Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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an der Wand, hielt sich an einer Leiter fest, bis er sicher war, nicht umzufallen. Quälend langsam schlurfte er hinaus in den Hof, schöpfte Wasser aus dem Brunnen, kühlte sein Gesicht und machte sich in der aufziehenden Dämmerung auf zu Meister Schlichting.

      Der Weg erschien ihm zweimal so lange wie sonst, doch schließlich erreichte er sein Ziel. Schlichting besaß ein stattliches dreigeschossiges Haus, die große Tür zur Backstube im Erdgeschoss stand offen. Für einen Augenblick lauschte Simon den Gesellen, die ein Lied angestimmt hatten.

      »Uns vor allem auf der Welt,

      das Bäckerhandwerk gut gefällt,

      knet den Teig auf rechte Weise,

      so erhält man gute Speise …«

      So ging es also in einer Backstube zu. Gut gelaunte, fröhliche Menschen, die ihre Arbeit liebten und offenbar gerne zusammenarbeiteten. Wie anders war es doch bei Bernbeck. Simon pochte an die offen stehende Tür und machte einen Schritt in die warme, nach frischem Brot duftende Backstube.

      »Grüßt euch Gott«, sagte er laut.

      Die Gesellen sahen zur Tür, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. Einer knetete zwei Laibe auf einmal, der andere streute Mehl darüber, ritzte mit einem Messer die Oberfläche ein und schoss die Brote in den Ofen. Simon war beeindruckt, wie die beiden Hand in Hand arbeiteten.

      »Was willst du, Junge?«, brummte der bärtige Mann am Ofen über die Schulter gewandt. Argwöhnisch betrachtete er die dunklen Blutflecken auf Simons Hemd. »Hungerleider sind nicht willkommen, geh und bettle woanders.«

      »Ich bin kein Bettler«, erwiderte Simon, »ich bin ein Lehrjunge und suche Meister Schlichting.«

      Die letzten Laibe wanderten in den Ofen, und die Männer wischten sich ihre bemehlten Hände an ihren Schürzen ab.

      »Der Zunftmeister ist auf dem Weg zum Stadtrat«, gab der Bärtige Auskunft.

      »Was willst du von Schlichting?«, fragte der andere, ein hagerer Mann mit einer wulstigen Narbe im Gesicht, und musterte ihn neugierig.

      »Das kann ich nur dem Meister selbst sagen.« Simons Beine begannen zu zittern. Der Weg hierher hatte ihm einiges abverlangt.

      »Er fällt uns gleich um, Karl«, warnte der Hagere und ging zur Tür, um Simon zu stützen.

      Als er ihm den rechten Arm um die Körpermitte legte, stöhnte Simon auf.

      »Ich glaube, eine Rippe ist gebrochen«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

      »Was prügelst du dich auch. Es gehört sich nicht für einen Lehrjungen. Und überhaupt, wo ist deine Schürze? Du weißt wohl, dass du ohne sie nicht aus dem Haus gehen sollst«, schimpfte der Bärtige.

      »Lass ihn, Karl, ich habe so eine Ahnung, warum er zum Meister will. Setz dich hierhin, Junge.« Sanft ließ er Simon auf die gemauerte Bank an der Wand gleiten.

      »Sei bedankt. Ich heiße übrigens Simon. Simon Reber.«

      »Ich bin der Lois. Was ist mit deinem Gesicht geschehen, du siehst ziemlich schaurig aus.«

      »Was schon? Er wird sich mit anderen gerauft haben«, fuhr Karl dazwischen und begann, kleine runde Wecken aus Roggenteig zu formen.

      »Mein Meister …«, sagte Simon leise und schluckte.

      »Dein Meister hat dir das angetan?« Lois pfiff leise durch die Zähne. »Hab ich’s mir doch gedacht. Siehst du, Karl?«

      »Ein paar Ohrfeigen haben noch keinem geschadet, wer weiß, was er ausgefressen hat.«

      »Das waren wohl nicht nur ein paar Ohrfeigen. Diese Narbe hier«, wandte er sich an Simon und zeigte auf den dicken roten Wulst, der sich von seinem Unterlid bis zum Kinn zog, »hat mir einst mein Lehrmeister verpasst. Er war sturzbetrunken und behauptete, ich hätte ihn bestohlen. Plötzlich hatte er ein Messer in der Hand und ist auf mich losgegangen.«

      »Du hast Glück gehabt«, antwortete Simon. »Wann wird Meister Schlichting zurück sein?«

      »Ich weiß nicht. Geh nach Hause und komm morgen wieder.«

      »Kann ich nicht hierbleiben?«, flüsterte Simon, dem angst und bange wurde, wenn er nur daran dachte, zurückzugehen.

      Lois schüttelte bedauernd den Kopf, und Simon erhob sich ächzend.

      »Hier, nimm, du hast heute sicher noch nichts gegessen.«

      Dankbar nahm Simon das Stück Brot entgegen, schenkte dem Gesellen ein trauriges Lächeln und verschwand.

      Seine Füße trugen ihn zur Lilien-Apotheke. Vielleicht würde ihm Sterzing helfen, schließlich war dieser einer seiner Bürgen. Auf keinen Fall konnte er zurück zu Bernbeck.

      Als er scheu den Laden betrat, befanden sich bereits eine Frau und ein Mann in der Offizin. Konrad Sterzing war mit beiden ins Gespräch vertieft und bemerkte den Neuankömmling nicht. Simon verzog sich in eine Ecke, hielt den Kopf gesenkt und lauschte dem Apotheker.

      »Aquae vitae sind gesund und dienen der Verdauung. Nach dem Essen trinkt Ihr einen Schluck und werdet spüren, wie Euer Magen leichter wird. Zu viel auf einmal solltet Ihr aber nicht davon genießen.«

      Das Ehepaar entschied sich für einen nach Kräutern schmeckenden Trank, bezahlte und verließ mit einem herzlichen »Ad Deum« die Apotheke. Simon war erstaunt, meist sagten die Leute nur noch ›Ade‹, kaum einer machte sich die Mühe, den Gruß ganz auszusprechen.

      Scheu trat er auf Konrad Sterzing zu, der mit dem Rücken zu ihm gewandt hinter dem großen Tisch stand und seine Finger suchend über die Keramikgefäße im Regal gleiten ließ.

      »Grüßt Euch Gott, Herr Apotheker«, brachte er trotz seines plötzlich trockenen Mundes hervor.

      Sterzing drehte sich um und starrte ihn an, verblüfft und mitleidig zugleich, als er Simons geschwollenes Auge und der Blutspuren im Gesicht gewahr wurde. Doch dann verwandelte sich seine Miene. Die Augenbrauen waren so zusammengezogen, dass sie sich beinahe berührten, sein Mund glich einem dünnen Strich. Sterzing war zornig.

      »Was willst du? Reicht es nicht, dass du deine Familie beleidigt hast? Für mich und die meinen war dein Verhalten beschämend.«

      »Ich … ich«, Simon schluckte, »ich wollte Euch als meinen Bürgen um Hilfe bitten. Aber ich merke schon, es ist vergebens.«

      »Melchior hat dich büßen lassen, weil du unverschämt warst. Und du hast die Tracht Prügel verdient. Leiste Abbitte bei deinem Stiefvater und Lehrmeister, das ist die einzige Hilfe, die ich dir geben werde.«

      »Aber …«

      »Vater, Mutter schickt mich, sie …«

      Plötzlich erschien Julia in der Offizin, die Locken flossen über ihre schmalen Schultern, und ihre dunklen Augen wurden noch größer, als sie Simon erblickte.

      »Oh, du bist es«, freute sie sich.

      Simon hatte schnell den Kopf gesenkt, damit sie die Spuren, die Melchiors Schläge hinterlassen hatten, nicht sehen konnte.

      »Julia, geh und sag deiner Mutter, ich bin gleich bei ihr. Und du«, wandte sich Sterzing an Simon, »verschwinde und tu, was ich dir geraten habe.«

      Julia sah von einem zum anderen und rührte sich nicht. »Was geht hier vor?«

      »Hast du nicht gehört, Julia, geh! Dasselbe gilt auch für dich, Simon.«

      Sterzing riss die Tür auf und deutete mit dem Zeigefinger hinaus auf die Straße.

      Er war noch nicht weit gekommen, als er Julia rufen hörte.

      »Simon, warte!«

      Die dunklen Locken wippten auf ihren Schultern, als sie eiligen Schrittes näher kam.

      »Mein Vater wollte mir nichts sagen, also habe ich mich davongestohlen. Was ist mit deinem Gesicht geschehen? Tut es sehr weh?«, sprudelte es aus ihr heraus.