Die Leben des Paul Zech. Alfred Hübner

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Название Die Leben des Paul Zech
Автор произведения Alfred Hübner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783945424926



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steht er 1901 in Barmen „bei Molinäus sechs Wochen vor den Kesselfeuern“.91 Mehrere Texte enthalten jedoch Hinweise auf einen anderen Arbeitgeber. Im Gedicht „Heimat“ heißt es: „Als ich in Farbfabriken schuf, in Kohleschächten, / war ich ein Fremder, eine aufnotierte Zahl“.92 Rudolf Hartig vertraut er später an: „Ursprünglich Schreiber, dann Arbeiter in Gruben, Hafenstädten und Farbfabriken.“93 Der Theologe Gustav Würtenberg erfährt von ihm: „Ich […] stand am Rührwerk in den Giftbuden der Farbenfabriken“.94 Zechs Beschreibung des Elberfelder Originals August Kallenbach enthält den Satz: „Die Mutter war in den Sielen geblieben; als Packerin in der Chemischen Fabrik.“95 Der knapp zwanzigjährige Rückkehrer arbeitet bei „Friedrich Bayers Farbenfabriken“ als Packer und Lagerist. Diese Berufsangabe findet sich 1904 in seiner Heiratsurkunde. Das Chemie-Unternehmen ist 1863 in Barmen gegründet und drei Jahre später nach Elberfeld verlegt worden. Im Wuppertal herrscht dank „Bayer“ um die Jahrhundertwende Vollbeschäftigung.

      Der vormalige Bergwerksgehilfe und Kesselheizer übt nun eine Tätigkeit aus, die weniger an seinen Kräften zehrt als die Plackerei unter Tage oder an den Feueröfen, doch auch bei Bayer gibt es gesundheitsschädliche Arbeitsplätze. Ungeschönte Bilder von solchen Zuständen zeichnet Zech später mit Worten im Gedicht „Männer in der Farbenfabrik“: „Es dampft der Chlor, es spritzt die Säure aus den Kannen. / Sie hocken mit dem Rührwerk auf den engen Dämmen / und sind von dem Gebrodel in den Kupferpfannen / schon so benommen, wie die Fliegen an den Wänden.“ Was Zech beschreibt, kennt er aus unmittelbarer Anschauung: „Von ihren Schädeln hängen die verfilzten Strähnen / so grün herab, wie Zweige von den Trauerweiden. / Sie haben kaum noch eine helle Stelle an den Zähnen / und lassen sich auch die Geschwüre nicht mehr schneiden, / die auf dem Nacken wuchern“.96 Zech ist klug genug, bei Bayer keine Tätigkeit in der Produktion anzunehmen. Er gibt sich mit einer weniger gut bezahlten Stelle zufrieden, ruiniert deshalb nicht weiter seine Gesundheit und muss die ihm verbleibende kärgliche Freizeit nicht mehr ausschließlich dazu nutzen, neue Kräfte zu sammeln.

      Das Wuppertal bietet dem Neuankömmling vieles, was ihn beeindruckt. In Elberfeld, um die Jahrhundertwende eine Großstadt von knapp 160 000 Einwohnern, ist vor kurzem eine prunkvolle Stadthalle im Stil der Neorenaissance fertiggestellt worden. Staunend steht er auch vor riesigen Stahlträgern, die entlang der Wupper Fluss und Straßen überspannen. Es sind Teile der im Entstehen begriffenen, weltweit einzigartigen Schwebebahn. Schon im Oktober 1900 hat Kaiser Wilhelm II. eine Probefahrt mit diesem Wunderwerk der Technik unternommen und in Elberfeld ein neues Rathaus sowie in Barmen die „Ruhmeshalle“ eingeweiht. Schriftliche Zeugnisse Zechs aus dieser Zeit gibt es nur zu seinem Privatleben. Da ihn schon von Kindheit an Jahrmärkte faszinieren, fährt er in die Nachbarstadt Schwelm, als dort ein „Rummel“ stattfindet. Zwischen Kirmesbuden, Karussells und einem Kasperletheater schließt er Bekanntschaft mit einem Mädchen, das sich auf dem Nachhauseweg von ihm küssen lässt: „Wir waren noch so kinderjung. Ihr Mund schmeckte wie eine Haselnuß. […] Ich fuhr noch ein dutzendmal herüber, um Haselnüsse zu pflücken“, schwärmt er erinnerungsselig noch im Exil von diesem Erlebnis.97

      Einige Zeit später lernt Zech ein Mädchen aus Barmen kennen. Im Feuilleton „Zwei Rosen“ liest sich das so: Ein Schriftsteller mittleren Alters kommt nach Jahren wieder mit einem Freund aus Studienzeiten zusammen. Dieser ist inzwischen Arzt und verheiratet. Seine Ehefrau heißt Else. Als der Autor ihr gegenübersteht, wird beiden klar: sie haben sich vor langer Zeit einmal geliebt und danach nie mehr wieder gesehen.98 In welcher Stadt das geschehen ist und wer das Vorbild für die junge Dame abgibt, geht aus einem Brief von Dr. Aloys Buschmann hervor, der zu Anfang des Jahrhunderts im Wuppertal lebt. Bei ihm handelt es sich nicht um einen Mediziner, sondern um einen Journalisten. Nachmals berichtet er einem Bekannten: „Paul Zech […] hatte meiner Paula in Barmen sehr nahe gestanden.“99 Zwischen der späteren Gattin Buschmanns und dem bei Bayer tätigen Lageristen entwickelt sich zu Anfang des Jahrhunderts eine intensive Liebesbeziehung. Als Zech 1912 sein Feuilleton „Zwei Rosen“ veröffentlicht, verlegt er den Schauplatz des Geschehens nach Niedersachsen, denn bei „Else“ handelt es sich um Paula Rehse, die Tochter von Karl Friedrich und Berta Rehse, einem Ehepaar, das in Barmen einen Kolonialwarenladen betreibt, und auch Buschmann wohnt zu dieser Zeit noch immer in dieser Stadt.

      Nach 1900 erregen im Wuppertal zwei Skandale die Gemüter der Bevölkerung. Den ersten verursacht Ludwig Fahrenkrog, ein bildender Künstler, der an der Kunstgewerbeschule Barmen Malerei lehrt und als Verkünder einer deutsch-völkischen Bewegung Aufsehen erregt.100 Seine Anschauungen sind vom Lebenskult und von einer Rassenideologie geprägt, die das Christentum ablehnt. In der neuen „Ruhmeshalle“ zeigt er Gemälde und Grafiken, mit denen aller Welt der germanische Götterglaube nahegebracht werden soll. Unter den Bildern erschreckt das eines bartlosen, völkisch-heldenhaften „Jesus von Nazareth“ mit Gesichtszügen des Lichtgottes Baldur die Besucher, was in der Öffentlichkeit heftige Proteststürme auslöst. Da Zech als Kind von Mutter und Großmutter im christlichen Glauben erzogen worden ist, interessiert er sich für religiöse Themen, während er die Kirche als Institution ablehnt. Er besucht die Ausstellung. Was er dort sieht, gefällt ihm, und er hat den Wunsch, den Künstler persönlich kennenzulernen. Das gelingt ihm nach kurzer Zeit, denn dieser schart Jünger um sich. In den folgenden Jahren macht sich Zech einen Großteil von Fahrenkrogs Anschauungen zu eigen.

      Wichtige Elemente des Lebenskultes bilden die Begriffe „Erde“ und „Blut“. Bei der Gestaltung menschlichen Daseins soll gemäß dieser Lehre dem „Gefühl“ Vorrang vor dem „Verstand“ gegeben werden. Autoritäten sind Nietzsche, Bergson und Simmel. Zech vertieft sich in die Werke dieser Philosophen und übernimmt aus ihnen Schlagworte wie „Stein“, „Krankheit“ oder „Tier“ in seine Vorstellungswelt. Der Lebenskult bewahrt ihn allerdings nicht vor Enttäuschungen im Alltag. Als Vater Rehse, der gleichfalls zu den Anhängern Fahrenkrogs gehört und inzwischen zum Fabrikanten avanciert ist, vom Verhältnis seiner Tochter mit einem dahergelaufenen Habenichts erfährt, verbietet er Paula den Umgang mit dem Lageristen. Die frühe Barmer Version der „Legende von Paul und Paula“ nimmt aufgrund des Machtwortes von Vater Rehse ein jähes Ende.

      Der zweite aufsehenerregende Skandal ereignet sich anlässlich der festlichen Übergabe eines Kunstwerks an die Elberfelder Bevölkerung im September 1901. Die Affäre hat folgenden Hintergrund: Auf der Spitze eines vor dem Rathaus neu errichteten Brunnens steht überlebensgroß das steinerne Abbild des römischen Gottes Neptun. Zu seinen Füßen räkeln sich Putten und Tritonen. Der Unternehmer August Freiherr von der Heydt hat die Auftragsarbeit bezahlt. Das Werk soll im Rahmen eines Festaktes enthüllt werden. Zur Vorbereitung der Zeremonie entfernen Bauarbeiter wenige Tage zuvor Planen, die die Statue bis dahin den Blicken der Vorübergehenden entzogen haben.

      Als Neptun und weitere Gestalteten aus Stein ohne das übliche Feigenblatt sichtbar sind, überschlagen sich die Ereignisse. Kirchliche Würdenträger und weltliche Moralapostel geben lautstark ihrer sittlichen Empörung über die Verletzung des guten Geschmacks Ausdruck, Protestversammlungen werden abgehalten, polemische Verlautbarungen gegen Künstler und Mäzen kommen in Umlauf und anonyme Briefe werden verschickt. Ein radikaler Gegner der anstößigen Blößen belässt es nicht bei Worten, sondern geht nachts mit Hammer und Meißel gegen die Nackten auf dem Neumarkt vor. Zwei der Figuren werden „entmannt“. Das empört den Elberfelder Schriftsteller Walter Bloem. Ad hoc verurteilt er in der Presse den Kunstfrevel und Jahre später schreibt er das Stück „Der Jubiläumsbrunnen“, in dem die Kunstbanausen seiner Vaterstadt der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Zech verkehrt diesen Protest schriftlich ins Gegenteil, indem er den Kollegen in die Schar derer einreiht, die das Kunstwerk ablehnen: „Von Walter Bloem, dem geschmeidigen Schriftsteller, wussten die Buchhändler um den Neumarkt herum, dass er den Jubiläumsbrunnen angestunken hatte.“101

      In Belgien hat Zech seine Liebe zur schönen Literatur entdeckt. Jetzt beginnt er, selbst Verse zu schreiben. Einige davon sind erhalten. Der junge Mann preist die Schönheit der Natur und beschreibt sein Liebesleben. Auch dem jungen Mädchen von der Schwelmer Kirmes und Paula aus Barmen widmet er Gedichte. Allerdings fehlt jeweils eine genaue Zuschreibung oder Widmung. Anders verhält es sich mit den Versen für seine neue Liebe. Sie heißt Helene Siemon, ist 16 Jahre alt und die Tochter eines