Название | Die baltische Tragödie |
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Автор произведения | Siegfried von Vegesack |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783853653296 |
Dann half kein „Mundspitzen“, kein „Zähneklappern“ – man wurde gemurchelt, bis man die „Engel im Himmel pfeifen“ hörte:
„Hörst du sie?“
„Nein! Noch nicht!“
„Und jetzt?“
„Noch immer nicht!“
Aurel konnte nie die Engel pfeifen hören. Aber dafür hörte er jetzt jeden Abend in der Waschküche, unten beim Knechtshaus, wie Indrik, der Gärtner, mit der schwarzen Tina, Karlin, Rosalia und den anderen Mädchen das Morgenständchen einübte. Und dann kam Mamas Geburtstag.
Die Tür zu ihrem Schlafzimmer und ihr Stuhl am Speisetisch waren mit Laubgirlanden umrankt. Es roch nach Safran, nach Wachskerzen, nach frischen Kümmelkuchen.
Indrik und die Mägde schlichen am frühen Morgen auf bloßen Füßen in den Saal, stellten sich räuspernd vor der Tür auf – der Gärtner hob die Hand, schwang sie im Takt, und seine tiefe, schöne Stimme tönte mit dem schrillen, hohen Gesang der Mägde durch das noch schlafende Haus.
„Wie die Kalkhühner stinken“, sagte später der Vater, als er paffend durch den Saal ging.
Auf dem Tisch im Speisezimmer lag ein mächtiger gelber Safrankringel, zwischen dessen Rundungen auf zwei umgestülpten Tellern bunte Wachskerzen flackerten. Aber die braunen Mandeln hatten Aurels kleine Finger hier und dort aus der knusprigen Kruste schon herausgeknibbert, und jetzt wartete er darauf, mit Adda die Kerzen auszupusten.
Und dann stampfte Tante Olla durch den Saal. Die Kristallzapfen am Kronleuchter zitterten, und auch Aurel erschrak, als er diese mächtige Tante zum ersten Mal sah. Denn sie hatte einen tiefen Baß, ein dröhnendes Lachen und einen richtigen Schnurrbart im braun gebrannten, von einer zottigen weißen Mähne umwucherten Gesicht. Wenn Aurel ihr die Hand küßte, stieß seine Nase immer gegen den grünen Malachitstein ihres Siegelringes, und wenn er neugierig um sie herumging, dann war es eine weite Wanderung: so gewaltig war ihr Umfang. Daß dies Mamas Schwester war, konnte er nie begreifen.
Nach der Umarmung sank die Mutter immer erschöpft auf das Sofa, und Tante Olla holte sich ein silbernes Kästchen aus dem Beutel, klappte es auf, nahm ein Stück Papier, bestreute es mit Tabak und rollte sich eine Zigarette. Dann warf sie den Kopf zurück und paffte.
Die großen Brüder hatten einmal gesagt: „Tante Olla ist ein Mann.“ Aber warum trug sie dann Röcke? Oder hatte sie darunter vielleicht doch Hosen an? Aurel kroch unter den Tisch, um das Rätsel zu ergründen. Aber dann mußte er wieder heraus und eine neue Tante begrüßen.
Die Welt war voller Tanten, voller knisternder schwarzer Seidenröcke, Lavendelgeruch, klappernder Stricknadeln und warmer, etwas feuchter Tantenküsse.
Da war Tante Melanie, die immer Jäckchen häkelte. Aurel mußte ihr manchmal das Garn halten, die Hände steif nach oben, der Faden lief immer in der Runde, von einer Hand zur andern. Aber Aurel schielte doch hinüber und sah, wie Tante Melanie heimlich in Papier eingewickelte Schokoladeplätzchen in den Wunderknaul steckte, die dann beim Häkeln zum Vorschein kamen. Deshalb saß er doch oft bei dieser Tante und starrte gespannt auf den sich abwickelnden Knaul.
Dann war das Tante Constance, die mit ihrer weißen, welken Hand, an der viele blitzende Ringe und ein goldenes Armband klirrten, immer Karten auslegte.
„Man muß sich in Geduld üben“, sagte sie belehrend und tupfte mit dem Zeigefinger über die Karten, „und deshalb heißt dieses Spiel auch Patience – das heißt Geduld!“
Wenn aber Aurel seine Hand in die Hosentasche steckte, dann sagte sie streng:
„Kind, die Tasche ist nicht für die Hand! Das schickt sich nicht!“
„Warum schickt sich das nicht?“
„Weil ich es dir sage!“ erklärte sie ungeduldig.
Aurel zog die Hand aus der Tasche und ging fort. Tante Constance mußte sich wohl noch lange in Geduld üben.
Aber die liebste von allen war ihm Tante Madeleine. Sie war schmal und schwarz und so ausgelassen wie ein Füllen, machte immer Unsinn und schaukelte sogar oben im Großen Korridor, bis sie mit den Fußspitzen die Decke berührte.
„Madeleine, je t’en prie!“ sagte Onkel Nicolas und hielt die Schaukel an. Onkel Nicolas und Tante Madeleine sprachen oft französisch, damit man es nicht verstehen sollte. Wenn sie kamen, mußten sich alle Kinder im Saal in einer Reihe aufstellen: Balthasar, Reinhard, Christof, Aurel und Adda. Und dann mußte jeder seinen Namen und sein Alter nennen.
„Mon Dieu, wieviel Jungen!“ sagte Tante Madeleine, tupfte mit der Hand über die Scheitel und zählte: „Eins, zwei, drei, vier! Und nur ein kleines Mädel! Mais quelle gentille petite fille! Sollen wir nicht tauschen? Zwei Jungen gegen zwei Mädchen! Wieviel lieber hätte ich eine solche Rasselbande!“
Dann dürfen die großen Brüder abmarschieren. Und Tante Madeleine nimmt Aurel an der Hand, er muß sich an den Türpfosten stellen, die Schuhe ausziehen, sie mißt ihn mit dem Zentimeterstock.
„Genau so groß wie Boris“, sagt sie nachdenklich, „und genau so alt. Die würden gut zusammenpassen! Willst du mitkommen?“
Aber Aurel schüttelt den Kopf. Dann sagt er stockend:
„Du mußt hierbleiben!“
„Und Boris?“
„Der soll auch herkommen!“
Und dann öffnet Janz, in einem grauen Dienerrock mit blanken Knöpfen, die roten Hände in weiße Glacéhandschuhe gepreßt, die Flügeltür und bittet zu Tisch.
An diesem Festtag dürfen Aurel und Adda gleichzeitig mit den Großen essen. Aber Aurel fürchtet sich, er weiß, was später kommen wird, und daß dann wieder alle über ihn lachen werden. Er kneift sich heimlich mit dem Daumennagel in die Wade – vielleicht gelingt es ihm diesmal, das Schreckliche zu überstehen.
Das weiße, lange Gesicht vom Pastor bekommt schon rote Flecke, die schwarze Halsbinde um den niedrigen Kragen ist zur Seite gerutscht, so daß man den Messingknopf sehen kann. Die Stimmen schwirren, die Messer und Gabeln klappern. Dann wird es plötzlich still. Der Doktor ist aufgestanden, die goldene Kette funkelt auf seinem weißen Bauch. Im Aufschlag des schwarzen Bratenrockes steckt eine weiße Aster. Er klopft an sein Glas, räuspert sich, und dann hält er seine Rede auf das Geburtstagskind.
Doktor Martinell redet gern, redet lange und mit viel Gefühl. Er fängt immer mit dem Frühling an und endet mit dem Herbst: „Wir freuen uns an den Blüten, aber wir genießen die Früchte! Und die Kinder sind die Früchte der Frau: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“ Dann hebt er sein Glas – Aurel kneift sich tief in die Wade: jetzt, jetzt kommt es. Alles hat sich erhoben, der Pastor stimmt an, und dann tönt es grell und herzzerreißend:
„Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben! Dreimal hoch!“
Aurel schluckt und schluckt, Eiskugeln rollen ihm über den Rücken, und in der Kehle brennt es heiß. Lange hält er sich tapfer, starrt angestrengt auf seinen Teller, auf das Wachstuch mit den bunten Max-und-Moritz-Bildern, aber plötzlich verschwimmt alles vor seinem Blick, brennend schießt es in seine Augen, es strömt und strömt, er schluchzt mit zuckenden Schultern.
Und dann hört er dies schreckliche Gelächter, sieht durch den Tränenschleier lauter lachende Köpfe, auch das vom Wein gerötete Gesicht des Vaters lacht, ja, er macht sich sogar über ihn lustig und zuckt, ihn nachäffend, mit den Schultern. Noch nie war der Vater ihm so fremd, ja, in diesem Augenblick haßt er ihn.
Auch die Mutter versucht zu lächeln, aber es glückt ihr nicht ganz. Nur Tante Madeleine lacht nicht, sie ist aufgesprungen, sie stellt sich schützend zwischen ihn und das grausame Gelächter. Dann führt sie ihn hinaus, legt ihn im Grünen Gastzimmer auf ihr Bett, erzählt ihm von Boris, seinem Vetter, von Isa, Maurissa und Warinka, seinen Cousinen, die er noch nie gesehen hat, legt ihre kühle Hand, die so gut riecht, auf