Die baltische Tragödie. Siegfried von Vegesack

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Название Die baltische Tragödie
Автор произведения Siegfried von Vegesack
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783853653296



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und wenn man die Finger mit Spucke naß machte, konnte man schöne Striche ziehen. Auch die dunklen Ritzen zwischen den weißen Brettern des Fußbodens mußte man genau untersuchen: wie sonderbar mulmig sich der Staub anfühlte, wenn man ihn mit dem Nagel herauskratzte. Das war keine so einfache Arbeit, Aurel kutschierte auf seinem Bänkchen bis in die Ecke, um das Werk zu vollenden. Hier entdeckte er aber im hintersten Winkel zwischen Ofen und Wand ein graues Spinngewebe, in dem eine tote Fliege hing. Spinnen interessierten ihn immer ganz besonders, und als sich jetzt eine Fliege auf den Kachelofen setzte, versuchte er sie zu fangen. Er stand auf, aber nun sah er im Wasserkrug, der unter dem Waschtisch stand, eine Fliege hilflos mit den Beinen zappeln. Vorsichtig fischte er sie heraus und warf sie mit kaltem Entsetzen und zugleich grausamer Freude ins Spinngewebe.

      In diesem Augenblick hörte er, wie sich die Tür öffnete. Schnell hockte er sich wieder auf das Bänkchen. Hastige schlurfende Schritte näherten sich, ein Schlüsselbund klapperte, Karlomchen beugte sich zu ihm, sah ihn über die schiefen Brillengläser bekümmert an und fragte, ob der „Bock“ jetzt fort sei?

      Aber Aurel schüttelte den Kopf. Nie wollte er Fömarie um Verzeihung bitten, nie. Außerdem mußte er sehen, was aus der Fliege geworden war. Karlomchens Schlüsselbund klapperte, die Tür schloß sich. Aurel beugte sich vor und spähte neugierig in den Winkel. Sein Herz hämmerte bis in die Kehle hinauf, die Hände wurden kalt und feucht: da hing die zuckende Fliege, und ein Ungeheuer mit schwarzem Kugelleib und spitzen, langen Beinen hielt sie saugend umklammert. Aber er mußte hinsehen, entsetzt hinstarren, bis die Zuckungen immer schwächer wurden und zuletzt ganz aufhörten. Jetzt war die Fliege tot, eine leere Hülle. Die Spinne kroch gesättigt in ihr Versteck.

      Als die Mutter kam, hockte Aurel schluchzend auf seinem Bänkchen. Aber auf die Frage, ob er jetzt Fömarie um Verzeihung bitten wolle, schüttelte er stumm den Kopf.

      „Dann mußt du noch ein wenig nachdenken“, seufzte die Mutter und ging.

      Und Aurel dachte nach: Warum hab’ ich die Fliege ins Spinngewebe geworfen, warum ist Mila fort und Wannag, der Pferdeknecht, auch? Ich möchte zu Mila, ich will auch fort, weit fort von Fömarie und den abgekratzten Kartoffeln. Am liebsten will ich tot sein wie die Fliege, ganz tot, und dann werden alle weinen …

      Aurel schluchzt und schluchzt über sich selbst, über die Mutter, über alle Menschen, die dann so traurig sein werden, so schrecklich traurig. Aber ich bin dann tot, wiederholt er immer wieder, ganz tot, und dann wird man mich begraben, neben dem toten Schwesterchen, neben dem weißen Kreuz …

      Der wilde Trotz geht in sanftes, süßes Selbstmitleid über. Die Tränen sind versiegt, und in den Waden kribbeln Ameisen. Vielleicht fängt es so an, wenn man verhungert, denkt er gespannt und streckt abwechselnd die Beine aus, und abwechselnd kribbeln die Ameisen in der rechten und in der linken Wade.

      Als die Mutter wiederkommt, schüttelt er den Kopf.

      „Dann mußt du zu Papa“, sagt die Mutter feierlich, nimmt ihn an der Hand und führt ihn durch den Saal in das Lesezimmer.

      Hier ist es dämmrig und kühl; die gelben Fensterrouleaus sind heruntergelassen; durch die angelehnte Tür vom Schreibzimmer des Vaters fällt ein dünner Sonnenstreifen, in dem Staubkörner wirbeln. Die Mutter ist hineingegangen, er hört ihr Flüstern, einen Stuhl rücken, das knurrige Brummen des Vaters. Dann kommt sie wieder heraus – er soll hierbleiben. Die Saaltür schließt sich hinter ihr.

      Ganz selten ist Aurel in dieses Heiligtum vorgedrungen, hinter dem das Allerheiligste, Vaters Schreibzimmer, liegt. Aber schon hier ist es feierlich und unheimlich genug: da steht ein Glasschrank mit lauter Büchern, da hängen an den Wänden auf schwarzen Brettern weiße Totenköpfe mit spitzen Geweihen – Rehköpfe, viele Rehköpfe – und mitten darunter ein weißer Elchschädel mit gewaltigen Schaufeln. An der andern Wand hängt eine Bilderreihe von Männern und Frauen in sonderbaren Kleidern: in Rüstungen, Uniformen, mit weißen, komischen Frisuren, ja sogar Zöpfen. Und der unheimlichste – der General (Mila hat es ihm einmal gesagt) hat ein breites Band mit einem mächtigen Stern auf dem dicken Bauch. Und nun sind alle tot: die vielen Rehe, der Elch und der General. Warum wohl Papa so viele Tote an die Wände hängt?

      Nur schräg in der Ecke, da ist etwas Lebendiges, ein geheimnisvolles Bild, das Aurel immer wieder ansehen muß: eine blaue Höhle mit blauem Wasser, und ein Mann, der in einem Boot steht, fährt in diese Höhle hinein.

      „Das ist die Blaue Grotte“, hat einmal die Mutter gesagt, „und in diesem Boot bin ich selbst hineingefahren! Aber das ist schon lange her und sehr weit“, seufzte sie leise, „hier ist der Himmel nie so blau!“

      Seitdem sehnt sich der Junge nach dieser blauen Höhle. Auch jetzt will er lieber dort sein als auf den Vater warten, der ihn zwingen wird, die abgekratzten Kartoffeln zu essen. Denn das fühlt Aurel: dem Vater, der fast so groß und mächtig ist wie der liebe Gott, kann er sich nicht widersetzen. Schon hört er seine knarrenden Schritte, das kleine Herz pocht, die Hände werden wieder kalt und pressen sich aneinander. Dann öffnet sich die Tür, und der Vater steht mit der langen Pfeife im Sonnenviereck, das ihn wie ein Heiligenschein umflammt.

      Aurel ist so geblendet, daß er gar nicht aufblicken kann; er starrt nur auf den glühenden Pfeifenkopf, der tief bis zu den Knien des Vaters herunterhängt. Jedesmal, wenn der Pfeifenkopf aufglüht, kommt von oben eine dicke Rauchwolke, der Vater verschwindet ganz im Sonnenstaub und Pfeifendampf: er ist wieder unsichtbar. Nur seine brummende Stimme dringt durch den Rauch zu dem Jungen; er fragt, und Aurel gibt in den Rauch hinein Antwort. Er starrt dabei auf den aufglühenden und wieder verglimmenden Pfeifenkopf, und da die Worte oben aus dem Dampf immer gerade dann kommen, wenn unten das Feuer aufblitzt, ist es so, als spräche er mit der Pfeife.

      „Und warum willst du die Kartoffeln nicht essen?“ fragt die Pfeife und kneift lauernd das Auge zu.

      „Weil sie abgekratzt sind“, sagt Aurel und knetet die kalten Finger.

      Der Pfeifenkopf funkelt ihn böse an:

      „Abgekratzt?“

      „Ja, Fömarie hat sie mit den Nägeln abgekratzt!“

      Der Pfeifenkopf zwinkert lange stumm. Dann kommt ein dröhnendes Lachen, eine polternde Stimme aus der Höhe:

      „Das ist eine Schweinerei! Abgekratzte Kartoffeln brauchst du nicht zu essen!“

      Als Aurel aufblickte, war der Vater verschwunden. Die Tür zum Schreibzimmer war wieder geschlossen. Nur dicker grauer Pfeifenrauch hing noch wie eine Wolke in der Luft.

      Von den Kartoffeln wurde nie mehr gesprochen. Und Fömarie kratzte nie mehr die Schalen mit den Fingernägeln ab.

      Dafür gab es jetzt Beeren. Zuerst kamen die Gartenerdbeeren, aber die durfte man erst essen, wenn die Mutter ihre Vorräte eingekocht hatte. Das Beereneinkochen war etwas so Feierliches, daß nur die Mutter es selbst machen konnte. Für diesen Zweck hatte sie sich einen kleinen Ziegelsteinherd nahe am Teich unter den schattigen Bäumen bauen lassen – hier war es nicht so heiß, hier saß sie mitten im Freien, der ganze weite blaue Sommerhimmel mit den Eichen, Linden und Birken war ihre Küche.

      Die großen Brüder mußten immer untersuchen, ob die Erdbeeren schon so weit wären, aber immer hieß es: nein, ganz reif sind sie noch nicht! Bis die Mutter endlich das Rätsel löste: daß gerade die reifen der Untersuchung zum Opfer fielen!

      Dann begann das Beerenpflücken: die schwarze Tina, Karlin, die alte Minna und unzählige Beerenweiberchen aus dem Knechtshaus hockten mit weißen Kopftüchern zwischen den langen Beeten. Die großen Brüder, die mithelfen sollten, waren natürlich verschwunden. Sie schossen Drosseln in der Koppel, oder sie trieben sich auf dem Morast herum, wo sie Kreuzottern erlegten. Einmal brachten sie eine tote Natter nach Hause und legten sie vor Fömaries Tür. Fast wäre sie drauf getreten. Die Brüder mußten wieder im Schulzimmer nachsitzen. Aber das taten sie lieber als Beerenpflücken.

      Ganze Waschkörbe voll Erdbeeren wanderten auf die Veranda. Hier wurden sie von Karlomchen sortiert, gereinigt, vom Stengelblatt befreit und in gewaltigen Schüsseln aufgetürmt. Und dann kam der Tag, an dem sich die Mutter feierlich eine weiße Schürze umlegte, Janz den