Aktive Gewaltfreiheit. Группа авторов

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Название Aktive Gewaltfreiheit
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783429063849



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Texten oder aus der islamischen Geschichte heraus abgeleitet werden können.6

      Insgesamt ist der Fundamentalismus wirkungsgeschichtlich ein Produkt der Moderne. Das kann man nicht nur an den abrahamischen Religionen exemplifizieren, sondern auch am Buddhismus oder Hinduismus. Sie sind als Reaktion auf die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaften entstanden. Aus Angst, dass die Religion völlig aus der individuellen und gesellschaftlichen Sphäre verschwindet, sollte die Formel „Back to the Roots“ eine Wiederbesinnung auf die Fundamente der Religion bewirken. Denn der Rationalisierungsprozess, so wie ihn Max Weber für die christlich-abendländischen Gesellschaften identifizierte und analysierte, hat nicht nur die politischen, ökonomischen oder wissenschaftlichen Systeme erfasst, sondern ebenso die Religion. Die Folge dieser Entwicklung ist nicht nur die Auflösung von Traditionen, sondern auch die Rationalisierung der Theologien. Am Beispiel des christlichen Fundamentalismus, der in den USA seinen Ursprung hat, werden durch die Rückbesinnung auf die „Five Fundamentals“ diese Umkehrungsversuche deutlich.7

      Im islamischen Kontext hat der Fundamentalismus allerdings zwei Formen hervorgebracht: Einen traditionellen Fundamentalismus, der ähnlich wie die christlichen Fundamentalisten sich einem rationalen Diskurs völlig verschließt und auf die wortwörtliche Auslegung der heiligen Schriften pocht. Im Rahmen des „cultural lag“ in islamisch geprägten Ländern ist zu erwarten, dass diese Bewegung mit zunehmender Modernisierung noch erstarken wird. Daneben existiert ein rationaler Fundamentalismus, der historische, symbolische bzw. metaphorische Zugänge zum heiligen Text erlaubt, wenn sie dem Ziel einer „islamischen“ Staatsform dienlich sind. Beide Formen sind seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts bis heute aktiv.

      Salafisten in Deutschland – eine neue fundamentalistische Jugendbewegung

      Im Rahmen der Arbeitsmigration nach Deutschland wurde auch fundamentalistisches Gedankengut importiert. Die Rahmenbedingungen in Deutschland wie neue potenzielle Mitglieder, Finanzquellen, demokratische Rechtsordnung usw. haben dazu beigetragen, dass sich im Laufe der 1970er, 1980er und 1990er Jahre zahlreiche fundamentalistische Gruppierungen hierzulande niedergelassen haben. Oft sind zudem wichtige Führungspersonen als politische Flüchtlinge eingereist und haben sich als solche im religiösen Feld eine Position verschafft. Trotz der Heterogenität war diesen Gruppierungen gemeinsam, dass sie

      – eher ethnisch-homogen zusammengesetzt waren,

      – eine Gewaltanwendung völlig oder zumindest auf deutschem Boden abgelehnt haben,

      – ihre Politik eher auf die Herkunftsländer bezogen war

      – und die Altersstruktur eher ab 30 Jahre begann.

      Ab den 2000er Jahren taucht eine weitere Bewegung auf, die nicht nur Deutschland als Missionierungs- und Aktionsgebiet betrachtet, sondern sich überwiegend aus jungen Menschen rekrutiert: die Salafisten. Anders als die vorherigen fundamentalistischen Bewegungen handelt es sich auch nicht um ein reines Migrantenphänomen, da sich zahlreiche Konvertiten unter den Salafisten befinden. Es handelt sich hierbei einerseits um Deutschstämmige, die zum Islam konvertiert sind und sich diese extreme Form ausgewählt haben. Zum anderen um Jugendliche, die aus muslimisch-säkularen Familien stammen und wieder zu ihren religiösen Wurzeln zurückkehren möchten. Gemeinsam ist den Anhängern des Salafismus, dass Brüche in ihren Individualbiographien typisch sind. Attraktiv ist diese Bewegung für Jugendliche auch deshalb, weil sie sich als universelle Oppositionsbewegung versteht und ihre Anhänger eine Selbstaufwertung erleben. Vor allem für gescheiterte Biographien fällt dieses Identifikationsangebot auf fruchtbaren Boden. Das Zusammengehörigkeitsgefühl wird durch ein enges Gemeinschaftsleben und durch Dress-Codes zum Ausdruck gebracht.

      Aus einer Außenperspektive wird diese Bewegung oft als eine homogene Gruppe wahrgenommen, obwohl es sich um eine heterogene Strömung handelt. Diese kann man grob in folgende drei Hauptgruppen aufgliedern:

      – puristische Salafisten: Diese Strömung verfolgt das Ziel, ein frommes Leben zu führen und durch Missionierung langfristig eine islamkonforme Gesellschaft nach fundamentalistischen Prinzipien zu schaffen. Das zentrale Motto hierbei ist: Gott verändert eine Gesellschaft nur, wenn jeder Einzelne sich ändert. Daher werden politische wie auch gewalttätige Mittel abgelehnt. Stattdessen konzentriert sich diese Strömung auf das eigene soziale Umfeld, um das eigene Gedankengut zu verbreiten und Frömmigkeit als Basis für eine religiöse Staatsform zu schaffen.

      – politische Salafisten: Anders dagegen sind die politisch-orientierten Salafisten, die durch öffentliche Auftritte und gezielte medienwirksame Inszenierungen für ihr Gedankengut werben wollen. Aktionen wie Koranverteilungen sind nur ein Beispiel dafür, wie sehr diese Strömung die Öffentlichkeit sucht. Ebenso sind politische Demonstrationen usw. ein Mittel, um die eigene Botschaft zu transportieren. Allerdings darf man nicht glauben, dass sie auch an einer politischen Partizipation wie aktive oder passive Wahlen im System interessiert seien. Im Gegenteil: das demokratische System wird als ein polytheistisches System betrachtet, da es nicht auf dem Gotteswillen, sondern auf dem Volkswillen basiere. Daher sei jede Art von Teilnahme an diesem System ein polytheistisches Ritual und Befürworter des Systems seien „Ungläubige“. Ebenso werden Muslime als Häretiker betrachtet, wenn sie sich demokratisch verstehen.

      – gewaltbereite Salafisten: Die gewaltbereite Strömung sieht weder im puristischen Missionieren noch in politischen Aktionen ein legitimes Mittel, um ihre fundamentalistische Weltanschauung zu verbreiten. Vielmehr wird Gewalt sowohl als Mittel zum Zweck als auch als Ziel an sich gesehen. Als Mittel deshalb, um langfristig einen „Islamischen Staat“ zu schaffen. Als Ziel deshalb, weil allein der Kampf gegen „Ungläubige“ einen Gottesdienst darstelle. Seit Kain und Abel sei die Weltgeschichte durch diesen Kampf geprägt, daher müsse man den Unglauben bekämpfen – unabhängig vom Ergebnis. Unter „Ungläubig“ werden jedoch nicht nur Nicht-Muslime wie Juden oder Christen subsumiert, sondern auch der Großteil der Muslime, die nicht der Ideologie der gewaltbereiten Salafisten Folge leisten.8

      Während diese dritte Kategorie die anderen Strömungen zwar immer eher als Ausnahmeerscheinung begleitete, hat sich das durch die sogenannte militante Gruppe „Islamischer Staat“ in Syrien und Irak dramatisch geändert. Ihr brutales Vorgehen gegen Menschen und historischkulturelle Stätten wird dabei mit der religiösen Argumentation untermauert, sie seien gottlos. In einem rasanten Tempo hat diese Bewegung weltweit Anhänger gefunden. Schockierend ist insbesondere die Tatsache, dass in westlichen Gesellschaften sozialisierte junge Menschen aus ihren Heimatländern ausgereist sind, um sich dieser Terrorgruppe anzuschließen. Mittlerweile sind auch mehrere kampferprobte Anhänger wieder in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt und stellen eine akute Terrorgefahr dar; so sind sie eine große Herausforderung für pädagogische und religiöse Institutionen.

      Theologische Herausforderungen und interreligiöse Akzentsetzung

      Zwar stellen die Salafisten mit etwa 10.000 Anhängern eine absolute Minderheit innerhalb der mittlerweile 5 Millionen Muslime in Deutschland dar, doch nehmen sie im Islamdiskurs eine gewichtige Rolle ein. Sie tragen wesentlich dazu bei, dass der Islam mit Gewalt assoziiert wird. Während die Mainstream-Muslime seit Jahren versuchen, gerade nicht diesem Image zu entsprechen, versuchen vor allem gewaltbereite Salafisten, genau diese Assoziation zu zementieren. Die Mainstream-Gemeinden wie die muslimischen Dachverbände, die als Ansprechpartner für die Politik fungieren, versuchen zudem dem Salafismus entgegenzuwirken. Sie verfügen aber weder über das pädagogische noch das deutschsprachige theologische Personal, um in dieser Sache effektiv zu handeln. Daher nehmen sie in Präventionsprogrammen als Kooperationspartner und „Wegweiser“ eine begleitende und beratende Rolle ein. Es sind die Pädagog/innen, die versuchen auf sozialräumlicher Ebene Jugendliche von extremistischen Milieus fernzuhalten. Ebenso werden Aussteigerprogramme angeboten, um eine Wiedereingliederung der Jugendlichen in unsere Gesellschaft zu gewährleisten. Weitere Akteure im Feld sind die Akademiker, überwiegend aus den Sozialwissenschaften, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen. Mit Analysen und Ursachenforschung wird versucht, diese Bewegung zu verstehen und Handlungsempfehlungen zu formulieren. Allerdings ist anzumerken, dass trotzdem kaum empirische Untersuchungen zum Salafismus im deutschen Kontext existieren. Die wenigen Studien wie die Analyse der Chatprotokolle des Forschungsnetzwerkes Radikalisierung und Prävention (FNRP) versprechen