Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Karlomchen huscht überall herum, schraubt die Dochte, damit die Lampen nicht blaken, klappert mit dem Schlüsselbund.
„Setz dich doch endlich hin!“ sagte die Mutter.
Karlomchen setzt sich. Aber gleich darauf ist sie wieder verschwunden.
Und dann müssen alle auf die Veranda: rund um den Rasenplatz, in allen Bäumen und Büschen, ja sogar tief in die Allee hinein, leuchten rote, grüne, blaue, gelbe und rosa Papierlaternen. Wie unergründlich, wie geheimnisvoll ist das Dunkel der Zweige im schwachen Schein der bunten Lichter. Dann und wann streicht eine Fledermaus dicht an der Veranda vorüber.
„Mein Gott, eine Fledermaus!“ schreit Fömarie: „Man muß die Fenster schließen!“
Tante Madeleine führt aber Aurel auf die andere Seite des Hauses, auf die Gartenveranda. Hier brennen keine bunten Laternen, aber hoch über den Lebensbäumen funkeln und flimmern die Sterne in der schwarzen Augustnacht. Noch nie hat Aurel so viele und so helle Sterne gesehen.
„Warum zittern sie so?“ fragt er verwundert.
„Weil jeder Stern einen Menschen hat, den er liebt und für den er fürchtet! Wenn der Mensch etwas Schlechtes tut, verliert der Stern seinen Glanz. Und jeder Stern will glänzen!“
Eine Sternschnuppe fliegt schnell über den Himmel und fällt hinter die Apfelbäume.
„Sahst du?“
„Ja, ein Stern ist heruntergefallen“, sagt Tante Madeleine. Lange sieht sie schweigend zum Himmel hinauf. „Und wenn ein Stern herunterfällt“, sagte sie leise, „dann ist ein Mensch gestorben!“
In der Lindenlaube schreit ein Kauz: „Kuwiht, kuwiht, kuwiht!“ Es klingt wie schrilles Gelächter oder wie der Schrei eines Kindes.
Dann fahren die vielen Tanten wieder fort.
Im Grünen, im Rosa Gastzimmer, im Treppenzimmer, im Eßzimmer – überall werden die Betten mit weißen Spitzentüchern zugedeckt, die Waschschüsseln umgestülpt, die Vasen mit den welken Astern hinausgetragen. Die schwarze Tina klappert mit den Eimern, Karlomchen zählt die Wäsche, die Tür zum Lesezimmer ist wieder geschlossen.
Als letzter fuhr Onkel Oscha. Aurel und Adda durften bis zur Flachsweiche mitfahren. Wieder stand alles winkend auf der Veranda, bis die Kalesche von der Allee auf die Landstraße einbog. Aber hier, beim Krug, ließ Onkel Oscha halten. Er ging mit den Kindern in den Kramladen. Wie es hier in der Bude nach Wagenschmiere, nach Heringen, Teer, Juchtenleder, Lakritzen und Wasserstiefeln roch! Mit zwei spitzen Tüten Karamelbonbons kamen sie wieder heraus.
„Warum kannst du nicht länger hierbleiben?“ fragte Aurel verzweifelt, als die Schimmel bei der Flachsweiche hielten.
„Weil ich noch viele andere Ohren untersuchen muß!“
Die Pferde zogen an, Onkel Oschas weißer Staubmantel beugte sich noch lange aus der halbaufgeschlagenen Kalesche heraus, dann war er hinter der dicken Staubwolke verschwunden. Die Kinder standen allein auf der Landstraße, die Bonbontüten in den Händen. Sie setzten sich am Grabenrand neben einen Weidenstumpf und fingen an zu lutschen. Die bunten klebrigen Papierchen werden in die Taschen gesteckt, die Finger abgeleckt, alles ist süß und klebrig. Eine Dreschmaschine summt irgendwo, und auf dem Heuschlag am kleinen Fluß stelzen drei Störche. Wenn sie ein Stückchen auffliegen, hängen die langen roten Beine so komisch in die Luft.
Aurel wendet den Kopf und erschrickt: da kommt auf der Landstraße der „verrückte“ Schweinehüter mit seinen Schweinen gerade auf sie zu. Dieser Schweinehüter ist ein Idiot, der immer mit sich selbst redet und lallend mit einem Stock hinter den Schweinen hertorkelt. Er hat einen zerrissenen, schwappenden Strohhut, zerlumpte Hosen, ein unheimliches, bärtiges Gesicht mit immer offenem Mund und verblödeten Augen.
Die Kinder sind aufgesprungen, halten sich an den Händen und rennen, was sie können. Aber jetzt fängt auch der Verrückte an zu laufen, mit geschwungenem Stock und weißem Schaum vor dem Munde – Aurel sieht es ganz deutlich, als er sich umwendet –, und alle Schweine galoppieren hinter ihm her. Bis nach Hause ist es noch weit, Adda kann nicht schnell laufen, und der Verrückte kommt immer näher. Aber da ist die Flachsweiche mit dem hohen Schilf und den dichten Weidenbüschen.
Aurel klettert über den Graben, zieht Adda nach, und beide verkriechen sich in dem grünen Dickicht. Am ganzen Leibe zitternd, hören sie den Verrückten lallend vorbeistolpern, das Grunzen und Quieken der Schweine. Noch lange hocken sie da versteckt. Aurel zieht einen Kalmusstengel aus der moorigen Erde, schält das rote Ende ab und riecht am weißen Mark: wie geheimnisvoll das duftet! Und genau so merkwürdig schmeckt auch der dikke, kühle Stengel, wenn man daran knabbert. Dann bricht er einen braunen Schilfkolben ab, der sich wie Samt anfühlt, und einen für Adda, und beide wandern Hand in Hand über die kahlen Stoppelfelder heimwärts.
Die Tage werden immer kürzer, in den Nächten friert es schon. Janz muß wieder die Öfen heizen. Aber mittags scheint noch die Sonne warm auf die Veranda, die Mutter sitzt auf dem rotweiß gestreiften Ecksofa, den weißen Schal um die schmalen Schultern, und stopft. Der Ahorn am Eingang zur Allee ist blutrot. Und die Laubgardine vor dem Wirtschaftsweg wird immer gelber und dünner.
Einmal, vor dem Mittagessen, nahm die Mutter Aurel mit zur Windmühle. Karlomchen trug einen großen Korb Verbandzeug, Watte, Wachssalbe und Baldrian. Mit Wachssalbe und Baldrian wurde alles kuriert, und das half immer. Aber diesmal war es etwas Ernsteres: die kleine Christin vom Müller hatte sich mit kochender Milch das Bein verbrüht. Wie dunkel und stickig war es in der armseligen Stube, überall hockten Kinder in Lumpen herum, starrten mit stumpfer Freudlosigkeit zu den Fremden auf. Und auf dem einzigen Bett lag etwas unsäglich Jämmerliches und wimmerte vor sich hin. Wieder wurden die Hände geküßt, Aurel hielt sie krampfhaft hinter dem Rücken versteckt, aber es half ihm nicht, und wieder fühlte er etwas widerlich Feuchtes und Kaltes auf seiner Haut.
Auf dem Heimweg fragte Aurel die Mutter:
„Haben sie nur ein Zimmer und nur ein Bett?“
„Ja, der Müller ist arm“, seufzte die Mutter und blieb erschöpft auf der Anhöhe stehen.
Eine dunkle Erinnerung stieg in Aurel auf: alle diese Äcker, Heuschläge und Wälder – gehörte nicht alles dem Vater?
„Und warum ist der eine arm und der andere reich?“ forschte Aurel weiter.
„Weil der liebe Gott es so eingerichtet hat“, meinte die Mutter und nahm den Jungen an der Hand. „Aber im Himmel werden wir alle gleich sein!“
Warum erst im Himmel? grübelte Aurel. Und warum hat Gott es so eingerichtet, wenn er wirklich allmächtig ist? Und der Vater? Warum baut er nicht einfach ein paar Zimmer und noch ein paar Betten für den armen Müller – er hat doch so viel Bäume im Wald?
Aber dann öffnete sich wieder die Gartenpforte, die tief herunterhängenden, schwerbeladenen Apfelzweige nahmen ihn schützend auf, und alle unbeantworteten Fragen blieben hinter dem grauen Bretterzaun zurück.
Viel wichtigere Fragen stürmten jetzt auf ihn ein: ob im Grase unter dem alten Birnbaum wieder die gelben, kleinen Birnen liegen, die ein wenig holzig, aber doch gut schmecken, besonders wenn man sie in der Bratröhre schmoren läßt, bis sie ganz weich und faltig werden.
Manchmal fallen sie auch in den dichten Johannisbeerbusch, und man muß tief hineinkriechen, um sie zu finden. Und wenn der Baum von selbst nichts hergeben will, klettern die großen Brüder hinauf und schütteln: dann prasselt es von den Zweigen.
Mit dumpfem Aufschlag fällt hier und dort ein reifer Apfel auf den Erdboden. Man muß nur aufpassen, die richtigen Bäume