Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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8a. Der Gutshof wurde 1930 abgerissen, nachdem in den Jahrzehnten zuvor bereits weite Teile des zu dem Anwesen gehörenden Landes veräußert worden waren. Die Bergwerksgesellschaft Consolidation pachtete zunächst das „Kampholz“, eine zehn Morgen große Waldflur, um dort 1863 den ersten Schacht abteufen zu lassen. Den Wald kaufte der Industrie-Pionier und Gründer von „Consol“ Friedrich Grillo für 1.200 Taler und ließ ihn zu Grubenholz verarbeiten. Später erwarb das Unternehmen Ländereien des Gutshofs, die infolge der Unterhöhlung durch den Bergbau bereits abgesunken waren, um kostspielige Prozesse wegen Bergschäden abzuwenden. Weiteren Grund und Boden veräußerte der Besitzer von Haus Goor, der Herzog von Arenberg, der das Anwesen 1847 von den Grafen zu Seyssel d’Aix erworben hatte, an die Bergwerksgesellschaft: Hibernia (für ihre Zeche Wilhelmine-Viktoria) und an die Firma Wirtz & Co., die auf dem Gelände an der damaligen Feldstraße eine Verzinkerei, eine Eisenbauanstalt und eine Wellblechfabrik errichtete. Am 2. Oktober 1907 erwarb die Stadt Gelsenkirchen für 136.000 Mark den Rest des Gutes, nachdem die Zeche Wilhelmine-Viktoria, die Staatseisenbahn sowie die Kanalbehörde schon zuvor weitere Teile gekauft hatten. Auf dem städtischen Gelände an der Grothusstraße wurde drei Jahre später mit der Errichtung des Zentralschlachthofs begonnen, dessen Gebäude heute noch vorhanden sind und seit dem 24. Dezember 1987 unter Denkmalschutz stehen.

      * * *

      Von der einst blühenden Schalker Schwerindustrie sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts nur noch verstreute Spuren geblieben. Mit den Montanbetrieben und Zechen verschwunden ist das von ihnen seit Mitte des 19. Jahrhunderts geprägte Erscheinungsbild des einstigen Dorfes Schalke, zu dem die Fördergerüste der Schächte I/VI und II/VII des Bergwerks Consolidation ebenso gehörten wie die Schornsteine der Herdfabrik Küppersbuch & Söhne, die Hallen des Blechwalzwerks Grillo-Funke & Co., des Drahtwalzwerks Boecker & Cie. und der Gewerkschaft Schalker Eisenhütte samt ihren Zulieferbetrieben.

      Verschwunden sind auch die düster-trostlosen Arbeitersiedlungen, etwa die von den Einheimischen spöttisch „D-Zug“ genannten Zechenwohnungen in der Gewerkenstraße. Dass die Realität vor Ort dem von den Werbern der Zechen und Fabriken angepriesenen Paradies auf Erden nicht ganz entsprach, merkten die Neuankömmlinge spätestens bei ihrer Ankunft in Gelsenkirchen. Während der Zug in den Bahnhof einfuhr, sahen sie in der Ferne die Schalker „Skyline“ aus rauchenden Schloten und Fördergerüsten. Vom Bahnhof ging es mit dem Pferdefuhrwerk weiter, und nach einer halben Wegstunde fiel ihr Blick aus nächster Nähe auf die grauen, verrußten Arbeiterquartiere, die nicht, wie in den Werbeaufrufen verheißen, „von Feldern, Wiesen und Wäldern“ umgeben waren und auch nicht „wie ein masurisches Dorf“ aussahen, geschweige denn mit „guter Luft“ aufwarteten.11 In seinem Buch Die Königsblauen hat Wilhelm Herbert Koch die bedrückenden Wohn- und Lebensverhältnisse der Industriearbeiterschaft: an der Ruhr eindringlich geschildert:

      „Die Wohnungen waren primitiv [...]. Der Wasserkran mit einem Emaillebecken lag auf dem Flur, Zufluss und Ausguss zugleich, er mußte mindestens zwei, wenn nicht sogar drei Familien versorgen. Die Toiletten, Plumpsklos natürlich, standen im Hof [...]. Badezimmer gab es nicht, dazu mußte am Samstag das ,Pullefaß‘ dienen. Von Wohnlichkeit keine Rede, die Kinder zu mehreren im Schlafzimmer. Von Wohnen im Grünen wurde nicht gesprochen, die zwei-, drei- oder viergeschossigen Häuser wurden dorthin gestellt, wo die Schwerindustrie gerade noch Platz ließ. [. ] Auf dem Hof waren auch die Stallungen, aus Brettern zusammengenagelt, für die Hühner, die Kaninchen und meistens auch für das Schwein und die Ziege [...]. Hinter dem Hof lag durchweg noch ein Stück Gartenland für Kartoffeln und Gemüse.“

      Das Leben in diesem Schattenreich der Industrie stand in starkem Kontrast zur gründerzeitlichen Prachtentfaltung in den repräsentativen öffentlichen Bauten am Kaiserplatz, in den Fabrikantenresidenzen und Beamtenvillen entlang der Kaiserstraße oder in den gediegenen Bürgerhäusern am Möntingplatz mit seinen Schatten spendenden Bäumen und Schmuckrabatten. Arbeiter und ihre Familien „verirrten“ sich allenfalls in die Schalker Straße, wo sich Geschäfte, Gaststätten und Kneipen aneinanderreihten, die ihren Besuchern für eine Weile Zerstreuung und Ablenkung vom tristen Alltag boten.

      Diesem alten Schalke der Gründerzeit machten die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, der mit der Kohle- und Stahlkrise Ende der 1950er-Jahre einsetzende Prozess der De-Industrialisierung sowie die radikale Stadtsanierung seit den 1960er-Jahren, welche die urbane Wohn- und Lebensqualität rigoros den Erfordernissen der neuen automobilen Mobilität unterordnete, den Garaus.

      Die ökonomische Dauerkrise der vergangenen Jahrzehnte hat darüber hinaus ein Prekariat entstehen lassen, das sich die streckenweise zu Elendsquartieren verkommenen einstigen gutbürgerlichen Straßenzüge Schalkes heute mit Bewohnern unterschiedlicher ethnischer Herkunft und religiöser Prägung teilt. Allen Bewohnern gemeinsam ist, dass sie, im Gegensatz zu den als Arbeitskräfte für eine prosperierende Industrie händeringend gesuchten Zuwanderern der Elterngeneration von Kuzorra & Co., kaum eine Chance haben, sich auf einem stark geschrumpften und hart umkämpften Arbeitsmarkt zu etablieren. Mit dem Ergebnis, dass in Schalke, nicht anders als in anderen von der Deindustrialisierung besonders schwer getroffenen Quartieren, wie etwa Duisburg-Marxloh, Parallelgesellschaften entstanden sind, deren kriminelle Elemente versuchen, sich dem regulierenden behördlichen Zugriff zu entziehen, ohne dabei auf staatliche Transferleistungen verzichten zu wollen.

      Seit einiger Zeit gibt es Versuche, der inneren wie äußeren Verwahrlosung des Stadtteils nicht nur durch Quartiersmanagement, sondern auch durch das Beschwören der großen Tradition des Fußballvereins Schalke 04 entgegenzuwirken. Alte wie neue Bewohner sollen angeregt werden, sich mit „ihrem“ Stadtteil zu identifizieren, während die Rückbesinnung auf eine große Vergangenheit ihnen zugleich ein neues Selbstbewusstsein vermitteln soll. Ob dem „toten“ Stadtteil damit auf Dauer neues Leben eingehaucht werden kann, bleibt angesichts der übermächtigen Zeichen fortgesetzten Verfalls abzuwarten.

       Traditionsmeile und Mythos-Touren

      Ein eindrucksvolles Bekenntnis zum Stadtteil Schalke ist die vom Supporters Club im Jahr 2011 mit Unterstützung des Vereins, der Stadt Gelsenkirchen und der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG (Bogestra) initiierte Schalker Meile entlang der Kurt-Schumacher-Straße zwischen Berliner Brücke und Glückauf-Kampftahn auf exakt der Länge einer englischen Meile. Als „Meile der Traditionen“ ist sie gleichermaßen vergangenheitsbezogen wie zukunftsorientiert, erinnert an die glorreiche Zeit der Königsblauen und fungiert als Stadtentwicklungsprojekt. „Viel zu wenige kennen den Mythos vom Schalker Markt wirklich“, so Olivier Kruschinski von den Supporters, Initiator des Quartiersbüros Schalker Meile. „Wir wollen die Schalker Meile wieder mit Leben füllen und sie zum Treffpunkt für möglichst viele Schalker vor den Spielen unserer Mannschaft machen.“

      Inzwischen tragen zahlreiche Geschäfte blau-weiße Namenszüge, wurden Schaufenster leer stehender Ladenlokale mit historischen Vereinsfotos geschmückt, winden sich blau-weiße Banderolen um die Abspannmasten der Oberleitung. Die Haltestelle Uechtingstraße heißt nun „Schalker Meile“.

      Kraft schöpfen aus der Vergangenheit, um die triste Gegenwart zu bewältigen und die Zukunft zu gestalten, könnte als Motiv hinter der Schalker Meile stehen. Oder, wie Schalkes Ex-Präsident Günter Siebert es ausdrückte: „Wer keine Vergangenheit hat, wird nie eine Zukunft haben.“

      Dieses Motto gilt auch für die seit mehr als zehn Jahren von Kruschinski angebotenen Mythos-Touren durch den Ortsteil Schalke. Sie führen zu den Stationen der Schalker Vereinsgeschichte bzw. zu Gedenktafeln für nicht mehr existierende Orte: „Nur wer versteht, woher wir kommen, nur wer unsere - seine eigene - Identität kennt, der versteht auch, warum wir so sind, wie wir nun einmal sind“, so Kruschinski. Der räumt freimütig ein, dass viele Schalker Fans, was den Ort Schalke betriffi, heute genauso ahnungslos sind wie weiland Schwedens König Gustav V., der von Ernst Kuzorra, als dieser mit der deutschen Nationalmannschaft im September 1928 auf Länderspielreise in Schweden weilte, am Rande einer Audienz wissen wollte, wo denn dieses Schalke liege. Kuzorras Antwort Anne Grenzstraße, Majestät gehört möglicherweise ebenso ins Reich der Legenden wie so viele andere Äußerungen des Schalker Kapitäns. Die Unwissenheit, was den Ort Schalke und damit die Herkunft des Vereins betriffi, dürfte indes damals wie heute ähnlich