Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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rede doch auch nicht davon, nicht mehr zu arbeiten, ich meine, Arbeiten ist gut, wenn es einen Nutzen bringt – ich meine dir und jenseits vom Geldbeutel. Ich kann mit meinen Händen so viel vollbringen: Wozu soll ich in ein Arschloch-Möbelhaus fahren, wenn ich mir meinen Schrank, meine Küche selbst zimmern kann? Damit die ihrem fetten Ottfried Fischer ihre Werbung zahlen können? Damit der noch mehr fressen kann. Wozu brauch ich einen Supermarkt, wenn ich mir meine Kuh, mein Schaf, mein Huhn selbst halten kann? Burger King? McDonald’s? Kentucky Fried Chicken? Subway? Wusstest du, dass die für die schicken Markenklamotten, die ihr bei H&M kauft, in China Kinder zum Teil 18 Stunden am Tag schuften lassen ohne Feiertag, ohne Urlaub, für 1,80 Euro am Tag? Die sind glücklich. Du fragst dich, wie kann man da glücklich sein darüber, über zehn Cent in der Stunde? Aber in China sind selbst 1,80 am Tag ein Haufen Geld und die ernähren damit ihre Familien auf dem Land. Da haben sie nämlich noch viel weniger, im Prinzip gar nichts und weißt du warum: Die haben ihre Hühner schlachten müssen, ihre Hühner, von denen sie gelebt haben: Fleisch, Eier, Federn – praktisch alles haben die verarbeitet, den Kot zum Hausbau und so weiter und dann mussten sie sie schlachten. Wieso? Wegen uns. Wegen dem Westen, weil wir behauptet haben, da kommt die Vogelgrippe her, davon müssen wir alle sterben. Aber Pfeifendeckel: Die haben Angst hier, dass sie ihre Hühner nicht mehr verkaufen können und deswegen, wegen unseren deutschen Hühnern, müssen in China die Menschen verhungern oder sich ausbeuten lassen. Was ist das für eine Wahl?«

      »Das ist ja entsetzlich«, meinte Simone.

      Entsetzlich fand das auch Birne und bot sich an, für Simone und sich neues Bier zu besorgen. Simone hatte im Schock über die furchtbaren Zustände anderswo schier vergessen zu trinken, wollte nichts Neues, Birne dagegen hatte fast schon manisch getrunken, um einen Moment wegzukommen, an die Theke zu kommen zu anderen Menschen. Der Fremde hatte leer, bat Birne, ihm ebenfalls ein neues Helles zukommen zu lassen. Er zog eine Tabaktüte heraus, drehte sich eine extrem dünne und harte Kippe und bot Simone ebenfalls an. Die lehnte ab, weil sie erstens nicht rauche, zweitens nicht drehen könne. Der Fremde übernahm den zweiten Part für sie, sie musste nur noch rauchen. Birne rauchte auch, selbstverständlich nur innerlich.

      Das dünne Mädchen mit der blassen Haut und den schwarzen Haaren am Ausschank war ungeheuer freundlich, Birne gefiel sie außerordentlich, optisch und wahrscheinlich auch seelisch das Gegenstück zu Simone. Er wollte mit ihr mehr reden als »Was kriegst du?« und »Zwei Helle, oder halt: ein Dunkles, weil heute Beerdigung war.«

      Sie bückte sich, holte die Flaschen aus dem Kühlschrank, Birne dachte: Simone hat einen Freund, für den bin ich der andere Mann, ich habe gar kein Recht, eifersüchtig zu sein. In 666 von 667 Fällen wird dir eine Frau, die du einem andern ausspannst, auch wieder ausgespannt. Ich habe gar kein Recht, mich in Simone zu verlieben, schon allein, um mich zu schonen und weil ein Mensch niemals das Eigentum oder auch nur der Besitz eines anderen sein kann oder darf. Wo kämen wir denn da hin? Nach China?

      »Hat euch der Künstler erwischt?«, fragte das Mädchen, das Birne Bier reichte.

      »Der Künstler?«, fragte Birne und wähnte sich im Gespräch.

      »Ja. Der stellt aus, oben im ersten Stock. Habt ihr euch das noch nicht angeschaut? Schaut das lieber an, ist vielleicht besser, als ihm zuzuhören.«

      »Sicher.«

      »Kostet auch nichts – wenn ihr nichts kauft.«

      »Klar. Danke.«

      »Stell dir vor: Er ist Künstler, er stellt hier aus«, teilte Simone Birne mit, als er zum Platz zurückkam, klopfte dabei auf seine Schulter, was ihr möglich war, weil sie sich neben ihn gesetzt hatte.

      Der Mann nickte und sagte: »Hast du mir ein Dunkles mitgebracht? Das ist nett, das trink ich auch gern.«

      »Das Dunkle ist für mich, ich hab einen Anlass, das Helle kostet 2,50. Bitte.«

      »Nachher. Ich muss wechseln. Aber war mir klar, dass du als Erstes übers Geld reden würdest, wenn du zurückkommst, war mir klar.«

      »Du hast mir ja nichts von deiner Kunst gesagt.«

      Simone forderte mehr, als sie bat: »Oh bitte, lass uns nach oben gehen.«

      Sie gingen nach oben und vergaßen dabei ihre Bierflaschen nicht.

      Zwei Räume oben für die Kunst.

      Da hingen Bilder und in der Mitte standen Skulpturen.

      »Sind die alle von dir?«, fragte Birne, der froh war, nicht aufrichtig beeindruckt zu sein. Schwarze Strichmännchen oder -Mädchen vor verkrakelten Bäumen, an denen statt Blätter etwas hing, das getrocknete Scheiße hätte sein können.

      »Das ist meine Klima-Serie.«

      »Interessant.«

      Simone meldete sich von einem der Bilder: »Willst du dafür wirklich 2.000 Euro?«

      »Klar. Aber den Preis mach nicht ich.«

      »Nicht du?«

      »Nein, das macht der Faktor.«

      »Der Faktor?«

      »Jeder von uns Künstlern hat einen Faktor, der hängt davon ab, wo wir, wenn wir studiert haben, wo wir ausstellen, wie wir verkaufen und der wird dann multipliziert.«

      »Womit?«

      »Mit den Maßen des Bildes.«

      »Hammer. Aber dann ist ja der der Depp, der kleine Bilder malt.«

      »Das kann man so sagen, aber manchmal wirkt es auf einer Postkarte einfach besser.«

      »Was?«

      »Die Aussage.«

      »Ach so.«

      »Und das Tolle ist, dass das international anerkannt ist. Zeig mir ein Bild in einer Ausstellung in Schanghai, Beijing oder Mumbai, sag mir die Maße und den Preis und ich kann dir den Wert eines Künstlers sagen.«

      »Seinen Faktor.«

      »Genau.«

      »Verkaufst du gut?«

      »Darauf kommt es doch nicht an. Ich sag immer, wenn die Menschen das sehen und dann in ihnen was losgeht, sie versuchen, nur ein paar Minuten am Tag anders zu leben, als sie es jetzt tun, dann hab ich schon was bewirkt. Und natürlich sehen es mehr Menschen hier, als wenn die Bilder in irgendeinem Wohnzimmer hingen.«

      »Wie rechnet man denn deine Skulpturen ab?«, fragte Birne dazwischen.

      »Auch mit dem Faktor. Natürlich ist das etwas komplizierter oder auch einfacher: Die dritte Dimension wird nicht mitmultipliziert.«

      »Dann bist du ja ein Depp, wenn du in der arbeitest.«

      »Darum geht es doch gar nicht. Es geht um die Wirkung.«

      »Ach so. Welche Wirkung?«

      »Na, du sollst endlich anfangen, anders zu leben. Am Anfang nur fünf Minuten am Tag, dann zehn, so nach einer Woche, wenn du eingesehen hast, dass es gut für dich ist, dann immer mehr, 20 in der Woche drauf, dann 40 und so weiter.«

      »Immer das Doppelte.«

      »Genau.«

      »Und was genau«, erkundigte sich Birne, »könnte ich anders machen, die fünf Minuten am Tag?«

      Anstatt ihm gleich zu antworten, wühlte der Künstlermann in einer Herrenhandtasche, die der umhängen hatte, und zog einen etwas zerknitterten Flyer heraus. »Da!«

      Birne nahm das Papier und empfing eine Einladung zu einem Vortrag nächste Woche, bei dem er und alle anderen, die möglichst zahlreich erscheinen sollten, über die Gefahren von Handystrahlen aufgeklärt werden sollten: Kopfweh, Schlaflosigkeit, Erbrechen, schrecklicher Krebs.

      »Hast du ein Handy?«, fragte der Künstler.

      »Hab ich«, antwortete Birne selbstbewusst.

      »Schlecht.«

      »Warum?