Название | Ernst Kuzorra |
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Автор произведения | Thomas Bertram |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783730705728 |
Die erste Akkulturation der Masuren im Ruhrgebiet vollzog sich daher hauptsächlich über die evangelische Masurenseelsorge. Im Jahr 1898 lebten schätzungsweise 25.600 erwachsene Masuren im Ruhrgebiet, die sich auf zwölf Kirchengemeinden verteilten, an deren Gemeindeleben sie in der fremden Umgebung regen Anteil nahmen. So besuchten am Karfreitag 1912 in Gelsenkirchen und Schalke 1.000 Masuren die in polnischer Sprache abgehaltene Abendmahlsfeier. Auch an der Weihnachtstradition der Jutrznia (Frühpredigt) wurde in der Schalker Kirche festgehalten:
„Kopf an Kopf stand die Menge in allen Gängen und Portalen, auf den Kanzel- und Altarstufen bis obenhin saßen die Angehörigen. [...] Und dann der Gesang aus dieser Gemeinde! Wie brauste es durch das Gotteshaus, daß schon allein hiervon die Herzen erfaßt und bewegt wurden!“,
frohlockten die Heimatgrüße in ihrer Ausgabe vom 9. September 1912.
Natürlich verfolgte die Masurenseelsorge ihre ganz eigene Agenda, die auf einer Linie mit der staatstreuen Grundhaltung des deutschen Protestantismus lag. So sah der bereits erwähnte Gelsenkirchener Pfarrer Mückeley die Aufgabe der kirchlichen Arbeit darin, „die Masuren vor den negativen Einflüssen in einer fremden Umgebung zu bewahren“, die für den Seelsorger in „Trunksucht, der Verwahrlosung, der Gottentfremdung“ bestanden, außerdem gelte es, die „Lockungen des Polentums, der Sozialdemokratie und der Sekten“ abzuwehren. In Preußens „Wildem Westen“ ähnelten die Masuren den Pionieren der amerikanischen Frontier, wenn sie sich im Streben nach Geborgenheit und Sicherheit an Althergebrachtes, die eigene Familie, die eigene Kultur und den eigenen Glauben klammerten.
Das Industriedorf Gelsenkirchen
Im Jahr der Stadtwerdung 1875 zählte die Gemeinde Gelsenkirchen mit den heutigen Stadtbezirken Altstadt und Neustadt 11.282 Einwohner. In dem nördlich gelegenen Dorf Schalke lebten im selben Jahr 7.828 Menschen. Zahlreiche neue Zechen- und Werksgründungen, deren Arbeitskräftebedarf aus der einheimischen Bevölkerung längst nicht mehr gedeckt werden konnte, sorgten für einen stetigen Zustrom von Migranten. In die Jahre 1880 bis 1910 fiel der Höhepunkt der masurischen Zuwanderung ins Ruhrgebiet. Die rasante Industrialisierung und das damit einhergehende Bevölkerungswachstum beschleunigten in den kommenden Jahrzehnten die Entwicklung einst unbedeutender Bauer- schaften zu städtischen Gemeinwesen.
Als Alt-Gelsenkirchen im Jahr 1903 mit dem Amt Schalke, bestehend aus Schalke, Heßler, Braubauerschaft, Bulmke und Hüllen, sowie der Gemeinde Ückendorf zusammengelegt wurde, verfügte die neue Großstadt auf einen Schlag über 138.098 Einwohner und zählte, gemessen an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft, zu den größten Städten des Deutschen Reiches. Vier Jahre später lebten bereits 154.585 Menschen im Raum Gelsenkirchen, von denen 59.612 aus der Stadt selbst, 44.019 aus Rheinland und Westfalen, 3.496 aus Hessen-Nassau, Hessen und Waldeck, 34.325 aus Ost- und Westpreußen und Posen, 10.432 aus anderen Teilen des Deutschen Reiches und 2.701 aus dem Ausland stammten. Zudem ist davon auszugehen, dass unter den 59.612 gebürtigen Gelsenkirche- nern des Jahres 1907 bereits viele Zuwanderer der zweiten Generation waren.
Die Neuankömmlinge wurden von der Aussicht auf Arbeit und den im Vergleich zum Reichsdurchschnitt erheblich höheren Löhnen im Bergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie an die Ruhr gelockt. In der neuen Umgebung blieben sie weitgehend unter sich, ihre sozialen Aktivitäten entfalteten sich streng getrennt nach landsmannschaftlicher Zugehörigkeit und Konfession, etwa in kirchlichen Vereinen und Bruderschaften, deren Ziel Geselligkeit, Brauchtumspflege, Rechtshilfe, Musik oder Bildung waren. Die plötzlich zu Großstädten mutierten Dörfer und Bauerschaften fingen gerade erst an, eine ihrer Bevölkerungszahl entsprechende soziokulturelle Infrastruktur aufzubauen. In ihrem Kern blieben sie Dörfer, in deren Umgebung sich industrielle Betriebe ansiedelten, deren Belegschaften in isolierten Kolonien ohne Anbindung an gewachsene Siedlungsstrukturen lebten.
Ein solches „Industriedorf“ war auch die Großstadt Gelsenkirchen, deren wirtschaftliche Bedeutung längst über den ursprünglichen dörflichen Rahmen hinauswies. Im Jahr 1897 förderten im Stadt- und Landkreis Gelsenkirchen 30.112 Bergleute, die etwa ein Zehntel der Gesamtbelegschaft aller Zechen im Staat Preußen ausmachten, gut ein Zehntel der preußischen Gesamtproduktion an Steinkohle. Die bunt zusammengewürfelte, wenig selbstbewusste Einwohnerschaft identifizierte sich zu dieser Zeit noch längst nicht mit „ihrem“ Gemeinwesen, das eine der für das Ruhrgebiet der Hochindustrialisierungsphase typischen Gemengelagen aus Industriebetrieben, Versorgungsleitungen, alten Dorfcernen, neuen Werkssiedlungen, Straßen- und Schienenwegen aufwies. Noch drückten Stahlmagnaten und Bergwerksherren den im Schatten der Industrieanlagen ungebremst wachsenden Gemeinden ihren Stempel auf. Und deren Siedlungspolitik orientierte sich am Wohl des Unternehmens, nicht dem der Gemeinde, in deren Nachbarschaft es sich niedergelassen hatte. Dabei suchten die Firmen durch die Koppelung von Arbeits- und Mietverträgen Arbeiter längerfristig zu binden und zu disziplinieren, um auf diesem Wege die starke Fluktuation teils ganzer Belegschaften einzudämmen. Diesem Zweck dienten auch Unterstützungskassen, Konsumvereine und andere Einrichtungen betrieblicher Fürsorge. Erst allmählich entwickelten sich von unternehmerischen Eigeninteressen unabhängige städtische Strukturen, entstand eine leistungsfähige kommunale Verwaltung.
Am 15. Mai 1847 erhielt Gelsenkirchen in unmittelbarer Nachbarschaft der Zeche Hibernia, in der Nähe des Siedlungsschwerpunkts Wiehagen, seinen ersten Bahnhof. Es war eine sogenannte Durchgangsstation, die erst 17 Jahre später, am 9. Dezember 1864, den Namen „Bahnhof“ erhielt. Von hier aus verteilten sich im 19. Jahrhundert die Zuwandererströme auf die „Industriedörfer“ der Umgebung. Vom Bahnhof führte ein etwa 700 Meter langer Trampelpfad zum eigentlichen „Stadtkern“, dem alten Dorf Gelsenkirchen. Ab 1895 verkehrte hier eine elektrische Straßenbahn, die den Pferdeomnibus ablöste und, von Schalke kommend, weiter bis nach Bochum fuhr, bis 1910 eingleisig, danach bis 1941 zweigleisig, bevor die Straßenbahn in die parallel verlaufende Husemannstraße verlegt wurde.
Im Jahr 1904 wurde mit dem Bau eines repräsentativen Bahnhofsgebäudes begonnen. Der Neubau, der die Bahn näher an die wachsende Stadt rückte, war keineswegs unumstritten. Bürgermeister Friedrich Wilhelm Vattmann sprach sich im tiefsten westfälischen Platt vehement gegen das Projekt aus: „Nää, wi wollt den groten Bahnoff nich hebben. Dann kumm al die slechten Lüe nach Cheskerenk. Die wollt wi nich.“ So fern die Sprache heute erscheint, so aktuell ist die Argumentation.
Die bis dahin ebenerdig quer über den Bahnhofsvorplatz verlaufende Bahntrasse wurde im Zuge des Bahnhofsneubaus höher gelegt, unterhalb der Bahnsteige verband fortan eine Unterführung die bislang von den Gleisen zerschnittenen Bezirke Altstadt und Neustadt. Das lichtdurchflutete Bahnhofsrestaurant gab sich luxuriös und großstädtisch, in gediegenem Ambiente samt Palmen und holzgetäfelter Decke konnten Bahnreisende sich die Wartezeit mit Speisen und Getränken verkürzen. Seit 1906 verfügte die neue Station, die sich nun „Hauptbahnhof“ nannte, auch über ein Kino, die „Bahnhofs-Lichtspiele“.
Aus dem unbefestigten Feldweg zwischen Bahnhof und altem Dorf wurde die Bahnhofstraße, die auf Betreiben des Industriellen Heinrich Mönting („Vater der Bahnhofstraße“) zur Hauptverkehrsachse ausgebaut wurde und sich in Konkurrenz zur Schalker Straße im benachbarten Stadtteil Schalke zur wichtigsten Gelsenkirchener Einkaufsstraße entwickelte. Zahlreiche Kaufleute und Gastwirte siedelten sich hier an. Zeitweise besaß Gelsenkirchen 78 Gaststätten, aber nur 70 Laternen, die ab 1863 die Bahnhofstraße beleuchteten. Dass sie noch bis 1913 dazu diente, Schlachtvieh zum Schlachthof in Rotthausen zu treiben, schmälerte den Glamour der neuen Gelsenkirchener Pracht- und Flaniermeile mit ihren zahlreichen Hotels, Cafés, Warenhäusern und Spezialgeschäften sowie vier Kinos kaum. Im Jahr 1904 öffnete hier Gelsenkirchens bis dato wohl modernstes Gebäude seine Pforten: das von dem Architekten Bruno Paul im Bauhausstil gestaltete Kaufaaus der Firma Sinn, dessen dreigliedrige Schwarzweißfront einen kühlen Kontrast zu den barock-überladenen Fassaden der Gründerzeitbauten auf der Bahnhofstraße bildete. Ein architektonischer Gegenentwurf zum Sinn-Gebäude war das ein Jahr später in der Nähe des alten Dor&erns eröffnete Warenhaus Overbeck & Weller, dessen