Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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das durch die Fenster hereindrang, brachte Julius in die Gegenwart zurück. Nun, da er gerade an seinen geliebten Bruder Sebastian gedacht hatte, tauchte er die Feder in das Tintenfässchen, um diesem sogleich einen Brief zu schreiben.

      *

      »Simon Reber, dein Lehrvertrag bei Meister Bernbeck wird widerrufen«, erklärte Schlichting, nachdem sich die Zunftgenossen beraten hatten. »Du kannst deine Lehre bei einem anderen Meister fortsetzen. Das Bürgschaftsgeld von Meister Stamitz und Apotheker Sterzing soll Melchior Bernbeck zur Entschädigung erhalten.«

      Dem Lehrjungen fiel ein Stein vom Herzen. Wenigstens hatten sie ihn nicht aus der Zunft ausgeschlossen. Fragte sich nur, wer ihn überhaupt noch als Bäckerlehrling annahm. Hier in Würzburg sehr wahrscheinlich keiner. Das bedeutete, er musste die Stadt verlassen und sein Glück anderswo versuchen.

      »Ist jemand von den anwesenden Bäckermeistern bereit, Simon anzunehmen?«, fragte Wachter in die Runde.

      Betretenes Schweigen setzte ein, Blicke wurden zu Boden gesenkt. Das war zu erwarten gewesen.

      »Wenn er nicht unbedingt Bäcker werden will, dann nehme ich ihn«, ließ sich plötzlich Sterzing vernehmen.

      Alle Köpfe fuhren herum, und Simon starrte den Apotheker verblüfft an. Niemand rührte sich.

      »Nun, Simon, was sagst du dazu?«

      »Ich … ich … ja, natürlich! Seid bedankt, Herr Apotheker«, stammelte Simon.

      Zunftmeister Wachter erklärte, Simon müsse dann die Bäckerzunft verlassen, und die Zusammenkunft galt als beendet. Nach und nach verließen die Genossen den Zunftsaal. Als Simon ins Freie trat, packte Wulf ihn plötzlich am Ärmel.

      »Das hast du dir ja fein ausgedacht. Du weißt ganz genau, dass ich zu Sterzing wollte. Das wirst du mir büßen, verlass dich drauf«, zischte sein Stiefbruder ihn an.

      »Ich hatte keine Ahnung davon, dass er mich als Lehrling annehmen will. Lass mich endlich zufrieden«, fauchte Simon zurück und riss sich los.

      Bevor Wulf noch etwas entgegnen konnte, rief der Apotheker nach Simon. »Komm, wir gehen nach Hause.«

      Simon bezog eine winzige Kammer neben dem Laboratorium und lernte täglich all die lateinischen Namen der Pflanzen auswendig und für welchen Zweck sie zu Elixieren und Salben verarbeitet wurden. Sterzing war ein strenger, aber geduldiger Lehrer. Lehrgeld bekam er nicht, solange er das Bürgschaftsgeld nicht abgearbeitet hatte. Wenigstens hatte der Apotheker ihm gezeigt, wie man Marzipan herstellte, nachdem er lange genug gebettelt hatte.

      Julia bekam er außerhalb der gemeinsamen Mahlzeiten wenig zu Gesicht. Das Mädchen ging ihrer Mutter zur Hand und erfuhr, wie man die Bücher zu führen hatte. Doch immer öfter suchte sie einen Vorwand, um zu ihm ins Laboratorium oder in die Schneidekammer zu kommen. Dort wurden Wurzeln mit einem Wiegemesser zerkleinert, Samen und Früchte zerstoßen. Ihre Besuche währten nie lange, aber sie erhellten Simons Tag. Einmal hatte sie seine Hand geführt, als er sich ungelenk mit dem Pistill angestellt hatte. Die Berührung hatte sein Herz schneller schlagen lassen, und ihm war ganz heiß geworden. Seither mimte er den Ungeschickten, wann immer Julia auftauchte. Überhaupt hatte sich sein Körper in den letzten Monaten verändert. Seine Stimme besaß nun einen tiefen Klang und er war mindestens einen Kopf größer, sein Rücken war breiter geworden, während die Hüften schmal geblieben waren. Und auf seinen Wangen zeigte sich ein dunkelblonder Bartwuchs. Simon war nicht entgangen, dass Julia zur Frau heranreifte. Kleine runde Brüste zeichneten sich deutlich unter ihrem Kleid ab, und er ertappte sich wieder und wieder bei dem Gedanken, wie sie wohl aussehen und sich anfühlen mochten.

      »Simon, das Wollfett geht zur Neige. Lauf zum Markt, und bring außerdem noch Sperma ceti und Castoreum mit«, wies Konrad Sterzing ihn an. »Du weißt, was die Namen bedeuten?«

      »Walrat und Bibergeil«, antwortete Simon nach kurzem Überlegen.

      Zufrieden mit seiner Antwort gab Sterzing ihm einen Beutel mit Münzen.

      Simon liebte es, auf den Markt zu gehen. Die vielen Stände mit ihren unterschiedlichen Waren und die durchdringenden Rufe der Marktschreier, vermischt mit zahlreichen anderen Geräuschen, erfüllten diesen Teil der Stadt mit prallem Leben. Schweine quiekten, Hühner gackerten aufgeregt, Schafe blökten und Gänse schnatterten. Menschen lachten, andere stritten sich, wieder andere feilschten lauthals, und Spielmänner entlockten ihren Flöten und Schalmeien Töne, die mal mehr, mal weniger die Ohren erfreuten. Über all dem schwebte eine Wolke aus verschiedensten Gerüchen. Roch es an einer Ecke nach warmen Fleischpasteten, verströmten ein paar Schritte weiter die Waren der Schuster und Gürtelmacher ihren Ledergeruch. Am wunderbarsten empfand Simon die Düfte der Gewürze aus allen Herren Ländern, von denen er viele nicht benennen konnte.

      »Junge, was willst du?«, fragte der Händler, als Simon endlich an die Reihe kam.

      »Ein Pfund Wollfett, zwei Seidel Walrat und einen Vierling Bibergeil.«

      Während der Händler das Gewünschte abwog und in die mitgebrachten Gefäße füllte, betrachtete Simon das rege Treiben um sich herum. Plötzlich entdeckte er den weizenblonden Schopf seiner Schwester im Gewühl.

      »Barbara! Barbara!« Er reckte den Arm in die Höhe, um auf sich aufmerksam zu machen.

      Seine Schwester drängte sich weiter durch die Menge. Wahrscheinlich konnte sie ihn gar nicht hören. Was dachte sich Melchior nur dabei, ein kleines Mädchen auf den Markt zu schicken?

      Der Händler nannte Simon seinen Preis. Eilig bezahlte er, verstaute die Tontöpfe mit Wollfett und Walrat und ein Säckchen getrockneten Bibergeils in seiner ledernen Tasche und zwängte sich an den Menschen vorbei, um Barbara nachzulaufen. Zuerst glaubte er, sie verloren zu haben, doch nun sah er ihre hellen Haare in der Sonne leuchten, als sie an einem Stand stehen blieb, um Eier und ein frisch geschlachtetes Huhn zu kaufen. Sie löste einen kleinen Beutel von ihrem Gürtel, um zu bezahlen, als der neben ihr stehende Mann blitzartig danach griff und damit zu entkommen versuchte.

      »Haltet den Dieb!«, kreischte Barbara entsetzt.

      Die Flucht währte nur wenige Schritte, denn er kam geradewegs auf Simon zu, der ihm ein Bein stellte und zu Fall brachte. Kaum lag der Dieb am Boden, stürzte sich ein wahrer Hüne mit einem dichten Bart auf ihn, riss ihn in die Höhe und drehte ihm einen Arm auf den Rücken.

      »Was hat er dir gestohlen, Mädchen?«

      »Meine Börse«, schluchzte Barbara, die ihren Bruder noch nicht bemerkt hatte.

      »Elender Beutelschneider! Los, gib ihr das Geld zurück«, forderte der Mann und ruckte dessen Arm noch ein wenig höher, was diesem einen Schmerzenslaut entlockte.

      Der Dieb nestelte an seinem Hosenbund, hinter welchem der Beutel klemmte. Barbara griff hastig danach und bedankte sich bei dem Hünen.

      »Da bin ich ja gerade im richtigen Augenblick zur Stelle gewesen, Schwesterchen«, ließ sich Simon vernehmen.

      »Simon!«

      Barbara schlang ihrem Bruder die Arme um die Körpermitte und drückte sich an ihn.

      »Ich übergebe ihn den Bütteln. Ihr beide müsst mitkommen, damit wir alle bezeugen, was geschehen ist«, meinte der Bärtige.

      Unter dem Gezeter des Diebes machten sie sich auf zum Grafeneckart, wo sie den Mann den Stadtknechten übergaben.

      »Du Taugenichts, ein kleines Mädchen zu bestehlen«, brummte einer der Knechte kopfschüttelnd und stieß den Dieb in den Rücken, »ab mit dir ins Loch.«

      Dreimal in der Woche tagte das Stadtgericht auf der anderen Seite des Mains an der großen Brücke. Neun Schöffen sprachen unter dem Vorsitz des Oberschultheißen Friedrich Albrecht von Heßberg an diesen Tagen Recht über allerlei Straftaten, von Diebstahl und Schlägereien bis zu Mordbrand, Mord, Schändung und Inzucht. Auch peinliche Gerichtsverfahren wurden hier verhandelt, dann allerdings wurden fünf weitere Schöffen hinzugezogen, die aus dem Zent­gebiet Würzburgs stammten. Schulden- und Erbstreitigkeiten hingegen fanden im Kanzleigebäude links neben dem Dom