Die Leben des Paul Zech. Alfred Hübner

Читать онлайн.
Название Die Leben des Paul Zech
Автор произведения Alfred Hübner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783945424926



Скачать книгу

sind aber immerhin deutlich bessergestellt als viele polnische Familien. Eine im Jahr darauf geborene Tochter namens Elisabeth bleibt am Leben, doch zwei weitere Mädchen, von denen die Mutter 1884 und 1885 entbunden wird, sterben kurz nach der Taufe. Tränen und Hunger bestimmen weiter den Alltag im Hinterhaus der Schönsee Straße 14.

      Wegen der beengten Wohnverhältnisse wird Paul des Öfteren Ohrenzeuge des Liebeslebens der Eltern. Er belauscht: „Der Mutter Scham und zärtliches Verschwenden / in Jugendfrische und erwachter Lust, / des Vaters Seufzer aus gespannter Brust / in der Umarmung hellem Aufruhr und Vollenden“. Da Emilie ihre Kinder in der Wohnung zur Welt bringt, ist er auch bei den Niederkünften der Mutter im Nebenzimmer zugegen: „und dann die bangen Abende beim Lampenschimmer / in Zuspruch und verhaltner Wartenot, / bis sich aus dem geborstnen Wundenrot / sanft löste eines Kinderstimmchens klar Gewimmer.“ Diese Eindrücke vergisst er lebenslang nicht: „alles ruht, verhundertfachte Saat, / tief in mir“.30

image

      Emilie Zech mit ihrem Sohn Paul im Jahre 1882

      Von Pauls frühen Jahren ist wenig bekannt. Freude bereitet dem Buben ein blauer Handwagen, auf dem er im Städtchen eine abschüssige Straße hinabsaust.31 Seine Schwester Elisabeth und er durchleben eine armselige Kindheit. Vermutlich können ihre Eltern die Trauerkleidung – sofern sie derartigen Luxus überhaupt besitzen – jahrelang nicht ablegen. 1885 erkrankt Paul schwer. Die Eltern befürchten seinen Tod. Um das Leben des Sohnes zu retten und die materielle Not der Familie zu lindern, wird der noch nicht schulpflichtige Knabe zur Familie der Mutter nach Müncheberg in Pflege gegeben.32 Vater Adolf bringt ihn dort hin.

      Paul versteht die Handlungsweise der Eltern nicht und fühlt sich verstoßen. Ihm fehlt die Mutter: „Sie war in den entscheidenden Jahren leiblich nicht dagewesen. Ich litt schwer darunter“, beklagt er sich.33 Das Kind bleibt mehrere Jahre in Müncheberg und kommt dort zur Schule. Die Stadt liegt, ähnlich wie Briesen, an einem See und besitzt einige Sehenswürdigkeiten, darunter den mittelalterlichen „Küstriner Torturm“, von der Bevölkerung „Storchenturm“ genannt. An seiner Außenseite ist eine martialisch wirkende Holzkeule angebracht und darunter eine Tafel ins Gemäuer eingelassen, deren Inschrift lautet: „Wer seinen Kindern gibt das Brot und leidet selber Not, den soll man schlagen mit dieser Keule tot.“ Paul sieht beides auf Streifzügen durch die Stadt und kann nach der Einschulung auch den Text lesen. Die Worte bleiben ihm lebenslang im Gedächtnis.34 Das trifft auch auf eine andere seiner kindlichen Wahrnehmungen zu: er beobachtet Bäuerinnen bei der Arbeit. Nahe dem Haus, in dem er wohnt, führt eine „Butterstraße“ entlang, die diesen Namen trägt, weil es dort Butter zu kaufen gibt: „wie gebuttert wird, das wußte ich schon, als ich noch nicht wußte, wie man mit einem Griffel ein kleines deutsches ,i‘ auf die Schiefertafel kratzt“, hält er fest.35

      Ein Kindheitserlebnis bestimmt Zechs Leben und Schaffen in besonderem Maß: der Bergbau. Ende des 19. Jahrhunderts gibt es rund um Müncheberg mehr als ein Dutzend Gruben. Im Untertagebau wird aus siebzig Metern Tiefe Braunkohle gefördert. Die Industrie verschafft vielen Einwohnern von Stadt und Umgebung Arbeit, doch hat sie auch ihre Schattenseiten. Es kommt unter sowie über Tage zu Unfällen und Katastrophen.36 Zur Verwandtschaft von Auguste Liebenow gehören zwei Grubenarbeiter. Einer von ihnen wohnt in der Nähe und hat zwei Söhne. Während des Zusammenseins mit diesen Spielkameraden erfährt Paul von den Gefahren der Kohleförderung und lernt die Sorgen der Bergleute kennen. Als Erwachsener behauptet er: „Auch mein Vater war, ehe er das väterliche Bauerngut übernahm, Volksschullehrer in einem ausgesprochenen Grubendorf, wo es nur Bergarbeiter und Kleinbauern gab.“37 Ein solches Gehöft besitzt August Liebenow, der Ehemann seiner Großmutter mütterlicherseits, Auguste, bei dem es sich aber nicht um seinen Großvater handelt.

      Paul Zech und Karl Liebenow besuchen die Knabenschule in der Hinterstraße, obwohl das Gebäude laut Inschrift an der Fassade eigentlich den Mädchen vorbehalten ist. Im Herbst 1886 trifft die Familie des Klassenkameraden ein großes Unglück. Zuerst stirbt der vierjährige Bruder Richard, und am Tag der Geburt einer Schwester namens Martha muss der Vater auf dem Rathaus den Tod seiner Ehefrau anzeigen. Ein Jahr später verliert er auch die Tochter. Pauls Eltern in Briesen geht es nicht anders. Mitte März 1886 beerdigt das Ehepaar Zech einen tot geborenen Knaben, der keine Taufe und keinen Namen erhalten hat. Den Eltern bleibt Tochter Elisabeth und die Hoffnung, Pauls Gesundheit werde sich durch den Aufenthalt in Müncheberg festigen.

      Von den Jahren bei der Großmutter berichtet Zech in seiner Erzählung „Die unterbrochene Brücke“: „Nach einer heftigen Krankheit […] brachte mich mein Vater zu seinem Bruder in die sauerländischen Berge.“38 Ersetzt man die „sauerländischen Berge“ durch „Müncheberg“ und den Hinweis „zu seinem Bruder“ durch „zur Familie der Großmutter“, so entsprechen Personen und Schauplatz der Handlung dem Lebenslauf des Verfassers. Zwar beruht der Text nicht durchgängig auf seinen eigenen Erlebnissen, doch die Darstellung des Umfeldes weist Übereinstimmungen mit dem Stadtbild von Müncheberg auf, wie es Paul ab Mitte der Achtzigerjahre vor Augen hat. Auch der Spielkamerad Karl taucht im Text auf.

      Nicht erwähnt wird Martha Ida Zanner, die ebenfalls in Müncheberg lebt. Ihr Taufpate, Pauls Onkel Wilhelm Liebenow, heiratet 1886 Idas Mutter Hulda, die Freundin von Pauls Mutter aus Briesen. Den Lebensunterhalt verdient der Familienvater nicht mehr als Bedienter, sondern bei der Post im nahen Trebnitz. Dort befindet sich eine Eisenbahn-Verladestation für den Kohlebergbau der Region. Zur Hochzeit von Wilhelm und Hulda kommen Gäste aus Westpreußen, und der knapp sechsjährige Paul sieht für kurze Zeit seine Eltern wieder. Desto schwerer fällt ihm beim Abschied die Trennung von der Mutter. Anders als von Zech später behauptet, besucht er am Wohnort der Großeltern weder eine Rektoratsschule, noch lernt er an einer solchen Einrichtung „die lateinische Verskunst Ovids“ kennen. Um die Jahreswende 1889/1890 holt Adolf Zech seinen Sohn zurück nach Westpreußen.39

image

      Müncheberg mit Waschbanksee

image

      Müncheberg, Schule in der Hinterstraße

      Ab den Neunzigerjahren lebt Paul wieder bei den Eltern. Waldemar Heym, der Sohn des Briesener Ortschronisten Benno Heym, beobachtet, wie er dem Vater auf der Seilerbahn bei seiner Arbeit hilft.40 Während der Abwesenheit ihres Ältesten haben sich die familiären Verhältnisse bei den Zechs nicht gebessert. Mutter Emilie ist mit weiteren vier Kindern niedergekommen, von denen lediglich eines überlebt hat. Ein Knabe, Fritz Hermann41, sowie zwei Mädchen, Olga Anna42 und Anna Hedwig43, sind gestorben. Über Rudolf, das Brüderchen, geboren im März 1889, freut sich der Rückkehrer nicht. Zwar nimmt er sich der „kleinen, um den Puppenwagen besorgten“ Schwester an, die eine „Schlaf- und Lachpuppe“ besitzt, aber zwischen den Buben kommt es häufig zu Streitereien.44 Paul glaubt, Rudolf werde bevorzugt. Das „Trotzköpfchen“, so beobachtet er, wirft sich auf den Boden und strampelt mit den Beinen, um seinen Willen durchzusetzen. Neidisch muss er zusehen, wie die Mutter den Kleinen mit Süßigkeiten verwöhnt, während er selbst keine bekommt. Auch bleibt der Bruder, anders als er selbst, von Bestrafungen mit dem Stock verschont.45

      In der Schule hat Paul Angst, wenn er ein Gedicht aufsagen muss, obwohl er die Verse zu Hause gründlich lernt und die Mutter von seinem flüssigen Vortrag sowie der guten Betonung überrascht ist. Dagegen bringt er im Unterricht vor den Mitschülern kein Wort heraus, worauf der Lehrer zum Stock greift und es Hiebe setzt. Im Elternhaus geschieht das bei kindlichen Vergehen ebenfalls. Wenn der Älteste heimlich Zucker genascht hat, sperrt die Mutter den „ertappten Sünder“ in den Keller.46 Auch sie schlägt ihn zuweilen.47 Emilie Zech selbst hat ein schweres Schicksal. 1891 sterben wenige Tage nach der Geburt ihre Zwillinge Anna Martha und Martha Anna.48 Erst ein Junge