Die Leben des Paul Zech. Alfred Hübner

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Название Die Leben des Paul Zech
Автор произведения Alfred Hübner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783945424926



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und versucht, sich allgemein weiterzubilden. Das geschieht hauptsächlich nachts, denn am Tage muss er Geld verdienen. Weil er so viele Bücher von seinem kargen Lohn nicht kaufen kann, leiht er sie in Bibliotheken und von Bekannten aus. Zuweilen vergisst er mehr oder minder absichtlich die Rückgabe.

      Mit den datierten Einträgen führt Helenes Poesie-Album eine Jahrzehnte später verbreitete Legende ad absurdum, Zech habe sich 1902 im belgischen Braine-le-Comte aufgehalten, um dort mit einer Dissertation über das Thema „Wege und Umwege der deutschen Schriftsprache“ zu promovieren.113

      Ein Studium besonderer Art absolviert Zech bei Ludwig Fahrenkrog, den er als seinen Lehrer betrachtet. Der Künstler „gehört zu einer der ersten Generationen derjenigen Intellektuellen, in deren Denken sich die ideengeschichtlichen Grundlagen des Nationalsozialismus […] vorbereiten und ausformen“.114 Er will seine Mitmenschen von der Bürde eines Christentums erlösen, das auf dem Judentum gründet, und ihnen durch völkisches Gedankengut zu einer neuen religiösen Freiheit verhelfen. Im Bereich der Bildenden Kunst lehnt er sowohl die Malerei des Kaiserreichs als auch die der Moderne ab. Sein Ziel ist die Wiederbelebung des Germanentums. Vorrangig beschäftigt er sich mit der Gestalt des von Gott abgefallenen Engels Luzifer. Wie ein Menetekel muten Fahrenkrogs Verse an: „Ich mag euere dunkle Kirche nicht! […] Ich liebe das Leben, die Freude, das Licht / Und das Blut, wenn es sprudelt und rot ist.“ Diesem Gedicht gibt er den Titel „Jedem das Seine“, eine demagogische Inanspruchnahme der klassischen Rechtsformel „suum cuique“, die später auch als Inschrift des Eingangstores am Lager Buchenwald missbraucht wird.115 Derartige Anschauungen teilt der Schüler zumindest teilweise. In seinem Gedicht „Mondnacht im Tal“ feiert Frau Holle als germanische Mythenfigur „Frau Holde“ fröhliche Urständ‘: „Der Fluss rauscht fern und dunkel / Frau Holde tanzt wunderbar. / Die Winde stehn still vor Staunen / Und duften wie Frauenhaar.“116

      An Wochenenden nutzt Zech jede Minute seiner freien Zeit, um alleine oder in Helenes Begleitung die Umgebung von Elberfeld und Barmen zu erwandern. Bevorzugte Ziele sind das Müngstener Tal und die dortige Kaiser-Wilhelm-Brücke. Ihr widmet Paul ein Gedicht: „Herbstabend“.117 Es beginnt: „Die Wupper unterm Riesenbrückenbogen / Glänzt wie ein violettes Sammetband / und kommt im müden Zickzack-Kurs gezogen.“ Viele Spaziergänger, die in der Nähe des Bauwerks Erholung suchen, genießen nicht nur die Schönheit der Natur, sondern bewundern zugleich den Fortschritt der Technik. Über den 170 Meter hohen stählernen Koloss, bis ins 21. Jahrhundert hinein Deutschlands höchste Eisenbahnbrücke, schreibt anlässlich des hundertjährigen Bestehens Andreas Rossmann in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Zech bewegt sich literarisch nicht annähernd auf dem Niveau, welches die Müngstener Brücke […] ingenieurtechnisch darstellt.“118 Das Bauwerk steht in der Nähe von Wermelskirchen. Dort lebt der Lehrer Wilhelm Idel, ein Mittfünfziger, der seit einem Vierteljahrhundert in dieser Stadt unterrichtet. Seine Freizeit widmet er der Heimatforschung und der Literatur. Zech lernt ihn kennen und vertraut ihm Einzelheiten aus seiner Kindheit bei der Großmutter in Müncheberg an.119

      Ein beliebtes Ausflugsziel für Paul und Helene ist auch der „Clemenshammer“, eine Ansiedlung mit wenigen Häusern im Morsbachtal nördlich von Remscheid. Hier sind nach der Jahrhundertwende noch Hammerschmieden in Betrieb. Zech beschreibt die Idylle mehrfach, unter anderem in der Titelgeschichte des Novellenbandes „Das törichte Herz“.120 Darin entwirft er ein wirklichkeitsgetreues Abbild der Ortschaft an der heutigen Stadtgrenze von Wuppertal, ohne ihren Namen zu nennen.

      Anders verfährt er im Feuilleton „Die Türkischrot-Färberei“ von 1931. Auch darin beschreibt er den „Clemenshammer“, nennt ihn aber „Cleverhammer“, obwohl er seinen richtigen Namen kennt. Erlebtes schmückt er mit Erdachtem aus.121 So will er an diesem Ort als Kind fünf Sommer hintereinander seine Ferien verbracht haben. Aus den Hammerschmieden macht er Färbereien und bei einem der dortigen Handwerker lässt er Franz Marc einen zweiwöchigen Malaufenthalt verbringen. Marc zeigt zwar 1911 beim Barmer Kunstverein in der Ruhmeshalle seine Arbeiten, kommt aber nie zum Clemenshammer.

      Aus dem Jahr 1903 gibt es keine Zeugnisse, die Zechs Leben betreffen. Lediglich zur Geschichte seiner Familie ist ein Datum überliefert: Am 24. September stirbt in Müncheberg Pauls Großmutter Auguste Liebenow. Einträge in der Todesurkunde belegen, wie wenig die Nachkommen über ihr Leben wissen. Wilhelm, der jüngste Sohn, nennt gegenüber dem Standesbeamten ein falsches Alter der Verstorbenen sowie einen falschen Geburtsort. Sie hat die eigenen Kinder über ihre Herkunft aus dem Spreewald und den leiblichen Vater der Emilie Leberecht stets im Unklaren gelassen. Enkel Paul nimmt an der Beerdigung nicht teil.

      Im Frühjahr 1904 bemerkt Helene Siemon, dass sie schwanger ist. Wie lange sie das für sich behält, und was die Mutter sowie ihr Freund dazu sagen, steht weder im Poesiealbum der Achtzehnjährigen noch in irgendwelchen Briefen. Es herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Erst Mitte des Jahres entschließt sich das Paar, Hochzeit zu halten, auch wenn einige Anzeichen gegen eine solche Verbindung sprechen. Paul heiratet wahrscheinlich nur deshalb, um seinem „Lenchen“ und ihrer Familie die „Schande“ eines unehelichen Kindes zu ersparen. Am 29. Juli wird das Paar im Rathaus von Elberfeld standesamtlich getraut. Laut Heiratsurkunde ist der Bräutigam „evangelisch“, seine Braut „reformiert“. Unterlagen über eine kirchliche Feier sind keine mehr vorhanden, da die Kirchenbücher im Zweiten Weltkrieg während eines Bombenangriffs auf Wuppertal verbrennen. Pauls Eltern können an der Feier nicht teilnehmen. Ihnen fehlt das Geld für eine Bahnreise nach Elberfeld. Adolf Zech ist in Briesen als Seiler längst ohne Arbeit.

      Dorothea Siemon nimmt den Schwiegersohn in ihre Wohnung mit auf, wo außer Helene noch deren fünfzehnjährige Schwester Julia lebt. Damit will sie der schwangeren Tochter helfen, denn mit seinem spärlichen Einkommen als Lagerist kann Paul weder die Miete für eine geeignete Unterkunft bezahlen noch eine Familie ernähren. Dessen ungeachtet versucht er, den ungeliebten „Broterwerb“ loszuwerden und aus dem Schreiben einen Beruf zu machen. Der angehende Vater verarbeitet die Situation im Gedicht „Blick in ein Kindesauge“. Mit diesen Versen gelingt es ihm drei Wochen nach seiner Hochzeit erstmals, als Autor im „Täglichen Anzeiger für Berg und Mark“ zu stehen.122

      Der Chefredakteur des Blattes, Ludwig Salomon, hat selbst literarische Neigungen. Er gehört zu den Honoratioren der Stadt und leitet den „Bezirksverein Niederrhein und Westfalen“ des Deutschen Schriftsteller-Verbandes. Zech erscheint die neue Verbindung von Vorteil, doch für seine Entwicklung als Schriftsteller erweist sie sich als problematisch, weil Salomon moderne Literatur wenig schätzt und lieber Gedichte des in Elberfeld ansässigen Kaufmanns Friedrich Wiegershaus druckt. Dieser deutschvölkische Politiker erlangt nach dem Ersten Weltkrieg traurige Berühmtheit als wüster Antisemit und Herausgeber des zeitweilig von Goebbels redigierten Naziblattes „Völkische Freiheit“.123

      Am 2. Oktober 1904 bringt Helene einen Jungen zur Welt, der nach Pauls jüngerem Bruder Rudolf genannt wird. In seiner Freizeit verfasst der Familienvater weiterhin Gedichte, die nun nicht mehr ausschließlich für Helene, sondern für die Öffentlichkeit bestimmt sind. Zielstrebig bemüht er sich, seine Bildung zu verbessern. Nachts liest er alles, was ihm an Büchern zur Verfügung steht. Aus eigenem Antrieb beginnt er fernab jeder Universität ein Literaturstudium, bei dem er anfänglich wahllos historische und zeitgenössische Werke, Wertvolles und Triviales verschlingt. Als Autodidakt sitzt er viel länger über Büchern als viele Altersgenossen, die an Universitäten immatrikuliert sind und ihr Studium mit Staatsexamen oder Promotion abschließen. Das Nebeneinander von Beruf, Fortbildung und Familie erweist sich für ihn als ähnlich anstrengend wie die Arbeit im Schacht.

      Zech bietet seine Verse in den Zeitungsredaktionen von Elberfeld und Barmen persönlich an. Ende Oktober hat Salomon erneut ein Einsehen und druckt im „Täglichen Anzeiger“ ein weiteres Gedicht von ihm ab. Passend zur Jahreszeit zwölf Zeilen „Herbststimmung“, in denen „der Nebel schleicht“ und sich „das Bächlein durch die welken Blätter drängt“. Aufhorchen lässt der Schluss: „So mancher Traum, so manches Hoffen /

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