Die Leben des Paul Zech. Alfred Hübner

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Название Die Leben des Paul Zech
Автор произведения Alfred Hübner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783945424926



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im sogenannten „Culmer Land“ zwischen Graudenz und Thorn an drei Seen liegt, hat Johannes Bobrowski zum Schauplatz seines Romans „Levins Mühle“ gemacht, der Personen, Zeit und Milieu der Gegend am Flüsschen Drewenz vor 1900 widerspiegelt. Im Roman, dessen Untertitel „34 Sätze über meinen Großvater“ lautet, heißt es: „Alle Wege führen nach Briesen“.20 Ahnen, die aus diesem Culmer Land stammen, besitzt Zech tatsächlich, doch die Herkunft der Vorfahren väterlicherseits aus Westpreußen will er zeitlebens meist verschleiern.

      Zechs Vater Adolf kommt am 5. September 1850 in Briesen zur Welt. Er stammt aus der ersten Ehe von Wilhelm Zech mit Elisabeth Spinch, die 1861 verstorben ist. Nur wenige Monate nach ihrem Tod hat der Witwer damals Emilie Tiedke zur zweiten Frau genommen. In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts lernt Adolf im väterlichen Betrieb das Seilerhandwerk und begibt sich anschließend auf Wanderschaft nach Westen. In Küstrin findet er Arbeit und verliebt sich Mitte des Jahrzehnts in Emilie Leberecht aus Müncheberg. Ein modernes Verkehrsmittel erleichtert ihm die Besuche bei ihr. Das dreieinhalbtausend Einwohner zählende Städtchen Müncheberg, rund vierzig Kilometer von Küstrin entfernt, besitzt einen eigenen Bahnhof an der Linie der Preußischen Staatsbahnen, die von Berlin nach Küstrin führt. Am 28. September 1878 gehen die jungen Leute in Emilies Geburtsstadt den Bund fürs Leben ein.

      Kaum ist im Herbst 1878 in Müncheberg die Hochzeitsfeier beendet, kehrt der achtundzwanzigjährige Seiler zusammen mit seiner Frau nach Westpreußen zurück. Für Emilie bedeutet der Ortswechsel nicht nur die Trennung von der Mutter, sondern zugleich eine Verschlechterung ihrer bisherigen Lebensverhältnisse auf dem Hof der Liebenows. In Bobrowskis Roman entrüstet sich der Großvater: „Was redet der Kerl da von Provinz. Briesen – und Provinz!“, doch legt der Autor diese Worte ihrem Sprecher augenzwinkernd in den Mund. Die Gegend in der Weichselniederung zwischen Thorn und Graudenz ist für ihn der Inbegriff von Provinz.21

      Im westpreußischen Landkreis Briesen, dem die gleichnamige Stadt sowie Gollub, Schönsee und 63 weitere Gemeinden angehören, leben um 1880 knapp 40 000 Menschen, davon sind rund 24 000 katholischen Glaubens, etwas weniger als 15 000 Protestanten und rund 1000 Juden. Zech erwähnt in seinem Buch „Die Reise um den Kummerberg“ zwei Gotteshäuser seines Geburtsorts, die evangelische Kirche am Markt und eine auf dem Berg gelegene katholische Kirche.22 Die jüdische Gemeinde verfügt an der Schulstraße über eine Synagoge. Angeblich verkehren der Vater und die Mutter mit jüdischen Familien: „Da ich diese Art von Menschen in meiner frühen Jugend schon erfahren habe, nachbarlich nahe und den Eltern befreundet, […] komme ich mir vor wie einer der Ihrigen.“23

      Gespalten ist die Bevölkerung des Landkreises, wie die Westpreußens insgesamt, nicht nur durch drei Konfessionen, sondern zusätzlich durch zwei Nationalitäten: „Man spricht polnisch und ein Deutsch mit hässlichem Dialekt.“24 Nur wenige Hundert Bürger beherrschen beide Idiome. Etwa 23 000 Menschen sprechen polnisch, ungefähr 17 000 deutsch. Insbesondere bei Wahlen befehden sich „der schwarze und der weiße Adler“ Preußens und Polens.25 Die Stadt Briesen zählt 1880 rund 4500 Einwohner. Nach Aussage von Waldemar Heym, dem Sohn des Ortschronisten Benno Heym, liegt die Kommune bis Ende des 19. Jahrhunderts in einem Dämmerschlaf. Daran ändert sich erst etwas, als sie 1887 zur Kreisstadt erhoben wird.26

      Zur Zeit des Umzugs von Adolf und Emilie nach Briesen sind die örtlichen hygienischen Verhältnisse teilweise mittelalterlich. Es gibt keine Kanalisation. Nach großen Regenfällen herrscht Wassernot, denn die Niederschläge fließen auf den Straßen und Gassen mit Fäkalien aus den Häusern und Stallungen zusammen und ergießen sich in die drei Seen nahe der Stadt, aus denen die Bevölkerung Trinkwasser schöpft. Krankheiten und eine hohe Kindersterblichkeit sind die Folgen. Das Übel dauert bis zur Jahrhundertwende. Fortschritte gibt es nur allmählich. In den Neunzigerjahren erhält Briesen Anschluss an die Linie der Preußischen Staatsbahnen von Thorn nach Allenstein. Später geht eine innerstädtische Straßenbahnlinie in Betrieb. Im Industriegebiet stehen eine dampfbetriebene Mühle, eine Brauerei, eine Molkerei und eine Zuckerfabrik. Dreizehn Windmühlen ringsum verschwinden zu dieser Zeit ebenso wie der seit dem Mittelalter amtierende Nachtwächter.

      Da am Briesener Markt ausschließlich Privathäuser und die evangelische Pfarrkirche Platz gefunden haben, wird ab den Achtzigerjahren die Schönseer Straße zur Behördenmeile der Stadt. An ihr entlang lässt die Obrigkeit Gebäude errichten, in die Ämter und öffentliche Einrichtungen einziehen. Seit Beginn des Jahrzehnts steht hier das Amtsgericht, 1883 ist unweit davon eine Volksschule eröffnet worden. Nacheinander folgen nun Landratsamt, Rathaus und Krankenhaus. Die einstige Nebenstraße entwickelt sich zu einer Art Boulevard, der freilich an Regentagen vom Zentrum, dem Markt und beiden Kirchen durch einen wilden Wasserlauf getrennt ist, aus dem üble Gerüche aufsteigen.

      Adolf Zech bringt 1878 seine junge Frau weder in eine einladende noch saubere, geschweige denn „blühende“ Stadt. Insbesondere das Gesundheitswesen weist erhebliche Mängel auf. Die Eheleute finden im rückwärtigen Teil des Hauses Schönseer Straße 14 eine Wohnung. Das Gebäude liegt zwischen Volksschule und Friedhof und gehört Schreinermeister Christian Günther. Der stattlich wirkende Hauptbau besitzt einen unansehnlichen Seitenflügel. In dessen Erdgeschoss bekommt Emilie Zech Mitte Februar 1879 ihr erstes Kind, das den Namen Adolf Richard und zwei Monate später in der Stadtkirche am Markt die christliche Taufe erhält, aber schon fünf Wochen danach stirbt.

      Ein ähnliches Schicksal ereilt auch den im Februar 1880 geborenen Knaben Erhard Robert. Er fällt im Mai einer Säuglingskrankheit zum Opfer. Schon im Juni 1880 ist Emilie erneut schwanger. Das dritte Kind der Familie, wieder ein Junge, kommt am Samstag, dem 19. Februar 1881, zur Welt und wird einen Monat später von Pfarrer August Weckwarth auf die Vornamen Paul Robert getauft. Patinnen sind Caroline Günther, eine Verwandte des Hausbesitzers, sowie Minna Werner und Auguste Tarnig aus Briesen. Die amtliche Geburtsurkunde unterzeichnet der seit 1873 im Rathaus amtierende Bürgermeister Gostomski in seiner Funktion als örtlicher Standesbeamter.27 Erneut dauert das familiäre Glück nur kurze Zeit, denn im Verlauf der folgenden Jahre bringt der Tod weiterer Kinder ununterbrochen Leid über die Eltern. Hinzu kommt schwere materielle Not. Das Seilerhandwerk wirft kein Geld mehr ab, weil die bisher manuell hergestellten Waren nun in Fabriken produziert werden und deshalb billiger sind. Viele von Adolf Zechs Berufsgenossen müssen schon als Hausierer über Land ziehen, um Städtern und Bauern ihre Waren anzubieten.

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      Evangelische Kirche am Marktplatz

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      Zechs Geburtshaus, Schönseer Straße 14 in Briesen, heute Wąbrzeźno

      Trauer und Armut bestimmen das Leben der Familie Zech. Dennoch beschäftigt sich Emilie nicht ausschließlich mit den eigenen Sorgen. Während ihrer Schwangerschaft hat sie eine neunzehnjährige Frau kennengelernt, die ebenfalls ein Kind erwartet. Sie heißt Hulda Zanner. Deren Ehemann Friedrich, von Beruf Schneider, ist unheilbar an Tuberkulose erkrankt und stirbt, nur 28 Jahre alt, im März 1881. Vier Monate später bringt die Witwe ein Mädchen zur Welt, das Pfarrer Weckwarth auf die Vornamen Martha Ida tauft.28 Eingedenk ihres Schicksals als Kind, von dem in amtlichen Dokumenten verzeichnet steht, eine ledige Mutter habe es zur Welt gebracht, versucht Emilie, Hulda zu helfen. Sie schreibt an ihre Familie nach Müncheberg und bittet den jüngsten der drei Stiefbrüder, sich als Taufpate für das Neugeborene zur Verfügung zu stellen. Wilhelm Liebenow, von Beruf „Bedienter“, kommt dieser Bitte nach und eine stille Hoffnung seiner Schwester erfüllt sich. Der Zwanzigjährige findet Gefallen an Hulda und holt sie kurze Zeit später mit seinem Patenkind Martha Ida zu sich nach Müncheberg.

      Weniger Glück ist den Zechs in Briesen beschieden. 1882 kommt ein weiteres Kind zur Welt, ein Mädchen, das bei einer Nottaufe den Namen Margareta erhält und zwei Tage darauf stirbt. Aus diesem Trauerjahr stammt eine erste Aufnahme von Paul Zech. Emilie fährt mit ihrem Sohn ins nah gelegene Städtchen Gollub und lässt sich dort zusammen mit ihm von einem polnischen Fotografen namens Daniel Dobrycz ablichten.29 Da Paul die kritischen Monate als Säugling