Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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ausleben. Aber hier regieren unsere Gesetze und die vertrete ich, dafür bekomme ich mein Geld und wer da was dagegen hat, der spürt meinen Knüppel. Mehr sage ich nicht.«

      Birne schaute sich das Kino-Programm an. Das wär mal wieder was. Kino. Große Filme. Dann die anderen Anzeigen, dann die Todesanzeigen, ihre Anzeige. Da las er, was er jetzt unmöglich überlesen konnte: die Beerdigung. Sie hatten die alte Frau schon freigegeben. Sie mussten nicht mehr an ihr rumschneiden, die fleißigen Pathologen. Heute, 10 Uhr.

      Birne wollte da hin. Birne gehörte da hin. Sollten sie ihn sehen. Drauf geschissen. Er würde sich auch im Hintergrund halten. Kaum schnaufen. Nur beobachten.

      Er hatte schwarze Klamotten im Kleiderschrank, nicht zu nobel, aber dafür langte es. Er ging zu Fuß, musste dazu am Forum, einer Mall, die das Zentrum als Zentrum bedrängte, vorbei, dann durch die Fußgängerzone abwärts, am Karstadt und der Residenz entlang, alles im hässlichsten Wetter und inmitten von Volk, das seinen Konsumbummel am Vormittag begann.

      Wenig los in der Kirche. Sie mussten ihn sehen. Birne drückte sich in die letzte Reihe, was auffällig war, weil die Reihen zwischen ihm und den paar da vorne leer waren. Der Gottesdienst lief schon. Birne kam zur Lesung, danach das Evangelium. Ein ziemlich grauer Pfarrer mit Halbglatze und gutem Bauch, der von Bierdurst zeugte. Er las von der Aufweckung des Lazarus. Der war vier Tage tot und dann kam Jesus und holte ihn wieder hoch. Damals war es heiß, dann wurde der Lazarus wieder lebendig, wahrscheinlich hatte er damals schon nach Verwesung gestunken, denn der Heiland war nicht gleich zur Stelle gewesen, weil er noch vier Tage gebraucht hatte zu Fuß zum Lazarus. Vier Tage verfaulen in der Hitze, dann kommt der Jesus und übergibt der Familie einen Zombie. Zuerst war da sicher ein großes Hallo, weil die Nachbarn den Lazarus ja tot gesehen haben und plötzlich spaziert er wieder aus seinem Grab raus, dann muss es ihnen aber doch unheimlich geworden sein. Ist das Verfaulte wieder zusammengeheilt? Geht so was?, dachte Birne. Ging so was, weil Jesus seine Finger dran gehabt hatte? Wie wär das, wenn die Zulauf wiederkäme plötzlich? Zumindest eigenartig. Mit der wollte man nicht mehr schnapseln und erst recht nicht mehr Brotzeit essen. Jetzt, nachdem sie tot war, war sie wohl tot. Bruno war nicht da. Der Enkel war da und seine Freundin Simone, ein älterer Herr mit einer Frau, ebenfalls in Schwarz, könnte der Sohn sein, der Vater vom Enkel. Der Rest der Gemeinde war auch schon alt, am Rand des Grabs, die wollten noch was fürs Seelenheil tun. Das Evangelium erzählte eine Zombie-Geschichte, damit den Zuhörern klar wurde, dass die Toten bleiben sollten, wo sie waren, weil Zombies stinken und blöd sind in der Birne. Lazarus hatte eine Schwester, die Martha, die heulte am Anfang am lautesten, auf die hörte Jesus. Und die Martha, die hatte was übrig für diesen Jesus, der ihr den Bruder wieder lebendig machte. Vielleicht brauchte sie ihren Bruder fürs Geschäft. Niemand verliert gern den Bruder, der Bruder war weg und auf einmal wieder da, gerade als man sich damit abgefunden hatte, dass er weg war. Damit mussten die zurechtkommen damals, war nicht einfach, war komisch sicher. Und anstrengend, ein Leben zu führen mit einer komischen Beziehung, das wusste Birne. Die Martha hatte sich einen Stress ins Haus geheult, die war froh, wie er dann endgültig weg war. Kann sein, dass der Jesus sich gewundert hat, dass sie beim zweiten Mal nicht wieder so traurig gewesen war. Er hätte den Lazarus womöglich noch mal geholt, diesmal endgültig, und man könnte ihn womöglich heute noch bestaunen, den Lazarus, der nicht mehr starb, nachdem Jesus ihn zwei Mal geholt hatte. Man könnte ihn fragen, wie Jesus war als Mensch und nach seinem größten Wunsch könnte man ihn fragen und dann würde er sagen, dass er gern den Sisyphos kennenlernen würde, wenn es ihn gäbe. Lazarus fault bis auf den heutigen Tag, aber er wird nie ganz verfaulen, er wird nur immer mehr stinken und in ein Haus lässt ihn schon 1000 Jahre keiner mehr rein. Er vergisst auch alles, weil sein Hirn wegfault und der normale Alzheimer noch dazukommt. Er hat keine Ahnung, wer dieser Jesus ist, nach dem sie ihn dauernd fragen.

      Davon redete der Pfarrer nicht in seiner Predigt. Es war auch keine rechte Trauer vorhanden bei dieser Trauerfeier. Die zu Beerdigende war alt gewesen, was wollte man noch erwarten. Der Pfarrer sprach vom Krieg, den die Alten noch erleben durften, dass er ihnen einen ganz anderen Blick auf das Wesentliche geschenkt habe, für den der heutige Christ auch dankbar sein könne, den ihnen aber das Wort Gottes auch schenken könne, für den es demnach auch keinen Krieg mehr brauche. Der Krieg tobe trotzdem, er habe das Land nicht verlassen. Die arme Frau Zulauf sei sein Opfer geworden. Man müsse weitere Opfer verhindern, aber dazu fehle der Bevölkerung der Mut und auch den Behörden. Der Pfarrer ist ein Nazi, dachte sich Birne. Die Familie Kemal war nicht da, wären sie da gewesen, hätte er mit ihr den Pfarrer als Nazi beschimpft, das hätte er noch für sie gemacht.

      Die Freundin vom Enkel schaute sich um, weil die Predigt sie langweilte und nicht aufwühlte wie Birne. Sie schaute sich die Bilder in der Kirche an und die anderen Leute. Sie streifte Birne kurz und blickte dann erschrocken zu ihm zurück. Große Augen. Sie konnte es nicht fassen, diese Dreistigkeit. Diese laschen Behörden. Gleich würde sie schreien. Sie schrie nicht. Sie drehte sich wieder um.

      Birne verschwand.

      Was hatte er jetzt davon gehabt? Halber Gottesdienst ist geteilter Gottesdienst. Seine Idee war blöd gewesen. Er hatte sich wichtiger gemacht, als er war und sein wollte. Er rannte heim, zog sich seinen Jogginganzug an und warf sich in sein Bett.

      Birne nickte ein; er wusste nicht, ob er lang oder kurz geschlafen hatte, als ihn das Klingeln seiner Tür weckte. Er überlegte, ob er es ignorieren sollte, denn er erwartete niemanden und schon gar nichts Gutes. Im dümmsten Fall waren es Kemals, die ihren Schlüssel wiederhaben wollten. Dann sollten sie ihn in Gottes Namen wiederhaben. Birne schlüpfte schließlich in seine Pantoffeln und schlurfte zur Tür.

      Seine Gegensprechanlage war kaputt, da musste er sich mal beschweren. Er drückte auf den Türöffner unten, wartete und öffnete die Tür, um schon auf der Treppe erkennen zu können, ob er diesen Besuch gebrauchen konnte. Doch dieser Besuch kam nicht von draußen, sondern stand schon vor ihm, vor seiner Tür und überraschte ihn doch sehr: Simone.

      »Hi«, sagte sie und beugte sich ganz nah zu seinem Gesicht – fast hätte er sie küssen können.

      »Hi«, sagte er knapp und verlegen.

      »Ist alles in Ordnung mit deinem Gesicht? Er war nicht gerade sanft mit dir. Tut mir leid.«

      Während sie das sagte, kam Birne ein wenig runter von seiner Überraschung und verliebte sich dafür ein bisschen mehr in die Simone vor ihm. Die war in Ordnung, auch wenn es sein Gesicht nicht war.

      »Passt schon, ich bin nicht aus Schokolade und es war auch meine Schuld.«

      »Man soll nicht immer so kritisch mit sich selbst sein«, sagte sie schnippisch mit einer demonstrativen ostdeutschen Unbekümmertheit.

      Birne lachte: »Da hast du recht.« Hatte sie auch, fand er.

      »Bernd ist immer so grob und hinterher tut es ihm leid und er kommt drei Tage nicht aus dem Haus. Bernd ist der, der dich – Entschuldigung, Sie – so vermöbelt hat.«

      »Du passt schon. Ich bin der Birne.«

      Jetzt lachte sie: »Ich weiß, ich bin Simone.«

      »Das weiß ich auch.«

      »Ehrlich? Woher?«

      »Er hat mit dir geredet und mich verhauen.«

      »Na, dir geht es ja wieder ganz gut. Das seh ich schon.«

      »Willst du einen Kaffee?«

      »Einen Kaffee?«, fragte sie verwundert. »Wieso nicht?«

      »Komm rein.«

      Zögerlich kam sie rein. Traute sie Birne nicht? »Eigentlich habe ich Bernd gesagt, dass ich bald wieder da bin.«

      »Ein Kaffee.«

      »Ja, ich wollte in der Wohnung ein bisschen aufräumen und dann zurück. Du musst wissen, Bernd ist furchtbar eifersüchtig.«

      »Und nicht zimperlich.«

      »Wahrlich nicht. Ich kann dir sagen, manchmal ist das nicht leicht mit dem. Aber was erzähl ich dir das – das ist bestimmt unendlich langweilig für dich.«

      »Nein, nein, ich will