeren Horizont, die tiefere Verbundenheit, die allen Unterschieden vorausliegt.

      „Alles zusammenfassend begründet Jesus seinen Ruf mit dem Rückweis auf Gott, der vollkommen ist. Mit diesem Wort wird im griechischen Alten Testament ein hebräischer Begriff übersetzt, der das Ganzheitliche, das Unversehrt- und Ungeteiltsein meint. So kann das Alte Testament davon berichten, daß einer in seinem Herzen vollkommen (d.h. ganz, ungeteilt) mit dem Herrn lebt (1 Kön 8,61; 11,4; 15,3.14). (…) So ist auch bei Matthäus die ganze Ausrichtung auf Gott gemeint, nicht die Fehlerlosigkeit einer in sich abgerundeten, zur höchstmöglichen Perfektion entwickelten Persönlichkeit. Das wäre gerade das Abweichen von jener ganzheitlichen Ausrichtung auf Gott.“18 Dem entspricht Gottes ungeteilte Treue, seine ganzheitliche Hinwendung zu seinem Bundespartner. Auch wenn Feindesliebe als extreme ethische Forderung gilt, so ist festzuhalten, dass der matthäische Jesus vor dem Hintergrund der biblischen Überlieferung damit „nichts Unerhörtes“19 sagt. Feindesliebe wird verstanden „als Entsprechung zur unbedingten liebenden Zuwendung Gottes zu den Menschen, der diesen mit seiner Suche nach dem Verlorenen eine neue Zukunft eröffnet“20. Die Bibel erinnert immer wieder daran, dass nicht „die Anderen“ die Bösen sind, die der Erlösung bedürfen, und dass alle Überheblichkeit fehl am Platze ist. In einer Meditation über den von Gott selbst geschenkten „Frieden“ (Röm 5,1) hält Paulus fest, dass Gott zuerst alle als Feinde geliebt und mit sich versöhnt hat (Röm 5,8.10):

      8 Es erweist aber seine Liebe zu uns Gott dadurch,

      dass – als wir noch Sünder waren – Christus für uns gestorben ist:

      …

      10 Wenn nämlich Feinde seiend

      wir versöhnt worden sind mit Gott

      durch den Tod seines Sohnes,

      wie viel mehr werden wir als Versöhnte

      gerettet werden durch sein Leben.

      Gott ist darin vollkommen zu nennen, „daß er sich niemandem versagt“, dass „er niemanden ausschließt und auch niemanden abschreibt“, dass er „gerade darin vollkommen ist, daß er auch der Gott der Gottlosen ist“21. „Denn Gott selbst gönnt sich seinen Feinden (…). Er liebt die, die ihn nicht lieben, aber nicht, weil sie ihn nicht lieben, sondern damit sie ihn lieben können. In dieser Liebe, die einfach anfängt und nicht aufhört und so Liebe ermöglicht, ist er schöpferisch, ist er vollkommen.“22 Die Feindesliebe ist kein Spezialthema einer christlichen Ethik, sondern das Zentrum des biblischen (nicht nur des neutestamentlichen) Gottesverständnisses. „Die Feindesliebe hat daher ein doppeltes Ziel: sie ist auf die Überwindung des Racheimpulses im eigenen Herzen und auf die Verwandlung des Gegenübers, auf seine ‚Entfeindung‘ gerichtet. Weil sie mich selbst und den Feind von den Wunden des Hasses heilt, ist sie der einzige erfolgversprechende Weg zur dauerhaften Überwindung der Feindschaft.“23

      Nichts kann sich zum Guten wandeln, wenn Gottes schöpferische Liebe von der Angst des Menschen um sich selbst verschlungen wird; deshalb werden die fünfte und sechste These der Bergpredigt flankiert und gestützt durch den Refrain vom himmlischen Vater, der weiß, was Menschen nötig haben. Das Vaterunser ist das Gebet derer, die den Feind lieben sollen und wollen, aber nicht können, weil und solange sie zuerst auf sich schauen. „Sucht aber zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit (…)“ (Mt 6,33). Das ist die Vorzugsregel, die kreativer Gewaltfreiheit den Weg öffnet.

      Die verwandelnde Kraft der Schwachen

      An der Figur des „Gottesknechtes“ entfaltet das Alte Testament einen Weg, der von Anfang an die Anti-Logik, die Spiegelung der Gewalt im eigenen Verhalten überwindet und deshalb