Der Pfeiler der Gerechtigkeit. Johanna von Wild

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Название Der Pfeiler der Gerechtigkeit
Автор произведения Johanna von Wild
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839268988



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an den Grablegen ihrer Vorgänger zum Kapitelsaal beiwohnen. Nachdem der letzte Domherr vorübergeschritten war und das Tor sich hinter den Hofschreibern und Wahlleitern geschlossen hatte, hängten Hellebardenträger eine Kette vor und stellten sich mit gekreuzten Waffen zum Schutz auf.

      Draußen auf dem Platz vor dem Dom drängte sich das Volk. Kinder, Alte und Junge, Huren und Handwerker, Bauern, Bürger und Bettler. Sie alle waren gekommen und warteten gespannt auf den Ausgang der Wahl. Die Luft schwirrte von all den Stimmen, denn natürlich wurde lauthals darüber debattiert, wer Wirsbergs Nachfolger werden würde. Auch die umliegenden Wirtshäuser waren zum Bersten voll, kein Platz war mehr frei. Schließlich konnte man sich ja so lange mit einem Becher Wein die Zeit vertreiben. Das war allemal besser, als draußen in der Kälte des ersten Dezembertages sich die Beine in den Bauch zu stehen. Bestimmt reichte die Zeit auch für einen zweiten Becher oder vielleicht für ein schnelles Stelldichein mit einer Dirne in der Gasse um die Ecke.

      Simon hatte einen Platz vor dem Hauptportal ergattert. Langsam war er immer weiter nach vorn gerückt. Menschen vor ihm hatten der Kälte nicht mehr getrotzt und sich lieber in eine warme Gaststube gezwängt oder die Menge verlassen, um sich irgendwo zu erleichtern. Inzwischen hatte er eiskalte Füße, doch er wollte auf keinen Fall den großen Augenblick verpassen, wenn verkündet wurde, wer künftig über Würzburg und das gesamte Hochstift herrschte. Zusammen mit Melchior und Wulf – Anna hütete noch immer das Bett – war er zum Domplatz gegangen, doch den beiden war es schnell zu langweilig auf dem Platz geworden, und so hatten sie sich davongemacht. Simon war es nur recht.

      Auf der Suche nach bekannten Gesichtern ließ er seinen Blick durch die Menge schweifen. Dort drüben unterhielt sich Schlichting, der Zunftmeister der Bäcker, mit Schreinermeister Stamitz. Etwas abseits von ihnen war der Apotheker Sterzing ins Gespräch mit dem Stadtarzt vertieft. Simons Herz machte einen kleinen Sprung, als er Julias schwarze Locken entdeckte. Sie stand neben ihrer Mutter zur Rechten ihres Vaters. Dieses Mädchen war etwas Besonderes, ganz anders als die Gören in seiner Nachbarschaft. Plötzlich trafen sich ihre Blicke, und, als sie ihn erkannte, huschte über Julias Gesicht ein Lächeln. Er hob die Hand und winkte ihr zu, doch sie kehrte ihm den Rücken und war mit einem Mal nicht mehr zu sehen. Enttäuscht wandte er sich ab und heftete den Blick auf das Hauptportal. So allmählich könnten die Domherren sich einig werden, wen sie in den Rang eines Fürstbischofs erhoben.

      Als ob seine stumme Bitte erhört worden war, erklang ein dreimaliges Pochen aus dem Dominneren. Das Stimmengewirr der Menge ebbte ab, alle Köpfe richteten sich auf das Portal. Das Tor öffnete sich und heraus traten zwei Domherren. Einer davon war Erasmus Neustetter, auf den viele gewettet hatten. Nun, sie hatten sich offenbar getäuscht.

      »Der Fürstbischof von Würzburg wurde erwählt. Preiset den Herrn. Von Stund an ist unser geschätzter Domdekan Julius Echter von Mespelbrunn euer und unser Herr. Gelobt sei der Herr.«

      Verblüffung machte sich breit, nur vereinzelt erhoben sich Jubelschreie. Simon wusste mit dem Namen nichts anzufangen. Gespannt lauschte er den Gesprächen in seiner Nähe.

      »Sie haben den Domdekan gewählt? Der ist doch noch so jung. Ist er überhaupt in der Lage, das fürstbischöfliche Amt zu vertreten?«

      »Echter soll sehr gelehrt sein, trotz seiner jungen Jahre.«

      »Trotzdem. Wie kommen die Domherren dazu, solch ein Jüngelchen zu wählen? Echter zählt keine dreißig Lenze.«

      »Frag den Herzog von Bayern, der hat sicher seine Finger im Spiel. Albrecht ist ein strenger Verfechter des alten Glaubens, die Protestanten sind ihm schon lange ein Dorn im Auge. Echter, dem man nachsagt, er sei ein Gegner der Reformation, ist damit für Herzog Albrecht genau der Richtige auf dem Bischofsstuhl. Außerdem wird gemunkelt, Echters Vater sei mit dem Bayern gut bekannt.«

      »Wir können uns alle darauf gefasst machen, dass sich viel verändern wird.«

      »Zum Guten oder zum Schlechten?«

      »Das kommt darauf an. Wenn sich Mönche, Nonnen und Priester wieder mehr auf ihre Gelübde besinnen, anstatt zu huren und zu saufen, ist das nicht das Schlechteste. Ob der Friede in der Stadt gewahrt wird, wenn der neue Fürstbischof die Protestanten, wie der Bayernherzog die Juden, aus der Stadt und dem ganzen Hochstift vertreibt und damit Geld, Handel und Handwerker verlustig gehen, ist das wohl eher zu unser aller Schaden.«

      »Düstere Aussichten. Kein Würfelspiel, keine Besäufnisse, keine Hurerei. Alles, was das Leben etwas bunter macht, wird von einem wie Echter ausgemerzt werden.«

      Plötzlich setzte Domglockengeläut ein. Der Augenblick war gekommen, da sich der neue Fürstbischof in vollem Ornat seinem Volk zeigte. Die Glocken verstummten und Posaunen ertönten. Als wäre der Herrgott selbst mit der Wahl zufrieden, riss die graue Wolkendecke auf, und die Sonne sandte ihre Strahlen herab auf Julius Echter von Mespelbrunn, der just in diesem Augenblick vor die Menge trat. Sein mit Perlen besetzter und mit Gold- und Silberfäden durchzogener Chormantel funkelte im Sonnenlicht, die Reliefstickereien, die das Gewand zierten, eine meisterliche Kunst der Seidensticker. Es schien, als ob die fein gearbeiteten, farbenprächtigen Figuren darauf gleich zum Leben erweckt würden.

      Julius Echter hob seinen Bischofsstab und klopfte damit auf die Stufe, auf der er stand. Die Menge sank zu Boden, kniete vor dem Mann mit dem schmalen, scharf geschnittenen Gesicht.

      »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen«, rief er mit klarer Stimme.

      »Amen«, scholl es aus der Menge.

      Der Fürstbischof schritt die Stufen hinab, ihm entgegen kam der Dompropst mit dem fränkischen Herzogsschwert. Echter gürtete sich selbst das Zeichen der weltlichen Gewalt um. Das kostbare Schwert, dessen Parierstange reich mit Edelsteinen besetzt war, steckte in einer Scheide mit goldgetriebenem Rankenmuster. In dem sich windenden Blattwerk tummelten sich Tiere und Fabelwesen. Wie auch bei den Reliefstickereien des Chormantels war hier ein wahrer Meister zu Werke gewesen.

      Echters Schimmel wurde herbeigeführt. Zaumzeug und Sattel waren poliert und glänzten mit den Goldfäden des Bischofsmantels um die Wette. Geschmeidig schwang sich der Fürstbischof auf den Rücken des edlen Tieres und ritt durch die Menge, gefolgt von den hohen Herren, die ihn hinauf zur Burg begleiteten. Dort oben über der Stadt, mit Blick auf den Main und die umliegenden Weinberge, würde er ab jetzt residieren. Echter zügelte sein Pferd, sah auf die Menschen herab und segnete sie ein weiteres Mal.

      Eine zarte Hand schob sich plötzlich in Simons Linke. Verblüfft wandte er den Kopf. Er war von der bischöflichen Pracht so gefangen gewesen, ohne zu bemerken, dass Julia sich zu ihm gesellt hatte. Für einen Augenblick hatte er gar das Gefühl gehabt, der Fürstbischof hätte ihm tief in die Augen gesehen und seine Seele berührt. Doch das war sicher nur Einbildung gewesen.

      »Er sieht wahrlich fürstlich aus, findest du nicht?«

      »Doch. Erhaben und unnahbar«, erwiderte Simon und genoss es, ihre Hand zu halten.

      »Wollen wir der Menge bis hinauf zur Burg folgen?«, fragte sie.

      »Ich weiß nicht. Eigentlich sollte ich nach meiner Mutter sehen. Und du? Musst du nicht zu deiner Familie?«

      Sie schüttelte den Kopf. »Meine Eltern mögen dich offenbar und vertrauen dir. Schließlich hat mein Vater für dich gebürgt, wie ich erfahren habe. Warum hast du das nicht erzählt? Ist ja auch gleich, jedenfalls habe ich gesagt, du begleitest mich bis zur Außenmauer und wieder nach Hause, und sie waren einverstanden.« Auf ihrem Gesicht lag ein spitzbübisches Grinsen.

      »Du bist ein wahrer Schelm, Julia«, entgegnete Simon lachend. »Gut, lass uns gehen. Ich war noch nie dort oben.«

      Sie hatten die Hälfte des steilen Anstiegs bewältigt und blieben einen Moment stehen. Noch immer hielten sie sich an den Händen. Es war wie ein Zauber. Ihnen zu Füßen breitete sich die Stadt aus. Über die einzige Brücke, die den Main mit ihren acht steinernen Bögen überspannte, eilten jede Menge Menschen, oder sie drängten sich an den Verkaufsständen. Dazwischen mühten sich Fuhrwerke voran, um von einem Ufer zum anderen zu gelangen. Die Wasser des Flusses glichen einem breiten glitzernden Band.

      »Wie