Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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      »Und jetzt soll ich es ausschalten, diese Woche fünf Minuten, nächste Woche zehn und so weiter, bis 24 Stunden voll sind.«

      »Wär doch schön.«

      »Nur weil ich deine Bilder gesehen habe.«

      »Zum Beispiel.«

      »Was aber ist, wenn ein Freund von mir in Gefahr gerät, mich erreichen will, damit ich ihn aus der Patsche ziehe und ich gerade meine fünf, respektive nächste Woche meine zehn Minuten habe? Dann ist er in dem Moment den Abgrund hinabgestürzt, in dem ich wieder erreichbar wäre.«

      Jetzt begann der andere zu lachen, Birne lauthals auszulachen, so direkt, dass es Birne richtig unangenehm wurde – er wollte in diesem Augenblick weg sein.

      »Woher willst du denn einen Freund haben, der hier in Gefahr gerät? So in Gefahr gerät, dass er dich braucht? Du bist hier nicht im Wilden Westen, du bist im Allgäu, und hier passiert niemandem was, außer er tut sich’s selbst an. Aber auf dich selbst musst du aufpassen können, das nimmt dir keiner ab. N’Abend!« Er flitzte auf zwei, ein junges Pärchen, das gerade die Treppe hochkam, zu. Er reichte ihnen Flyer und stellte sich ihnen für Fragen zur Verfügung. Birne war entlassen und erlöst.

      Simone stand vertieft vor den Bildern, nicht weil sie sie so toll fand, sondern weil ihr Birnes Disput mit dem Maler peinlich war.

      »Was ist, gehen wir wieder runter?«

      »Gern.«

      Ihr Tisch war besetzt, sie fanden schnell einen neuen, einen, der mit ihnen dann voll war, damit nie wieder einer zu ihnen stoßen konnte.

      »Verrückter Kerl«, stellt Birne fest.

      »Künstler halt. Das ist sein Haus hier, da müssen wir das schlucken.«

      »Wie fandest du die Bilder?«

      »Deprimierend, aber schön.«

      »Meinst du, das war echte Scheiße, was da an den Bäumen hing?«

      »Er arbeitet dreidimensional, wieso nicht?«

      Jetzt lachten sie beide erleichtert auf. Die Welt schien in Ordnung zu sein, so weit es ihr zurzeit möglich war.

      »Was macht eigentlich dein Freund heute Abend?«

      »Ach, der ist in den Urlaub gefahren.«

      »Urlaub? Ohne dich?«

      »Radfahren, macht der dauernd übers Wochenende nach Italien oder Südtirol, dort strampelt er sich dann halb besinnungslos und kommt als besserer Mensch wieder.«

      »Auch dieses Wochenende? Obwohl heute Beerdigung war?«

      »So was berührt den nicht, der glaubt an nichts und ist stolz drauf. Der wollte mal raus aus diesem Scheiß, sagt er. Dauernd will der raus, der ist mehr raus als drin. Als ich vorhin heimkam, hat er seine Sachen gepackt und ist los, damit er morgen früh gleich radeln kann. Wie geistesgestört. Können wir jetzt aufhören, von Bernd zu reden? Das ist unser Abend, okay?«

      Birne hatte nichts dagegen. Ihr Abend wurde ein schöner Abend, so wie Birne davon geträumt hatte, sie tranken Bier im Künstlerhaus, aus dem sie um 23 Uhr zu seiner Verwunderung geschmissen wurden.

      »Die müssen schließen wegen der Anwohner«, erklärte Simone.

      »Schade eigentlich.«

      »Ja, aber wir müssen noch nicht aufhören, oder?«

      »Niemals. Weißt du noch was Nettes?«

      Sie gingen ein paar 100 Meter an der Stadtmauer entlang und kamen an den Ritterkeller, der von außen sehr bürgerlich wirkte. Die Musik, die ihnen entgegen scholl, klang allerdings nach Punkrock und sehr einladend. Drinnen gab es ein Gewölbe, im hinteren Teil spielten sie Billard, an den Wänden hingen Bierwerbungen. Die Ramones liefen, alles war versoffener hier, gemütlich. Hier wollte Birne bleiben. Das Bier musste man sich wieder an der Theke holen, sie wechselten sich inzwischen ab. Birne war dran und konnte aus 38 verschiedenen Sorten wählen. Er entschied sich für ein Münchner Augustiner, denn wie oft, wo die Auswahl groß war, war sie im Endeffekt sehr bescheiden.

      »Nett hier«, fand er.

      »Ja, und hier können wir bleiben, bis wir nicht mehr können.«

      »Gut.«

      Mit dem Bier war auch ihr Gespräch ins Fließen gekommen. Sie hatten sich eine Menge von den Dingen anvertraut, die man ausschließlich Wildfremden in Kneipen erzählt, die man danach nie wieder zu Gesicht bekommt. Aber danach sah es im Moment nicht aus. Es sah eher danach aus, als ob sie sich noch öfter ins Gesicht bekämen und nicht nur ins Gesicht.

      »Birne, ich bin froh, dich kennengelernt zu haben, ehrlich«, sagte sie schon etwas lallend. »Mit dir kann man echt gut reden.«

      »Ich kann nicht mit jedem gut reden – mit dir kann ich gut reden.«

      »Oh danke«, sie umarmte ihn inmitten dieser Leute hier zu den Misfits aus den Boxen.

      Sie lagen eine Weile Schulter an Schulter und vergaßen das Bier und den Rauch um sich. Ja, sie waren betrunken, aber es war noch für nichts zu spät. Simone löste sich von Birne und wurde auf einmal ernst, schaute ihm ins Auge und dann auf ihre Bierflasche, in der noch vier Zentimeter lauwarmes Bier lagen.

      »Ist was?«, fragte Birne und biss sich auf die Zunge aus Angst, mit dieser einen dummen Frage alles verspielt zu haben, sie gezwungen zu haben, an Bernd zu denken, ihn zu erwähnen und Birne klarzumachen, dass das so einfach nicht sei, dass die Jahre zusammen nicht in einer lustigen Trinknacht entwertet werden dürften.

      »Nein, nichts«, sagte sie und schaute ihn immer noch nicht an.

      »Willst du noch mal eins?«

      »Nein danke. Ich denke, ich werde langsam betrunken.« Wie von einem melancholischen Gedanken gestochen, stand sie auf und ging abrupt nach draußen. Birne wundert sich kurz und folgte ihr, fand sie vor der Kneipe unter einer Straßenlaterne stehend – sie hatte ihn erwartet.

      »Was ist?«

      »Ich hab dir doch gesagt, dass nichts ist. Ich bin ein bisschen angesoffen. Mehr nicht.« Sie ging langsam den Berg nach oben, zurück zum Zentrum.

      »Das glaub ich dir nicht.«

      Sie drehte sich um und zeigte Birne die Tränen, die sie in den Augen hatte und die ersten, die sich auf dem Weg ihre Wange hinab befanden.

      Birne sagte: »Das wollte ich nicht.«

      »Das hat nichts mit dir zu tun, das geht dich nicht einmal was an.«

      Jetzt war die Zeit, das spürte Birne, in der er sie trösten konnte. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm, hielt sie fest an sich gedrückt und zog schließlich nach zwei Minuten ihr Gesicht nach oben an seines, um sie zu küssen, doch sie wehrte sich: »Bitte.«

      »Ist okay.«

      »Nichts ist okay.« Sie drückte ihr Gesicht fest an seine Schulter. Er strich ihr übers blonde Haar und fand nicht, dass gar nichts okay war.

      Sie riss ihren Kopf hoch und sagte nun sehr vehement, nachdem sie all den nötigen Mut gefasst hatte: »Eigentlich sollte ich es dir nicht erzählen.«

      »Was denn?«

      Sie schluckte, nahm Anlauf: »Mein Freund, der Bernd, von dem komm ich nicht mehr los, dem hab ich Geld gegeben, und das ist weg, wenn ich geh von ihm, das weiß ich.«

      Birne musste lachen. »Und deswegen rennst du raus?«

      »Ich weiß, das ist blöd. Gerade an diesem Abend. Aber ich hab ehrlich Angst, dass ich mich in dich verliebe, und das kann ich mir im Moment nicht leisten. Sorry.«

      Birne schwieg und schaute ihr nicht mehr ins Gesicht.

      »Klingt blöd jetzt für dich, oder?«, fragt sie.

      »Ja schon«, sagte Birne und schwieg dann wieder und starrte in die Luft neben ihr.