Название | Die baltische Tragödie |
---|---|
Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Der Vater beißt unbekümmert hinein und liest dabei die Zeitung.
„Sieh doch, wie durchsichtig …“
Aber dann ist nichts mehr zu sehen: nur der Stengel und das abgenagte Kerngehäuse – der Vater wirft sie über das Geländer der Veranda, ohne aufzublicken. Und greift wieder nach der Pfeife.
Grischa, der Apfelrusse, ist nun auch gekommen, hat im neuen Garten, zwischen den jungen Obstbäumen, ein richtiges Indianerzelt aus dicken Strohmatten aufgeschlagen, in dem er das Fallobst aufsammelt und am Tage, eingewickelt in einen Schafspelz, schläft. Denn nachts muß er wachen. Dann wandert er ruhelos zwischen den beiden Gärten hin und her, horcht, ob irgendwo der Zaun verdächtig knackt, irgendein Baum sich plötzlich zu schütteln anfängt. Einmal hat er sogar einen Apfeldieb, einen kleinen Burschen, gefangen. Er heulte und wurde zum Verwalterhaus geführt. Hier sollte er gezüchtigt werden. Aber die Mutter bat für ihn, und nun sollte er sich bei ihr bedanken. Heulend stand der Junge da, mit blanken Füßen vor der Veranda.
„Wenn du Äpfel haben willst“, sagte die Mutter, „dann brauchst du sie nicht zu stehlen!“
Und Karlomchen mußte ihm einen vollen Korb geben, den er kaum tragen konnte.
„Ob du ihm so das Stehlen abgewöhnen wirst?“ lachte der Vater.
„Sicher!“ meinte die Mutter zuversichtlich. „Wenn er Äpfel bekommt, wozu soll er sie dann noch stehlen?“
„Und wenn sich zwanzig Apfeldiebe fangen lassen?“
„Mein Gott, wir haben so viel Fallobst, das sonst verfault!“ seufzte die Mutter.
Aber jetzt, mittags, schnarcht der Apfelrusse in seiner dunklen Höhle.
Wenn man sich bückt und hineinschaut, kann man seine faltigen Stiefel und die plumpen fettigen Pumphosen sehen. Einmal, als Grischa ihm einen roten Apfel hinhielt, war Aurel sogar zu ihm hineingekrochen. Wie es da drin nach Äpfeln, Stroh, Zwiebeln und Schafsfell roch! Aber kein Wort konnte er verstehen, was der bärtige Russe mit den gelben Zähnen sagte, und so war er schnell mit dem roten Apfel wieder davongerannt.
Das nächste Mal behielt er den sonderbaren Klang der fremden Worte im Ohr:
„Jabloko, chotschesch Jabloko?“ hatte der Russe gefragt, als er ihm den Apfel hinhielt. Und dann verstand Aurel: „Jabloko“ heißt Apfel. Komisch. Wenn Janz oder Indrik „Abol“ für Apfel sagten, so war das kein großer Unterschied. Aber Jabloko – wie konnte ein gewöhnlicher Apfel einen so verrückten Namen haben? Oder waren die russischen Äpfel anders? Und die Russen selbst – sind das überhaupt richtige Menschen? Mit solchen komischen Hosen, die wie Säcke um die Knie fallen, und einem Pelz mitten im Sommer?
Einmal hatte Onkel Oscha gesagt: „Ich möchte so lange leben, bis der letzte Russe hinter Kamtschatka ersäuft!“ Ob dies der letzte Russe war? Und warum sollte er hinter Kamtschatka ersaufen? Das war wohl noch weiter als die Flachsweiche. Nein, der Apfelrusse soll lieber lebenbleiben, dann kann Onkel Oscha niemals sterben.
„Warum kann Grischa nicht richtig sprechen?“ fragte einmal Aurel die Mutter.
„Grischa spricht richtig, aber er spricht Russisch!“ sagte die Mutter, nahm einen Apfel aus dem großen Korb, der vor ihr stand, und schälte ihn. Sie saßen alle auf der Gartenveranda: die Mutter, Karlomchen, die schwarze Tina, Karlin, die alte Minna, und schälten Äpfel.
„Und warum spricht er Russisch?“ erkundigte sich Aurel weiter. „Wenn ihn doch niemand versteht?“
„Die Russen verstehen ihn schon“, lachte die Mutter, „und in Rußland wird man dich wieder nicht verstehen!“
Russen? Er war also doch nicht der letzte, stellte Aurel erleichtert fest: Onkel Oscha wird lange leben!
„Gibt es viele Russen?“ forschte er nach einer Weile, um ganz sicher zu sein.
„Viele, viele Millionen“, seufzte die Mutter und warf den geschälten Apfel in eine braune Tonschüssel.
„Und alle sprechen Russisch?“
„Ja, das tun sie, und du wirst auch einmal Russisch lernen!“ Die Mutter griff nach einem neuen Apfel.
„Warum?“
„Weil wir zu Rußland gehören“, sagte die Mutter nachdenklich und drehte den Apfel. In einer dünnen, langen Spirale hing die Schale über ihren Knien in die Luft.
„Und warum sprechen wir dann nicht Russisch?“
Die Mutter hielt im Schälen inne, blickte auf, und ihre Augen bekamen ein besonderes Leuchten. Dann sagte sie ernst und bestimmt:
„Weil wir Deutsche sind!“
Aber Aurel war damit noch nicht beruhigt; die Mutter mußte ihm ausführlich erzählen, wie einmal die Deutschen, richtige Ritter in blitzenden Rüstungen und mit Schwertern, das heidnische Land erobert, Letten, Liven und Esten zum Christentum bekehrt hatten und dann später von den Russen besiegt wurden; wie der General, dessen Bild im Lesezimmer hängt, so tapfer gegen die Russen kämpfte, daß Peter der Große ihn in seine Dienste nahm und ihm für alle seine Nachkommen versprach, daß sie die deutsche Sprache und den deutschen Glauben behalten sollten.
„Und darum sind wir deutsch und sprechen Deutsch!“ schloß die Mutter und schälte weiter.
Aber Aurel grübelte noch lange, und als er in seinem Gitterbett lag und die Mutter ihm nach dem Abendgebet den Gutenachtkuß gab, hielt er ihre Hand fest und fragte:
„Warum sprechen die Menschen so viele verschiedene Sprachen, und warum kämpfen sie?“
„Weil sie die Himmelssprache vergessen haben“, sagte die Mutter und hob langsam den Kopf, „einmal sprachen alle die Himmelssprache, aber dann bauten die Menschen einen hohen Turm, und jedes Volk wollte höher sein als das andere. Da vergaßen sie Gottes Wort, und nun versteht kein Volk das andere! Aber einmal –“, und die Hand der Mutter strich leise über das Haar des Jungen, „einmal werden alle wieder die Himmelssprache sprechen!“
„Auch Grischa?“
„Auch Grischa. Aber wir selbst müssen sie auch lernen!“
Aurel schlief beruhigt ein.
Aber dann kam ein Abend, den Aurel nie vergaß und der sich tief in sein Herz brannte.
Es war schon dunkel, als der Vater mit den großen Brüdern von der Jagd heimkehrte. Mickel blies auf dem Horn, draußen vor der Veranda, wo die Brettdroschke hielt. Die Brüder kamen aufgeregt ins Haus gelaufen, und dann rannte alles zum Eiskeller, die schwarze Tina, Karlin, Fömarie, und Aurel rannte mit. Fömarie war so erregt, daß sie ganz vergaß, Watte in die Ohren zu stopfen.
Und hier, auf dem kurzen, flachgetrampelten Kamillengrase, lag ein riesiges Tier ausgestreckt, so groß, wie Aurel noch nie eins gesehen hatte. Indrik hielt die Stallaterne in der Hand, und der gelbe Schein wanderte über einen mächtigen Rücken, über ein dunkelbraunes Fell, lange, schmale weiße Beine und einen gewaltigen merkwürdigen Kopf, mit gebogener Rammsnase, großen Ohren und spitzen Hörnern.
Mickel, der Buschwächter, hockte auf dem Tier und erzählte aufgeregt, wie und wo der Elch gelaufen war und wie der Vater ihn geschossen hatte. Er tastete mit den blutigen Händen das Fell ab, bohrte den Zeigefinger tief in ein schwarzes Loch, hob den schweren Kopf am Geweih, ließ ihn dumpf auf den Erdboden fallen, öffnete das riesige Maul, zerrte an der blauroten Zunge und zeigte die gelben Zähne. Und Waldi, Sagrei und Schamyl, die Jagdhunde, schnüffelten mit wedelnden Schwänzen und hängenden Zungen am toten Tier.
In dieser Nacht hatte Aurel einen furchtbaren Traum. Aus der Allee kam ein riesiger Elch gelaufen, so groß, daß er mit dem Geweih an die Äste des Ahorns stieß. Aber er lief nicht auf dem Weg um den runden Rasenplatz, sondern geradeaus über das Gras auf das Haus los. Er lief und lief, mit gesenkten Hörnern,