Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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ging zum Ende des Flurs und stand vor der linken Tür, hinter sich spürte er das Mordzimmer, die Küche, und wagte nicht zu atmen. Birne öffnete die Tür vorsichtig, seine behandschuhte Hand berührte die Klinke. Er konnte den Fernseher sehen, das Ticken der Uhr kam aus der Küche hinter ihm, die Geräusche der Autos vom Fenster des Wohnzimmers vor ihm. Der Fernseher stand links von ihm in einem Einbauschrank, sein Schrank hatte links einen Platz gefunden, der Enkel hatte seinen Teil des Jobs erledigt. Darauf stand eine halb leergetrunkene Flasche Mineralwasser. War ihr Hals das Letzte, was Frau Zulaufs warme Lippen berührt hatten? Tranken alte Frauen überhaupt direkt aus Flaschen?

      Auf dem Fernseher lag noch die weiße Häkeldecke, da­rauf standen noch zahlreiche Bilder mit Momenten der Vergangenheit, aber nur eines mit einem kleinen Jungen, der blond, stolz und rotbäckig eine Schultüte mit aufgesticktem Teddybären hielt, und dahinter stand auch nur eine Keksdose mit aufgedruckten Weihnachtsmotiven. Birne schätzte, ohne eine Ahnung zu haben, russisch vom Stil her. Er war am Ende seiner Reise. Er rückte das Bild zur Seite, es klappte dabei zusammen. Birne fluchte und brachte es in seiner plötzlichen Aufregung nicht mehr zum Stehen, Birne fluchte noch mal flüsternd und ließ es dann sein. Er griff sich die Keksdose und wäre um ein Haar schon aus dem Wohnzimmer gerannt, als ihm einfiel, dass er zur Sicherheit schauen sollte, ob was drin war, damit der Weg nicht umsonst gewesen war. Sie fühlte sich leer an, und sie war leer, als er reinschaute. Scheiße!

      Doch Raubmord? Kannte Frau Kemal ihren Mann nicht richtig? Sollte er ihr das sagen und sich dann eineinhalb Stunden überreden lassen, noch mal einzudringen und erneut zu suchen? Frauen waren misstrauisch. Die Welt wurde für sie Tag für Tag feindlicher, sie selbst immer schwächer, die Betrüger und Verbrecher immer dreister. Sie hatte das Versteck gewechselt, hatte einen sichereren Ort gesucht und hätte ihn Frau Kemal verraten an einem dieser Tage, wäre ihr nicht ein Messer in die Brust gefahren.

      Birne fand, dass es gescheiter wäre, wenn er weitersuchte, wenn er noch einen Versuch unternahm, bevor er es für heute sein ließe und mit Frau Kemal noch einmal alles reflektierte.

      Birne beschloss, im Schlafzimmer zu suchen. Wieso nicht? Das Bett war kurz, aber für zwei. Dunkles schweres Holz, Bauernmöbel. Gut, dachte Birne, dass er das nicht hatte reintragen müssen. Die Kissen waren weiß bezogen, das Bett gemacht. Über dem Bett hing – ebenfalls sehr rustikal – ein Gemälde von Mutter Maria, die ihrem Jesuskind an ihrer Brust zu trinken gab. Ihr Kleid war aus so dünnem hellblauem Stoff, dass man darunter den Nippel der anderen, der nicht säugenden Brust erkennen konnte. Die Alten, dachte Birne. Dem Bett gegenüber befand sich ein schwerer Bauernschrank, neben dem Bett stand ein Nachtkasten. Dessen oberste Schublade öffnete Birne und fand beim Durchwühlen ein Gotteslob und einige Sterbebilder, alte Bekannte, die Frau Zulauf vorausgegangen waren, wahrscheinlich alle unter friedlicheren Bedingungen. Aber kein Geld, kein bares. Aber was hatte Birne erwartet? Drei Millionen Euro in kleinen, nicht nummerierten Scheinen?

      Er bekam nicht die Gelegenheit, die zweite, die untere Schublade zu öffnen und eventuelle Millionen dort zu entdecken, denn es erklang ein Geräusch, dem Birne zuerst nicht glauben wollte, und das er für eine akustische Täuschung halten wollte. Aber so weit konnte selbst er sich nicht täuschen, ohne als Trottel da zu stehen: Das Geräusch kam von draußen, von der Tür, und klang nach einem Wohnungsschlüssel, der im Schloss gedreht wurde. Es kam jemand herein, und Birne war hier in einer fremden Wohnung und hatte seine Hand auf einem Gotteslob in der Schublade einer Dame.

      Birne schloss die Augen und wusste, dass ihm jetzt was einfallen musste, dass er vielleicht noch eine kleine Chance hätte, ohne tödliche Erklärungen hier rauszukommen. Er hörte, wie jemand die Tür öffnete, und er hörte die Stimme eines Mannes, der in die Wohnung kam und sich mit jemandem unterhielt. Er konnte kein Wort verstehen.

      Man konnte, was folgte, für eine dumme Idee halten, die dümmste vielleicht, die man haben könnte, wenn einem so etwas passierte, was Birne gerade geschah, das wusste Birne selbst und auch in diesem Moment, aber er hatte auch keine Zeit zu überlegen und kaum eine Wahl, auch wenn man es von außen betrachtete: Birne ließ die Schublade offen und stürzte beinahe geräuschlos zum alten Schrank, riss ihn auf, tauchte in hängende Kleider einer alten Dame ein, und zog, quasi noch in dieser Bewegung und ohne zu fürchten, da drinnen ersticken zu können, die Schranktür hinter sich zu. Bevor es dunkel um ihn wurde, nahm er noch wahr, dass die Stimme, die der ersten antwortete, die einer Frau war. Das hielt er aus irgendeinem Grund für ein gutes Zeichen.

      Es begann eine Zeit des Wartens, die nicht lang sein konnte, die Birne aber freilich so vorkam. Die anderen in der Wohnung mussten irgendwo, entweder in der Küche oder im Wohnzimmer sein. Sie hatten wie er einen Schlüssel, mussten aber nicht unbedingt wie er auf Geld aus sein. Sie könnten Mörder sein. Dann hätte Birne ein Problem. Er steckte zwischen Frauenkleidern und starrte auf einen kleinen Spalt, durch den Licht fiel, durch den er nichts erkennen und hören konnte. Ihn überkam Verzweiflung und er wäre gern ein Stockwerk höher und allein gewesen, um zu fluchen und zu weinen.

      Und diese Verzweiflung war es, die ihm den Trieb in den Kopf pflanzte, etwas zu unternehmen, die Angst, dass die draußen nie mehr verschwinden könnten. Oder schon weg waren und er hier seine Nerven grundlos ruinierte. Er öffnete vorsichtig die Tür und erschrak darüber, dass sie furchtbar knarrte. Hatte sie das in seiner Eile auch schon getan? War er bereits verraten? Er stieß sie beherzt auf und tat zwei Schritte zur Tür und gleich darauf begann sein Herz zu rasen, weil er die Stimmen wieder hörte, diesmal wie zum Greifen nah vor ihm und jedes Wort verständlich: Die anderen standen vor der Schlafzimmertür.

      »Und was machen wir mit dem da?«, fragte die Frau, und ihr Akzent verriet ihre Herkunft aus dem Osten.

      »Weiß nicht. Sperrmüll, oder?« Das war der Mann.

      Dann war es wieder still, eine Ruhe, die Birne nicht genießen konnte. Er saß in der Falle. Langsam schlich er zurück zum Schrank und rechnete jeden Moment damit, dass die Zimmertür sich öffnen würde und die beiden ihn erwischten. Aber dort blieb es still, auch als Birne wieder in sein Loch zurückkroch. Hatten sie ihn gehört? Waren sie jetzt auch leise, um ihn zu überraschen? War die Frau schon in der Küche und telefonierte mit der Polizei?

      Als Birne seine Tür zuzog, sah er noch, wie sich vorsichtig die des Zimmers öffnete. Die hatten ihn gehört, die wollten ihn überwältigen. Er wagte es nicht, seine Tür ganz zu schließen aus Angst, ein Knarren zu verursachen und er wollte einen Spalt haben und sehen, was auf ihn zukam.

      Der Mann trat herein, ein blonder Sportler, schon im T-Shirt zu dieser frühen Jahreszeit. Er sagte übertrieben laut: »Das hier ist das Schlafzimmer, hier drin könnten Antiquitäten sein. Da würde ich gern mal schauen, wie viel wir dafür bekommen könnten.«

      »Aha«, sagte die Frau und kam hinter ihm ins Zimmer, und Birne wäre fast das Herz stehen geblieben: Das war seine heimliche Liebe aus dem Fitnessstudio, der Mann ihr Freund oder Mann. Birne blieb das Herz nicht stehen, aber ihm rutschte die Hand nach hinten aus, er schlug mit ihr an die Rückwand des Schranks, Gummi auf Holz. Das mussten sie gehört haben. Birne meinte, dass sie zuckten. Seine Schöne schaute zum Schrank und gleich wieder weg. Die wussten, dass er da war, und hatten vereinbart, ihn zu überraschen. Birne fühlte, dass er verloren war. Und er fühlte hinter sich etwas, durch den Gummihandschuh: Die Rückwand war locker an einer Stelle, die ließ sich zur Seite schieben. Birne schob ein Stück, weil er sich schon aufgegeben hatte, und langte auf einmal in Geldscheine. Er hatte es geschafft, er hatte das Versteck gefunden. Unmöglich zu schätzen, wie viel das war, aber sicher nicht wenig. Es war nicht abenteuerlich abwegig, hier Geld zu deponieren, aber man musste drauf kommen. Hätte man Birne nicht gestört, hätte er es nicht gefunden. Da war er sich sicher.

      Der Mann riss den Schrank auf und packte Birne am Kragen. Er schrie dabei wie ein Blöder, er riss ein paar Kleider vom Haken, als er Birne ans scheußliche Licht zerrte. Er boxte Birne in die Seite und warf ihn aufs Bett und ließ seine Faust auf Birnes Rücken fallen, dass ihm die Luft wegblieb. Birnes Kopf wurde an den Haaren zurückgerissen, und dann spürte er das kalte Metall eines Küchenmessers an seiner Kehle. Das war’s, dachte er, gleich wird’s warm um den Hals herum und Nacht.

      »So Freundchen, ein Mucks und dir geht’s wie meiner Oma.« Birne atmete nur noch in kurzen kleinen Stößen.