Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

Читать онлайн.
Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



Скачать книгу

die gerade bei den Masuren eine Reduzierung des polnischen Sprachgebrauchs als Fernziel bereits in den Statistiken vorwegnahm“ (Kossert). Zu dieser „Abnahme“ passen die Zahlen aus der Studie von Stefan Goch und Norbert Silberbach Zwischen Blau und Weiß liegt Grau, wonach es im Jahr 1906 57.968 Masuren im Ruhrgebiet gab, von denen 15.854 in Gelsenkirchen lebten. Hier kann es sich dann ebenfalls nur um die Masuren mit „masurischer“ Muttersprache gehandelt haben.

      In Masuren selbst war das Verhältnis von polnischsprachigen und masurischsprachigen Bewohnern regional sehr unterschiedlich. Während nach der Volkszählung des Jahres 1900 im Landkreis Ortelsburg 43,3 Prozent der Bewohner masurisch und 31,1 Prozent polnisch sprachen, lag das Verhältnis des Masurischen zum Polnischen im Landkreis Neidenburg bei 31,7 zu 37,6 Prozent, im Landkreis Osterode bei 10,9 zu 33,0 Prozent.

      Das Zentrum der masurischen Migration in den Westen des Reiches war Gelsenkirchen, das zum Ziel von Auswanderern aus dem Landkreis Ortelsburg wurde. Migranten aus den Landkreisen Neidenburg und Soldau konzentrierten sich auf Wattenscheid, die Osteroder auf Bochum und die Lötzener auf Wanne. Die Stadt Gelsenkirchen, der 1903 der Amtsverband Schalke angegliedert wurde, der seinerseits 1876 aus dem Dorf Schalke sowie den Gemeinden Bulmke, Heßler, Hüllen und Braubauerschaft (ab 1902 Bismarck) gebildet worden war, hieß im Volksmund „Klein-Ortelsburg“. In Kuzorras Geburtsjahr 1905 waren 26,3 Prozent der Gelsenkirchener Bevölkerung in den deutschen Ostprovinzen geboren, im Jahr 1924 waren es noch 22,13 Prozent. Dieser Rückgang erklärt sich daraus, dass die noch in Ostpreußen Geborenen in ihrer neuen Heimat Kinder bekamen, die nur noch über die Abstammung und nicht qua Geburt mit Ostpreußen verbunden waren, sodass der Anteil der Ersteren zwangsläufig zurückging. Eine neuere Chronik Gel- senkirchens kommt daher zu dem Schluss, „daß wenigstens jeder dritte Einwohner Gelsenkirchens herkunftsmäßig an Ostpreußen gebunden ist“.

      Was die Herkunft der Bevölkerung Schalkes betriffl, so waren im Jahr 1900 24,27 Prozent in Ostpreußen, Westpreußen und Posen geboren. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass „53,19 % aller [Schalker] Einwohner in Westfalen geboren waren, bedeutet dies, dass 52,60 % der außerhalb Westfalens gebürtigen Schalker Bevölkerung aus dem Osten stammte“ (Gehrmann, „Fußball in einer Industrieregion“). Dabei ist zu berücksichtigen, dass, wie im Falle Gesamt-Gel- senkirchens, auch in Schalke ein hoher Anteil der in Westfalen Geborenen seine Wurzeln in den deutschen Ostprovinzen hatte, sodass der tatsächliche Anteil der Bevölkerung mit nichtwestfälischen Wurzeln noch bedeutend höher gewesen sein dürfte. Legt man die Kirchenbücher der evangelischen Gemeinde im Stadtteil Schalke zugrunde, so ergibt sich für das Jahr 1900, dass 39 Prozent der Personen, die zwischen 1894 und 1914 eine Ehe eingingen, aus Ostpreußen, und das heißt zum überwiegenden Teil aus Masuren, stammten. Für den benachbarten Gelsenkirchener Stadtteil Rotthausen ergibt sich sogar ein Wert von 48 Prozent.

      Die Belegschaft des größten Schalker Arbeitgebers, des Bergwerks Consolidation, umfasste laut einer Erhebung vom 31. Dezember 1899 zu 55,3 Prozent „fremd- oder gemischtsprachige Arbeiter, d. h. solche, die nur polnisch oder neben deutsch auch polnisch sprachen“. Damit gehörte „Consol“, wie auch die benachbarten Gelsenkirchener Schachtanlagen Hibernia (50,1 %), Wilhelmine Victoria (52,2 %) und Graf Bismarck (71 %), zu den 19 sogenannten Polenzechen im Ruhrgebiet, deren Belegschaften zu mehr als der Hälfte aus fremd- oder gemischtsprachigen Bergleuten bestanden.

       In der neuen Heimat

      Parallel zur Abteufung von Schacht II der Zeche Consolidation wurde 1872 die erste Bergarbeiterkolonie in Schalke errichtet, und 1913 konnte „Consol“ seinen 7.100 Beschäftigten immerhin bereits 1.100 werkseigene Wohnungen bieten. Diese Wohnungen verfügten über vier Zimmer und kosteten drei Schichtlöhne, etwa 15 Reichsmark, monatlich an Miete.

      Doch nicht nur mit günstigem Wohnraum versuchten die Werbeagenten der Unternehmen, die Menschen ins Ruhrgebiet zu locken, sondern auch mit dem Versprechen, dass sie in ihrer neuen Heimat, quasi als Entschädigung für die ungewohnte Tätigkeit und die ungewohnten Arbeitsbedingungen, zumindest ähnliche Lebens- und Wohnverhältnisse sowie ein ihrer jeweiligen Herkunftsregion ähnliches soziales und kulturelles Umfeld vorfänden. Auf diesen letzteren Punkt wies der eingangs zitierte „Masurenaufruf“ nachdrücklich hin. Besonders betont wurde, dass die Zuwanderer in der neuen, ihnen fremden Umgebung, die im Fall der Masuren „ganz wie ein masurisches Dorf“ sei, ausschließlich unter Landsleuten leben würden, also unter Menschen gleicher Sprache und gleicher soziokultureller Prägung. Aus Sicht der strenggläubigen evangelischen Masuren besonders wichtig war die Zusicherung, dass sie nicht in Kontakt mit katholischen Polen kämen. Damit war eine künftige Ghettobildung in den isolierten, in unmittelbarer Nähe der Schachtanlagen oder sonstigen Betriebe errichteten Werkssiedlungen fernab der alten, gewachsenen Dörfer und Bauerschaften zwischen Ruhr und Emscher vorgeprägt.

      Doch was heute angesichts neuer Migrantenströme in den Staaten der Europäischen Union sozialen Sprengstoff birgt, für politische Spannungen sorgt und Populisten rechter Couleur reichlich Zulauf beschert, wurde damals ausdrücklich als Standortvorteil angepriesen und von der Politik gutgeheißen. Im konkreten Fall bedeutete dies: An ihrem Arbeitsplatz arbeiteten die Zuwanderer unabhängig von Herkunft und Abstammung zusammen und wurden Teil der schwerindustriellen Arbeiterschaft, ansonsten aber galt: Masuren blieben unter Masuren, Polen unter Polen, Schlesier unter Schlesiern usw. Eine Vermischung der unterschiedlichen Kulturen fand nicht statt und war weder erforderlich noch erwünscht.

      Der Raum zwischen Lippe und Ruhr wurde daher im Zuge der „größte[n] Binnenwanderung der deutschen Geschichte“ (Hering) keineswegs zu einem „Schmelztiegel“ der Völker und Kulturen. Vielmehr „schuf die überfallartige Industrialisierung eine äußerst vielgestaltige und differenzierte, von sichtbaren räumlichen wie unsichtbaren sozialen, weltanschaulichen, ethnischen und religiösen Trennlinien durchzogene Region“ (Hering).

      Der einheimischen Bevölkerung fiel es angesichts dieser Separierung umso leichter, die Zuwanderer, ob Masuren, Polen oder andere, pauschal als „fremdes Pack“, oder „Gesocks aus dem Osten“ verächtlich zu machen. Diese Ablehnung, die sich eher aus Vorurteilen denn aus eigener Anschauung speiste, verstärkte bei den solcherart Abqualifizierten und Ausgegrenzten die Tendenz zur Abschottung in eigenen Subkulturen, die aufgrund der fremden Umgebung und der im Vergleich zu früheren agrarischen Tätigkeiten ungewohnten Industriearbeit ohnehin vorhanden war. Vor allem die Masuren wurden aufgrund ihrer polnisch klingenden Namen und ihrer dem Polnischen ähnelnden Sprache von Einheimischen und Behörden pauschal mit Menschen polnischer Abstammung gleichgesetzt, mit einer Gruppe also, die in Deutschland traditionell tiefste Verachtung hervorrief. Weil die Zuwanderer aus dem Osten zudem an ihren neuen Arbeitsplätzen eine hohe Leistungsbereitschaft an den Tag legten, dabei aber zugleich, weil an ein anspruchsloses Leben gewöhnt, bereit waren, für weniger als den ortsüblichen Lohn zu arbeiten, schlug ihnen in den Betrieben oft die Feindschaft der angestammten Belegschaft entgegen, die die Neuen als „Kriecher und Lohndrücker“ (Urban) verachtete.

      Selbst linksgerichtete Presseorgane schürten die Vorbehalte gegen die Zuwanderer aus dem Osten. So stellte das sozialdemokratische Bochumer Volksblatt sie in seiner Ausgabe vom 23. April 1907 als Menschen dar, die „aus der Pollackei hergeschleppt“ worden seien und die „erst vor kurzem die Mistgabel, ihr bisheriges Handwerkszeug, fortgelegt“ hätten. Hintergrund war die im Anschluss an die vom Militär blutig niedergeschlagene „Herner Polenrevolte“ erlassene „Bergpolizeiverordnung des Königlichen Oberbergamtes Dortmund“ von 1899, die unter Verweis auf zahlreiche Arbeitsunfälle „unter Polen“ eine Weiterbeschäftigung von Zechenarbeitern nur bei ausreichenden Deutschkenntnissen erlaubte. Die Verordnung betraf allerdings auch die zugewanderten Masuren, von denen viele nur sehr schlecht oder gar kein Deutsch sprachen. Dabei ging es wohl weniger um die Sicherheit am Arbeitsplatz als darum, dem Unmut derer entgegenzuwirken, die sich beschwerten, dass kürzlich zugewanderte Ostmigranten als Vollhauer beschäftigt würden, während Einheimische jahrelang als Schlepper oder Lehrhauer arbeiten müssten.

      Möglicherweise schmollte die Bochumer SPD-Zeitung aber auch, weil die Migranten aus dem Osten sich als resistent gegenüber den organisatorischen Bestrebungen der linksgerichteten Arbeiterbewegung erwiesen. So organisierten sich etwa die sehr traditionell eingestellten Masuren, wenn überhaupt, lediglich in den von Arbeitgebern und der evangelischen