Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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weitere dünne Scheiben davon. Süßgebäck war das Einzige, dem er frönte, wenn er es sich auch eher selten gestattete. Was für ein schöner Einfall des Bäckers, ihm ein Gebäck zu widmen. In seinem Herzen erwachte eine Kindheitserinnerung: Seelenbrot. Ja, dieses Backwerk schmeckte wie Christina Alberdinens Seelenbrot.

      *

      Wieder starrte Simon in ein offenes Grab und hielt die Hand seiner Schwester. Barbara presste die dünnen Lippen aufeinander und kämpfte mit den Tränen. Neben ihm standen Melchior, Wulf und Sibylla Bernbeck, die Hände gefaltet, die Köpfe andächtig gesenkt. Simon nahm den beiden Männern ihre zur Schau gestellte Trauer nicht ab, nur Sibylla schien ehrlich betrübt. Während er der Predigt lauschte, fragte er sich, was die Zukunft für Barbara und ihn bereithalten mochte.

      Der Leichenschmaus fand wieder im ›Stachel‹ statt. Die Zunftmitglieder und Nachbarn sprachen tröstende Worte, bevor sie sich an Speisen und Wein gütlich taten. Schnell war der Anlass ihres Hierseins vergessen, und man widmete sich den Alltagsdingen. Der Tod war ein ständiger Begleiter. Jeden Tag starben Menschen, alt oder jung, reich oder arm.

      Auch Julia war mit ihren Eltern zum Begräbnis gekommen, was Simon tief berührt hatte. Sehnsüchtig schielte er immer wieder hinüber zu dem Tisch, an dem der Apotheker mit seiner Familie saß, doch er traute sich nicht, aufzustehen und hinüberzugehen. Julia schenkte ihm ein Lächeln, welches sein Herz schneller schlagen ließ. Wie hübsch sie aussah mit den hellblauen Bändern im Haar. Gerade als er all seinen Mut zusammengenommen hatte, um sich zu der Apothekerfamilie zu setzen, schob Wulf neben ihm plötzlich seinen Stuhl zurück und schlenderte seinerseits zum Tisch der Sterzings. Simon konnte nicht hören, was er sagte, doch Wulf wurde eingeladen, sich dazuzusetzen. Als er sich neben Julia niederließ und diese ihm scheu zulächelte, brannte Simons Innerstes, als hätte er flüssiges Blei getrunken.

      »Was starrst du denn immerzu dort hin?«, flüsterte Barbara zu seiner Rechten und pikte ihm mit dem Zeigefinger in die Rippen.

      »Tu ich nicht.«

      »Doch.«

      »Das bildest du dir ein.«

      »Nein. Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du wärst gerne an Wulfs Stelle, nicht wahr?«

      Gott im Himmel, war es wirklich so offensichtlich, dass sogar seine neunjährige Schwester es bemerkte?

      »Ich muss nach draußen«, antwortete Simon.

      Er lief die Gassen entlang, erleichterte sich an einer Ecke und versuchte, seiner Gefühle Herr zu werden. Seine Füße trugen ihn quer durch die Stadt und zur Marienkapelle. Vor dem Westportal blieb er stehen, sah hinauf zur Statue der Jungfrau Maria, die auf dem Mittelpfeiler thronte und das Jesuskind im Arm hielt.

      »Heilige Mutter Gottes, sag mir, was ich tun soll. Am liebsten möchte ich von hier fortlaufen«, sprach er leise zu der steinernen Figur. Doch er erhielt keine Antwort.

      *

      Eine Woche nach Anna Rebers Begräbnis kam Wulf grinsend in die Backstube.

      »Heute Abend bekommen wir Besuch. Möchtest du raten, wen Vater eingeladen hat?« Er erwartete keine Antwort und fuhr fort: »Apotheker Sterzing mit seiner Frau und seiner Tochter. Vater hat Berta einen fetten Schweinebraten besorgen lassen, damit es ein Festessen wird. Julia und ich haben übrigens viel getanzt bei den Maifeierlichkeiten. Einen Kuss vermochte ich ihr gar zu rauben, und es wird sich schon bald eine weitere Gelegenheit bieten, da bin ich mir sicher.«

      »Dein Vater scheint ja sehr um meine Mutter zu trauern«, entgegnete Simon verächtlich und zwang sich, ruhig zu bleiben, »wenn er, kaum dass die Trauerzeit begonnen hat, sich Leute ins Haus lädt.«

      Wulf trat drohend einen Schritt näher. »Was willst du damit sagen?«

      »Das weißt du ganz genau. Melchior und dir ist Mutters Tod doch gleich.«

      Ein Stoß vor die Brust ließ ihn zurücktaumeln.

      »Mein Vater leidet. Es ist nur gut für ihn, wenn etwas Leben ins Haus kommt und er für wenige Stunden abgelenkt ist. Er hat einen Sohn verloren und ich einen Bruder, als Anna starb«, spie Wulf aus. Speicheltröpfchen landeten auf Simons Gesicht, die er sich angeekelt mit dem Hemdärmel abwischte.

      »Woher willst du wissen, dass das Kind ein Junge geworden wäre? Aber wie dem auch sei, dein Vater hat eine eigenartige Weise, seine Trauer zu zeigen. Ich bin ziemlich sicher, dass ich heute in aller Frühe die Schankmagd vom ›Stachel‹ sich aus dem Haus schleichen sah. Oder war sie etwa in deinem Bett?«

      Wulf starrte ihn verblüfft an. Offenbar hatte er davon nichts gewusst, und das hehre Bild, das er von seinem Vater pflegte, schien einen ersten Riss zu bekommen.

      »D… das ist eine Lüge.«

      Simon zuckte mit den Schultern. »Wenn du meinst. Sie hatte nicht einmal ihr Kleid anständig verschnürt, ich konnte einen Blick auf ihre weißen dicken Brüste werfen. Aber anstatt hier herumzustehen, könntest du besser arbeiten. Die Wecken müssen noch gemacht werden.«

      Plötzlich stand Melchior Bernbeck wie aus dem Boden gestampft in der Tür zur Backstube.

      »Du erteilst meinem Sohn keine Befehle! Was fällt dir ein? Geh in den Hof! Der Eselmist muss weggefahren werden, der Haufen ist schon wieder viel zu groß.«

      »Ich bin Bäckerlehrling und kein Knecht«, entfuhr es Simon. »Was ist mit Matthes, dem Dummen, der den Mist sonst abholt?«

      Matthes war der einfältige, aber herzensgute Sohn eines Bauern, der regelmäßig in die Stadt kam, um den Mist wegzuschaffen und ihn auf den Feldern auszubringen. So verdiente er sich ein paar wenige Pfennige, und die Besitzer der Tiere oder der Mietställe waren froh, die Arbeit nicht selbst verrichten zu müssen.

      »Ich will, dass der Hof heute noch sauber gemacht wird. Wer weiß, wann Matthes wiederauftaucht. Also, scher dich hinaus und kümmere dich um den Mist.«

      Simon öffnete den Mund, um zu widersprechen, doch Bernbeck packte ihn bereits am Kragen und schüttelte ihn.

      »Wag es nicht. Du tust, was ich sage. Bisher hat deine Mutter dich immer in Schutz genommen, doch das ist nun vorbei«, drohte er.

      Simon konnte den schalen Weindunst riechen, den der Bäckermeister noch immer ausströmte. Er fragte, sich, wann und wie ihn seine Mutter denn je vor Melchior in Schutz genommen hatte, doch er fand keine Antwort darauf. Allerdings war er sicher, dass er künftig mit mehr Prügel zu rechnen hatte.

      Gerade rechtzeitig war Simon mit der Arbeit fertig geworden, um sich Gesicht und Hände zu waschen und saubere Kleidung anzulegen, bevor die Sterzings erschienen. Mit einem grobzinkigen Kamm fuhr er sich durch seine dichten blonden Haare, die er von seinem Vater geerbt hatte. Ein verführerischer Duft drang durch das Haus. Berta hatte sich mit ihren Kochkünsten offenbar selbst übertroffen. Simon lief das Wasser im Munde zusammen. Er hastete in die an die Küche grenzende Stube, wo Barbara und Sibylla den Tisch gedeckt hatten. Die Mädchen hatten sich redlich Mühe gegeben. Ein weißes Leinentuch, Teller und Becher standen bereit und in den Leuchtern steckten neue Kerzen. Sogar Blumen hatten die beiden gepflückt und die Stängel ineinander verwoben, sodass eine Kette aus Gänseblümchen und Primeln entstanden war, die die Tischmitte zierte. Der Boden war frisch gefegt, und der mit grünen Reliefkacheln verzierte Ofen strahlte eine wohltuende Wärme aus.

      »Das sieht schön aus«, lobte Simon und erntete dafür strahlende Gesichter.

      »Hilfst du uns, die Kerzen zu entzünden?«, fragte Sibylla.

      Simon nickte und ging in die Küche, um einen Kienspan zu holen. Dort legte Berta letzte Hand an das Gemüse. Möhren, Zwiebeln und Mairübchen. Über dem Feuer köchelte ein großer Topf Suppe vor sich hin. Simons Augen blieben an einer gusseisernen, mit einem Deckel verschlossenen Pfanne auf der Herdstelle hängen. Er wollte gerade den Deckel lüften, als Bertas Stimme ihn innehalten ließ.

      »Untersteh dich! Außerdem würdest du dir die Finger verbrennen.« Die Magd schnappte sich ein Tuch und hob augenzwinkernd den Deckel, um Simon einen Blick auf die Schweinebratenstücke werfen zu lassen, die