Die Leben des Paul Zech. Alfred Hübner

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Название Die Leben des Paul Zech
Автор произведения Alfred Hübner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783945424926



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verwahrt Helene Erinnerungsstücke aus den Jahren, als sie ihren Paul kennengelernt hat, darunter ein „Poesiealbum“ mit dem Titel “Gedenke mein“, das ausschließlich Eintragungen von der Hand Zechs aufweist. Das Büchlein zeigt, wie schwer sich der angehende Schriftsteller anfänglich mit der deutschen Sprache tut und welche literarischen Vorlieben er besitzt, ungeachtet deren Qualität. Es enthält Liebesschwüre, Gelegenheitsgedichte, Lobpreisungen der Natur, handwerkliche Anfänge des künftigen Autors. Die Texte belegen, wie ein junger Mensch, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, weder einen Schulabschluss noch eine berufliche Ausbildung besitzt, nach Bildung, Bestätigung und Anerkennung trachtet. Enthalten sind in diesem Album Verse, die er selbst verfasst hat und eine Anzahl von Gedichten anderer Autoren. Seine eigenen Gedichte erweisen sich als Versuche, menschliche Gefühle in Poesie zu kleiden und lassen noch nichts vom späteren Können des Verfassers ahnen. Was die Einträge unabhängig von ihrer literarischen Qualität wertvoll macht, sind Datierungen und Ortsangaben, aus denen hervorgeht, wie Zechs Leben nun verläuft.102

      Das „Briesener Kreisblatt“ veröffentlicht im Januar 1901 eine von Bürgermeister Gostomski unterzeichnete Bekanntmachung der örtlichen Polizeibehörde, in der Wehrpflichtige des Jahrganges 1881 aufgefordert werden, sich persönlich oder schriftlich auf dem Rathaus zu melden.103 Der Appell gilt auch für alle Betroffenen, die sich außerhalb der Stadt aufhalten. Emilie Zech leitet diese Bekanntmachung an ihren Sohn weiter, denn Pauls Verbindung zu ihr ist nie völlig abgebrochen. Das zeigt die Wahl des Vornamens, den die Mutter ihrem letzten Kind gibt. Sie nennt das Mädchen nicht zufällig Helene, doch ist es ihr ein weiteres Mal nicht vergönnt, das Neugeborene behalten zu dürfen. Der Säugling stirbt im ersten Halbjahr 1901. Kurz nach der Geburt verschieden sind schon 1899 die Zwillinge Hans und Grete. Überlebt hat die 1897 zur Welt gekommene jüngste Schwester Ida. In Briesen sind die Lebensbedingungen nicht viel besser geworden. Gleiches gilt für die soziale Lage der Familie Zech. Die Seilerbahn auf städtischem Grund hat einem „Luxuspferdemarkt“ weichen müssen. Das Gelände ist den Betreibern von der Kommune kostenlos überlassen worden, um das Wirtschaftsleben anzukurbeln.

      Über eine Musterung Zechs liegt in deutschen Militärarchiven kein Dokument vor. Möglicherweise wird er wegen der nervösen Störungen, unter denen er bisweilen leidet, als „nicht tauglich“ befunden, oder ihm bleibt eine militärische Ausbildung deshalb erspart, weil er auf Befragen Fälle von Geisteskrankheit in seiner Familie einräumt. Da ihm keine Einberufung zugeht, lebt er unbekümmert seiner Liebe und verleiht ihr in Gedichten Ausdruck. Zehn über das Jahr 1901 verteilte Einträge in Helenes Album zeigen, wie sich die Beziehung der beiden entwickelt. Im März zitiert Paul ein Gedicht „Junge Liebe!“: „Es muss ein wundersames Leben / Ums lieben zweier Seelen sein […]“, wobei ihm die Groß- und Kleinschreibung erkennbar Schwierigkeiten bereitet. Im Mai geht es ums Küssen. Allerdings belässt er es in der Überschrift bei drei Gedankenstrichen: „An – – –“, wenn er die Frage aufwirft, mit wem geküsst werden soll. Zum Wonnemonat wird für das Paar der September. Paul schreibt ein dreistrophiges Gedicht, dessen Überschrift für ihn Programm ist: „Dein Herz soll meine Heimat sein!“ Daraufhin gibt die Geliebte seinem Werben nach. Was folgt, hält Paul „Zur Erinnerung an den unvergeßlichen 6. September 1901“ in Versen fest: „Wir gingen beide nach Hause allein […]. Da hast Du mir schluchzend Dein Lieben bekannt.“ Drei Tage später verfasst er nach einem Spaziergang mit Helene auf der Elberfelder „Königshöhe“ ein Gedicht von sieben Strophen, das „Dem Heideblümchen gewidmet“ ist.

      Die Beziehung der beiden wird in den nächsten Monaten noch enger. Mit den Versen „Vergebens“ schildert er seine nächtliche Rückkehr am 9. Februar 1902 von Helenes Wohnung zur eigenen Unterkunft: „Ich wandle wie im Traum nach Haus, / Der Regen peitscht mir ins Gesicht. […] / Der Schlüssel knarrt, es kreischt die Thür / […] Das ganze Haus ist so kalt und stumm, / Am liebsten kehrt ich wieder um!“104 Einen Tag vor Vollendung seines 21. Lebensjahres entwickelt er literarischen Ehrgeiz und verfasst zwei Strophen einer Liebeserklärung, bei denen die Anfangsbuchstaben der jeweiligen Worte am Zeilenbeginn von oben nach unten gelesen die Vornamen der Geliebten ergeben: „Helene“ und „Maria“.

      Anfang März 1902 zieht Zech von Elberfeld nach Barmen um in die Oberdörner Straße 103. Das Anwesen grenzt an eine Straße, die „Schafbrücke“ heißt und zum gleichnamigen Bauwerk über die Wupper führt. Der Fluss fasziniert den jungen Mann. Noch im Exil beschreibt er ihn: „Wenn man von der rheinischwestfälischen Stadt Elberfeld spricht, wird man wohl selten vergessen, die Wupper zu erwähnen.“105 Mit Worten malt er den Anblick aus, der sich bietet, wenn Bleichereien, Färbereien, Kattundruckereien und die Farbenfabriken Bayer ihre Abwässer in den Fluss leiten. Auch kritisiert er die rückständige Art, wie Gülle auf diese Weise entsorgt wird. Das hat er schon in Briesen so gesehen.

      Im April befindet sich Helene mit ihrer Schwester zu Besuch bei Verwandten in Cusel und teilt Paul scherzend mit, nie mehr nach Elberfeld zurückkommen zu wollen. Der Geneckte eilt zur künftigen Schwiegermutter, fragt, wie sich die Sache verhalte und erfährt die Wahrheit. Nachdrücklich fordert er die Liebste auf: „befleißige Dich, bald in unser bergisch Land einzuziehen […]. Die Hauptsache ist, wir sehen uns bald wieder, dann ist für mich auch ein froher Sonnenschein und Frühlingstag.“ Seiner Unterschrift folgen die Verse „Wenn Du die goldnen Sterne / Am Himmelsdome siehst, / Dann denk, dass in der Ferne / Ein liebend Herz Dich grüßt.“106

      Ende August teilt Paul Helene mit: „Konnte leider heute Abend nicht kommen. Hatten zuviel in Bestellung und wurden erst um halb neun fertig. Ehe ich rüber kam, wäre es dann zehn Uhr geworden“.107 Ein Blick in die Firmengeschichte seines Arbeitgebers gibt Aufschluss, weshalb er Überstunden machen muss. Auf der Düsseldorfer Gewerbe- und Industrieausstellung von 1902 zeigen die Farbenfabriken Bayer eine Dokumentation ihrer Wohlfahrtseinrichtungen. Im zugehörigen Katalog heißt es: „Die Firma betreibt die Fabrikation und den Verkauf aller Arten von Theerfarbstoffen, von pharmazeutischen Produkten und chemisch photografischen Artikeln“.108 Unter diesen Produkten befindet sich auch „Heroin“. Bayer hat den Namen und ein „Verfahren zur Synthese von Diacetylmorphin“ patentrechtlich schützen lassen. Es sei als Mittel gegen Schmerzen ein „nicht süchtig machendes Medikament“, das bei Husten, Bluthochdruck, Lungen- und Herzerkrankungen helfe sowie bei der Geburts- und Narkoseeinleitung gute Dienste leiste. Das Produkt wird mit hohem finanziellen Aufwand beworben, weshalb sich das Elberfelder Werk vor Bestellungen kaum retten kann und die Mitarbeiter des Zentrallagers, unter ihnen Zech, bis in die Nachtstunden arbeiten müssen.

      Pauls Einträge in Helenes Poesiealbum erwecken auf den ersten Blick den Eindruck einer zwei Jahre lang harmonisch wachsenden Beziehung. Der ist falsch, wie einige Verse verraten. Es mangelt in der Verbindung nicht an Krisen. Die Siebzehnjährige hat Grund, an der Liebe ihres Partners zu zweifeln, denn ihr ist hinterbracht worden, er habe sich mit anderen Mädchen in der Öffentlichkeit gezeigt. Sie lässt ihn wissen: „Ich traue Dir nicht mehr!“, was der Beschuldigte zum Thema eines Gedichtes macht. In seiner Rechtfertigung fordert er Helene auf: „Glaube nicht den fremden Leuten“ und „Siehst Du mich mit andern gehen […] Sieh mein Aug, ich liebe Dich!“ Mittels gereimter Liebesschwüre gelingt es ihm, Helene zu versöhnen. Erleichtert seufzt er: „Nun hab ich Ruhe wieder […] / Die Zweifel sind vorüber / ich wüßt auch nicht, woran es lag“.109 Der Konflikt scheint überwunden, doch ungeachtet aller Liebesbekundungen ist es mit Pauls Zuneigung nicht sonderlich gut bestellt. In einer Ankündigung, die Freundin am Sonntag zum Spaziergang abzuholen, schreibt er barsch: „[…] hoffe dass Du dann fertig bist“. Er will sie einem Bekannten vorstellen: „Jedenfalls machst Du mir keinen Strich durch die Rechnung!“ Das Paar hat offenbar nur wenige gemeinsame Themen, über die es sich austauschen kann: „Sonst wüßte ich nichts wissenswertes an Dich zu schreiben, da meine Briefe Dir in der Regel nicht besonders willkommen sind.“110

      Bei einigen Gedichten ist im Album vermerkt, von wem sie stammen: Goethe, Heine, Chamisso und weitere Dichter von Rang. Daneben tauchen längst vergessene Autoren auf, beispielsweise Emil Rittershaus, der zu Zechs frühen Vorbildern zählt. Jahre später urteilt er über ihn: „die Wuppertaler Dichter von Rittershaus bis Werner Jansen haben