Die Leben des Paul Zech. Alfred Hübner

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Название Die Leben des Paul Zech
Автор произведения Alfred Hübner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783945424926



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sich auch der Schacht, in den er einfährt.

      Zu Anfang der Novelle findet sich eine Zeitangabe: „Sieben Monate diese Straße, diese Stadt –: abzuschildern Grund genug“. Beschrieben wird die düster-rußige Montanregion von Mont-sur-Marchienne mit ihren Gruben, Fördertürmen, Hochöfen, Kupferschmelzen und Eisenwalzwerken. Dabei geht Zech auch auf die menschenverachtenden Arbeitsbedingungen ein, unter denen der Kohletransport sowie die Produktion von Stahl und Kupferblech erfolgen. Die fragwürdigen Vergnügungen, denen sich die Arbeiter nach Feierabend hingeben, finden ebenfalls Erwähnung. Dem Text liegt eine gründliche Ortskenntnis von Charleroi zugrunde. Der Verlauf einer Bahnlinie, die unweit von Zechs Behausung in der Industriezone eine lange Kurve macht, wird exakt beschrieben und die Kreuzung der Rue St. Jacques, an der er sich täglich aufhält, skizziert er mit den Worten: „Eine Zentrale […] mit Gassenausläufern nach vier Seiten“. Das Straßenbild bleibt unverändert bis ins 21. Jahrhundert erhalten, drei Verkehrsampeln ausgenommen.

      Den Arbeitsalltag unter Tage schildert Zech auch in der Erzählung „Das Bergwerk“, deren Untertitel lautet: „Erlebnisse eines armen Grubenarbeiters namens Falkenberge“.75 Darin werde „die düstere Welt eines Bergwerks aufgezeigt. Und zwar in einer Grube, wie sie vor zwanzig Jahren in Belgien so und nicht anders aussah“.76 Auch in diesem Text erfährt der Leser von den unwürdigen und unhygienischen Zuständen in einer Unterkunft für Arbeiter. Mit Worten werden die vielfältigen akustischen Eindrücke im Schacht dargestellt: das Dröhnen der Koksbrecher, das Sausen der Förderkörbe, das Poltern der Kippwagen und die nicht zu überhörende Stille. Zech zeigt sich vertraut mit Fachausdrücken der Kohleförderung wie „Seilschläger“, „Schießmeister“, „Förderschale“ und „Sprengherd“. Viele seiner Gedichte enthalten Begriffe, die auf Erlebnisse in Charleroi zurückgehen. „Förderschächte und Schlot an Schlot“ heißt es in „Der Stahlgott Vulkan“. Zwei weitere Produktionsstätten der Stadt werden in „Kanalfahrt“ benannt: Walzwerke und Zinnschmelzen.77

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      Das Industriegebiet von Charleroi

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      Rue St. Jaques in Mont-sur-Marchienne bei Charleroi

      Trotz täglicher Schwerarbeit unter Tage bringt Zech den Willen zur Lektüre von Büchern auf. Eine Glückwunschadresse an Thomas Mann aus dem Jahr 1945 enthält den Satz: „Als Sie Ihren dreißigsten Geburtstag begingen […] las ich, unter der flackernden Gasflamme eines Proletarierquartiers im Borinage, den Band ‚Tristan‘.“78 Um 1900 liest Zech weder den „Tristan“ noch ein anderes Werk von Thomas Mann, aber das Bild von der nächtlichen Lektüre bei Gasbeleuchtung spiegelt die Wirklichkeit seiner Erlebnisse in Belgien.

      Stefan Zweig nennt er eine weitere Stadt, in der er unter Tage gewesen sein will: „Ich glaube, dass ich Ihnen schon einmal schrieb, wie ich in Charleroi und in Mons in den Bergwerken gearbeitet habe.“79 Auf die Frage nach der Dauer gibt er voneinander abweichende Hinweise. Der Wahrheit am nächsten kommt eine Bemerkung Zechs aus dem Exil: „Ein Jahr. Bloß [= Nur] herumgekrochen. Aber das hat ausgereicht …“80 Legt man der Berechnung seiner Tätigkeit als Bergarbeiter dieses eine Jahr zugrunde und bezieht die von ihm selbst genannten „sieben Monate“ der Arbeit in Mont-sur-Marchienne ein, verbleiben fünf Monate, die er anderwärts unter Tage gearbeitet hat.

      Ab 1898 durchstreift Zech das Borinage, ein Industriegebiet rund um Mons, und kommt auch nach Frankreich, nach Charleville. Es wird ihm „dorniges Idyll eines Sommermonats“. Der Bericht darüber zeugt gleichfalls von guter Ortskenntnis: „Öfen sind da. Mit breiten Feuerbäuchen. Auf der Seite nach Mézieres zu lungern die Kostgeber. Sie borgen drei Wochen Matratze und dünnen Rotwein.“ Mehrfach schildert der Verfasser die ortsansässige Schwerindustrie: ein Eisenwerk, das seine Erzeugnisse bis nach Afrika liefert, und ein Walzwerk. Er erwähnt eine Ziegelei und das in der Umgebung gelegene Kloster Signy. Ferner beschreibt er den städtischen Alltag, den Betrieb in den Kneipen, in der Singspielhalle sowie in den Kaufhäusern. Auch etliche Aufenthalte im Bordell findet er der Erwähnung wert.81

      Eines der Gedichte, die Zech rückblickend auf Charleville verfasst, trägt den Titel „Unter den Hochöfen“.82 Er arbeitet nochmals als Kesselheizer, jedoch nicht „um 1909“, wie es in diesem Text heißt, sondern vor der Jahrhundertwende. Noch im Exil macht er die Arbeit in Belgien und Frankreich zum Thema einer Kurzgeschichte. Sie handelt von einem jungen Mann, der vor den Hochöfen glühende Schlacke in Loren verladen muss, „die Kehle voller Ärger über so eine gottverfluchte Sklaverei“. Er heißt Tamm Boom. Der Name ähnelt nicht zufällig „Timm Borah“, einem der vielen Pseudonyme Zechs. Boom, ein Hilfsarbeiter, erinnert sich einer freudlosen Jugend auf dem Land, der Arbeit auf den Feldern, kindlicher Sünden wie dem Rauchen von Kartoffelkraut, alles Begebenheiten, die vor 1898 im Leben des Erzählers stattgefunden haben. Wörtlich beklagt er, „dass der Mensch sich vor den Hochöfen grauenhaft bücken muss: zehn Stunden in einer Tour scharwerken“.83

      Zech kann diese Schwerstarbeit nicht länger aushalten. Wahrheitsgemäß bekennt er später, sein Versuch, als „Kohlenhauer unter Kohlenhauern“ zu arbeiten, sei gescheitert.84 Erschöpft verlässt er Frankreich und schlägt sich über Belgien nach Holland durch. Da ihm das Geld für ein „Billet“ fehlt, reist er als „blinder Passagier“ mit der Eisenbahn. Aufschluss darüber gibt sein Theaterstück „Windjacke“. Es trägt den doppeldeutigen Untertitel „Tragödie einer Jugend von Paul Zech“, und zeigt das kurze Leben eines Vagabunden, der in die bürgerliche Gesellschaft zurückfinden will.85 Klaus, ein junger Arbeitsloser, wird wegen Landstreicherei festgenommen, kommt zwei Jahre in Fürsorgeerziehung, findet anschließend Arbeit, verliert diese aber wieder, als seine Vergangenheit bekannt wird. Schließlich versucht er erfolglos, nach Amerika auszuwandern. Aus Geldmangel fährt er auf den Dächern der Waggons von Güterzügen.

      Eine Stadt, in der Zech auf seiner Reise Station macht, ist Utrecht. Hier will er Ohm Krüger sehen, den im Exil lebenden Präsidenten der Republik Transvaal. Dazu harrt er drei Tage vergeblich vor dessen Palast aus. Beim Warten beobachtet er: „Auf dem Schieferdach hing schlapp die Fahne von Transvaal“.86 Das ist eine Angabe, anhand derer sich dieser Aufenthalt zeitlich fixieren lässt. Die Fahne wird im Juni 1902 letztmals gehisst. Da sich der Rückkehrer ab 1901 wieder in Deutschland befindet, kann er sie nur in der Zeit davor gesehen haben. Von Holland aus gelangt er schließlich nach Deutschland in die Gegend von Köln.

      In einer biographischen Notiz behauptet Zech: „Im Jahre 1899 siedelten wir nach Elberfeld über und hier bin ich nun ununterbrochen wohnhaft.“87 Mit „wir“ sind seine Eltern gemeint, die angeblich mit ihm zusammen von Lüneburg ins Bergische Land umziehen. Das ist frei erfunden, aber die Zeitspanne der Jahre 1899 und 1900, in deren Verlauf sich der Rückkehrer aus Frankreich, Belgien und Holland im Tal der Wupper niederlässt, passt zu den gesicherten Fakten seines Lebenslaufs. Bestätigung erfährt die Datierung durch den Schriftsteller Kurt Erich Meurer, in dessen Aufzeichnungen es heißt: „Notiert sei nur, dass Paul Zech […] in frühen Jahren in die Rheingegend kam [und] Elberfeld als seine zweite Heimat für sich entdeckte“.88

      Einige Zeit lebt Zech in Köln. Das geht aus Passagen hervor, die in der Erzählung „Die Mutterstadt“ enthalten sind. Diesen Text veröffentlicht er erstmals unter dem Pseudonym „Werner Pütt“, einem sprechenden Namen, denn Bergwerke heißen in rheinischer Mundart „Pütt“. Geschildert wird, wie ein Heranwachsender namens Andreas Wülfing nach dem Tod der Mutter in Köln sein Erbe für Schnaps und im Bordell ausgibt, bis er ein Mädchen namens Lena kennenlernt. Sie verliebt sich in ihn und ist um seine Rettung bemüht. Deshalb will sie ihn aus der Großstadt weglocken: „Hier am Rhein ist‘s nicht so schön wie bei uns im Bergischen.“89 Lena spricht aus, was Zech empfindet. Der erfährt um 1900 die Großstadt und das Bergische Land als gegensätzliche Lebenswelten. Die eine stößt ihn ab, in der anderen fühlt er sich geborgen. Diesen Gegensatz gestaltet er später auch im Roman „Peregrins