Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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hatte er keinen Blick für die prächtige Kirche, die er sonntags immer besuchte. Er stieß das südliche Portal auf, über das links und rechts in Stein gehauene Figuren wachten. Adam und Eva, geschaffen von einem der berühmtesten Männer Würzburgs, Tilman Riemenschneider. Wie oft hatte Gebhard seinem Sohn von dem Bildhauer erzählt und Simons Begeisterung für Schnitz- und Bildhauerarbeiten geweckt.

      Fast wäre er mit dem Mann zusammengestoßen, den er suchte.

      »Was fällt dir ein, Junge, ein Haus Gottes betritt man ehrfürchtig …«

      »Hochwürden, verzeiht, meine Mutter …«, unterbrach Simon keuchend den Pfarrer.

      Erst jetzt erkannte Pfarrer Magnus den aufgeregten Burschen, mit dessen Vater er oftmals über die Schönheit der Marienkapelle und auch der anderen gottgeweihten großartigen Bauten in dieser Stadt gesprochen hatte.

      »Simon, Simon Reber, nicht wahr?«

      »Ja, Hochwürden. Sie stirbt, bitte eilt Euch! Sie will nicht sterben, ohne gebeichtet zu haben«, schniefte Simon und wischte sich die Tränen von den Wangen.

      »Warte hier, ich hole alles, was ich brauche, um die Sterbesakramente zu spenden.«

      Wenig später folgte er eiligen Schrittes dem aufgelösten Jungen durch die Gassen.

      Sie kamen zu spät. Anna Reber war, ohne ihre Sünden zu bekennen, von dieser Welt gegangen. Pfarrer Magnus half Simon, den Leichnam auf das Bett zu legen, faltete Annas Hände und besprengte ihren Körper mit Weihwasser, während Simon eine Kerze entzündete.

      »Lass uns beten, Simon.«

      Der Junge legte die Handflächen aneinander, kniete nieder und murmelte leise mit.

      »… und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Amen«, beendete der Pfarrer das Vaterunser. »Ich werde nun gehen und eine Seelnonne schicken, die den Leib deiner Mutter waschen wird.«

      Simon nickte nur. Er war wie betäubt. So garstig war er zu ihr gewesen. Im Streit waren sie auseinandergegangen, und nun konnte er seine Mutter nicht mehr um Vergebung bitten. Das würde er sich nie verzeihen. Er setzte sich auf den Boden, die Arme auf den Knien verschränkt, vergrub sein Gesicht darin und weinte leise.

      Als die Kirchturmglocken schlugen, erschien eine ältere Frau. Unter ihrem Skapulier trug sie eine hellbraune Tunika, ihren Kopf bedeckte eine Haube derselben Farbe. Simon hatte sie nicht einmal die Treppen hochkommen gehört. Sanft berührte die Seelnonne ihn an der Schulter.

      »Steh auf, mein Junge.«

      Mühsam stemmte sich Simon hoch, starrte die Frau mit vom Weinen geröteten Augen an.

      »Geh, ich werde jetzt deine Mutter waschen«, sagte sie und schob ihn zur Tür.

      Mit hängenden Schultern ging er die Treppe hinunter und über den Hof und fand Trost bei den Eseln. Eigentlich hätte er Melchior suchen müssen, um ihm von Annas Tod zu berichten, doch er fand nicht die Kraft dazu.

      Ein Schrei weckte ihn auf. Es war bereits dunkel geworden, irgendwann musste er erschöpft eingeschlafen sein. Simon zupfte ein paar Strohhalme von seinen Kleidern und ging zum Haus.

      »Simon«, brüllte Melchior. »Wo steckst du, du Faulpelz?«

      »Hier.« Seine Stimme hörte sich eigenartig dünn an.

      In der Backstube stand sein Stiefvater, die beiden Mädchen drängten sich weinend an ihn. Wulf lehnte am Tisch, die Arme vor der Brust verschränkt.

      »Was ist geschehen? Los, rede!«, herrschte Melchior ihn an.

      Simon räusperte sich und sah zu Boden. »Sie hat ihre Leibesfrucht verloren. Als ich von der Burg kam, lag sie blutend auf dem Boden der Schlafkammer. Sie schickte mich nach einem Priester.«

      »Hast du nicht daran gedacht, uns zu holen, damit wir Abschied nehmen können?« Melchiors Gesicht nahm eine ungesunde Röte an.

      »Ich … als ich mit Pfarrer Magnus zurückkam, war es bereits zu spät, ich …«

      Bernbeck verpasste ihm eine Ohrfeige. »Sie ist in Sünde gestorben? Das ist alles deine Schuld, du elender Nichtsnutz«, brüllte er und begann, auf Simon einzuprügeln, der die Arme schützend vor sein Gesicht riss.

      »Vater, nicht, bitte!«, flehte Sibylla, und Barbara fiel weinend ein. »Bitte, hör auf.« Gemeinsam zerrten die Mädchen an Bernbecks Hemd.

      Schwer atmend ließ der Bäckermeister von ihm ab. Simon nahm die Hände herunter und erhaschte Wulfs hämisches Grinsen.

      »Geh mir aus den Augen, Simon«, presste Melchior hervor. »Wulf, morgen früh holst du den Totengräber, er soll die Leiche aus dem Haus schaffen.«

      »Wollen wir nicht gemeinsam für ihre Seele beten und Totenwache halten?«, fragte Sibylla leise.

      Simon war überrascht. Das Mädchen war meist still im Gegensatz zu seiner Schwester Barbara.

      »Ja, kommt ihr Mädchen, Wulf, wir gehen nach oben.« Damit stellte Melchior klar, dass er Simon nicht dabeihaben wollte. »Ach, und bring mir das Geld, das du für die Brote bekommen hast.«

      Simon blieb allein zurück. Es machte ihn sprachlos, dass Melchior den Nachbarn nicht einmal die Möglichkeit geben wollte, sich von Anna zu verabschieden. Normalerweise blieben die Toten nach ihrem Hinscheiden zwei bis drei Tage aufgebahrt im Haus, bevor der Totengräber sie mitnahm. Was war der Bäckermeister nur für ein Mensch?

      Fürstbischof Julius aß wie immer wenig. Nur einen halben Teller Suppe, eine dünne Scheibe Braten mit etwas Brot und Gemüse. Innerlich rümpfte er die Nase über seine Gäste, die all die aufgetischten Köstlichkeiten nur so in sich hineinschlangen. Den meisten hätte es besser gestanden, sich zurückzuhalten. Ohnehin schoben sie bereits stattliche Bäuche vor sich her, und ihre geröteten Nasen und geäderten Wangen zeugten von übermäßigem Weingenuss.

      »Sobald die Bestätigungen aus Rom und Prag eingegangen sind, werde ich der Universität Würzburg neues Leben einhauchen«, sagte er zu seinem Nachfolger im Amt des Domdekans, der zu seiner Linken saß. »Die Gesandten werden dieses Anliegen beim Papst und beim Kaiser vorbringen.«

      »Ein Vorhaben, das ich jederzeit unterstütze, Exzellenz«, antwortete Neidhart von Thüngen. »Zu lange warten die Würzburger darauf. Eine Universität ist ein leuchtender Stern für eine Stadt, nicht nur, dass sie Gelehrte aus vielen Ländern anzieht, nein, sie bietet auch Arbeit für viele Menschen.«

      Julius Echter nickte und griff nach seinem Weinglas, ein fein geschliffenes Stück Arbeit aus der Innsbrucker Hofglashütte.

      »Einhundertfünfundsiebzig Jahre sind wahrlich eine lange Zeit. Doch dieses Mal wird es gelingen. Ich habe noch einige Pläne, um das Leben der Menschen im Hochstift Würzburg zu verbessern und zu verändern.«

      Zu oft hatte Julius Echter bei seinen Gängen durch die Stadt erschüttert feststellen müssen, wie viele Arme keine Versorgung erhielten und wie viele sterbend in den Gassen lagen. Das musste geändert werden, und er, Fürstbischof, der er nun war, ausgestattet mit Geld und Macht, saß an der richtigen Stelle, um dies zum Guten zu wenden.

      Diener brachten die Nachspeisen. Süße Krapfen, mit Honig glasierte Äpfel der letzten Ernte aus den Fruchtkellern der Stadt, frische Feigen, Mandeltopfen, Küchlein mit Ingwer und Anis. Johann Voit von Rieneck, der Neffe eines Domherrn, besaß die Ehre, dem Fürstbischof aufzuwarten.

      »Eure Exzellenz, dieses Gebäck scheint der Bäcker nur für Euch gefertigt zu haben. Es gibt kein Weiteres seiner Art und ein ›J‹ ziert seine Mitte.«

      Voit von Rieneck stellte eine Platte vor den Fürstbischof, der erstaunt auf das ungewöhnliche Backwerk starrte. Tatsächlich waren die Rosinen zu einem Buchstaben geformt worden. ›J‹ wie Julius.

      »Seid so gut und schneidet mir ein Stück davon ab«, bat Echter.