Ernst Kuzorra. Thomas Bertram

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Название Ernst Kuzorra
Автор произведения Thomas Bertram
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783730705728



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war, der heute ins soziale und ökonomische Abseits geraten ist. Und weil die Schalker Fans nun schon seit mehr als 60 Jahren sportlicher Berg- und Talfahrten auf die achte Deutsche Meisterschaft warten, verkörpert das alte Schalke, aus dem jene Spieler kamen, die mit ihren Erfolgen den Grundstein für den Mythos Schalke legten, eine Sehnsucht, der die MythosTouren Rechnung tragen. Dabei ist die Begegnung mit der tristen Realität des heutigen Ortsteils Schalke für manchen eher ein schockierendes Erlebnis: „Die Menschen erwarten goldene Bürgersteige, einen Biergarten und einen vierstöckigen Fanshop“, bilanziert Kruschinski seine Erfahrungen mit den Mythos- Tourern. „Dann stehen sie hier und stellen ernüchtert fest: ,Hab ich mir aber anders vorgestellt!‘“ Was den Mythos Schalke nur umso größer macht.

      * * *

      Die Spuren der Gründer des SV Westfalia Schalke, aus dem 20 Jahre später nur wenige Straßen weiter der FC Schalke 04 hervorging, sind längst verblasst und, wie der Rundgang durch den Stadtteil gezeigt hat, nur noch schwer auffindbar. Das Schalke der Hochindustrialisierungsphase, dessen Herz im Takt von Kohle, Eisen und Stahl schlug, das Schalke der pompösen Gründerzeitbauten und trostlosen Arbeitersiedlungen, der eleganten Geschäfte und vornehmen Lokale, aber auch der Bierschwemmen und Kneipen, das Schalke, in dem Ernst Kuzorra aufwuchs, wo er sein ganzes Leben verbrachte und wo er mit seinem Verein die größten Erfolge feierte, existiert heute nicht mehr. Das letzte verbliebene architektonische Zeugnis der Zeit ist die Glückauf-Kampffiahn. Ihre Vorgänger, die Rubens’sche Wiese (heute befindet sich dort das Berufskolleg Königstraße), der Platz an der Taubenstraße (heute Am Maibusch, neben dem Friedrich-Ludwig- Jahn-Stadion) sowie der erste richtige Schalker Fußballplatz an der Grenzstraße (dort steht heute ein AWO-Seniorenzentrum) sind, wie viele Schauplätze der Schalker Fußballgeschichte, verschwunden.

      Dass die Anfänge des Vereins teils im Dunkeln liegen, teils aufgrund fehlender Zeugnisse nur grob rekonstruierbar sind, hat nicht unerheblich zur Entstehung des Mythos Schalke beigetragen. So machte erst die spätere Vereinsgeschichtsschreibung aus der vagen Angabe, dass die Jungs um Willy Gies sich „irgendwann im Jahr 1904“ in der Hauergasse trafen, den 4. Mai 1904 und erkor diesen Tag zum offiziellen Gründungsdatum des FC Schalke 04.12 Doch ein Mythos speist sich aus dem Unbekannten, dem Unerklärlichen, dem Unbegreiflichen, dem Mysteriösen. Das gilt auch für den Schalker Fußballverein: „Plötzlich war er da. Niemand weiß mehr, wann genau, und auch die näheren Umstände wurden seinerzeit nicht schriftlich festgehalten und gerieten allmählich in Vergessenheit“ (Röwekamp). Der Gründungsmythos wird von einer Schalker Generation an die nächste weitergegeben, und mit dem Verschwinden der historischen Orte ist auch der Verein seiner Wurzeln entwachsen und lebt als Mythos weiter. Sportliche Misserfolge, nicht errungene Titel und entgangene Meisterschaften können dem Mythos, der sich einzig aus einer glorifizierten Vergangenheit speist, nichts anhaben.

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      9 Alle Zitate von Willy Gies aus Königsblau, S. 12. Die Geschichte des FC Schalke 04. Sicher ist hier dichterische Freiheit im Spiel, ob das alles damals wortwörtlich so gesagt wurde, mag dahingestellt sein, aber es könnte durchaus genau so gesagt worden sein.

      10 Tatsächlich waren es „nur“ 61.374 Zuschauer, die am 23. April 1904 im Stadion von Crystal Palace das Finale des englischen FA-Cups zwischen Manchester City und den Bolton Wanderers (1:0 durch ein Tor von Billy Meredith, dem „Welsh Wizard“) erlebten. Vgl. Königsblau, S. 12; https://de.wikipedia.org/wiki/FA_Cup#Die_Endspiele_im_.C3.9Cberblick, zuletzt aufgerufen am 20. Juni 2017.

      11 Siehe dazu Kapitel 3.

      12 In Schalkes jüngster Vereinschronik Königsblau wird der 4. Mai 1904 nicht einmal mehr hinterfragt, sondern sogar der damalige Wochentag benannt: ein Mittwoch (S. 10 f.). Es gibt jedoch weiterhin keinerlei schriftliche Aufzeichnungen, die diese Datierung zweifelsfrei belegen.

      3. GO WEST, YOUNG MAN!

       Damals konnte man von unserem Fenster noch bis zur Stadt blicken, so frei war alles.

       Willi Kuzorra

       Preußens „Wilder Westen“

      „Masuren! In rein ländlicher Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen guter Luft, liegt ganz wie ein masurisches Dorf, abseits vom großen Getriebe, eine reizende, ganz neuerbaute Kolonie des westfälischen Industriegebietes. Diese Kolonie besteht vorläufig aus über 40 Häusern und wird später auf etwa 65 Häuser erweitert werden. In jedem Haus sind nur 4 Wohnungen, 2 unten, 2 oben. In jede Wohnung gehören etwa 3 bis 4 Zimmer. [...] Zu jeder Wohnung gehört ein sehr guter und trockener Keller, so daß sich die eingelagerten Früchte, Kartoffeln usw. dort sehr gut halten werden.

      Ferner gehört dazu ein geräumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. So braucht der Arbeiter nicht das Pfund Fleisch oder seinen Liter Milch zu kaufen. Endlich gehört zu jeder Wohnung auch ein Garten von etwa 23 bis 24 Quadratruten. So kann sich jeder sein Gemüse, sein Kumpst und seine Kartoffeln, die er für den Sommer braucht, selbst ziehen. [...] Die ganze Kolonie ist von schönen, breiten Straßen durchzogen, Wasserleitung und Kanalisation sind vorhanden. Abends werden die Straßen elektrisch beleuchtet. Vor jedem zweiten Haus liegt auch ein Vorgärtchen, in dem man Blumen und auch Gemüse ziehen kann. Wer es am schönsten hat, bekommt eine Prämie. [...]

      Masuren, es kommt der Zeche vor allem darauf an, ordentliche Familien in diese ganz neue Kolonie hineinzubekommen. Ja, wenn es möglich ist, soll diese Kolonie nur mit masurischen Familien besetzt werden. So bleiben die Masuren unter sich und haben mit Polen, Westpreußen usw. nichts zu tun.

      Jeder kann denken, daß er in seiner östlichen Heimat wäre. Es gibt Masuren, die bei der Zeche schon lange tätig sind und sich bei der anständigen Behandlung wohl fühlen. Als Beweis wird in Masuren bald ein solcher Arbeiter als Zeuge erscheinen.

      [...] Die Zeche will keinen aus der Heimat weglocken, auch keinen seinen jetzigen Verhältnissen entreißen, sie will nur solche ordentliche Menschen, die in der Heimat keine Arbeit oder nur ganz geringen Verdienst haben, helfen, mehr zu verdienen und noch extra zu sparen, damit sie im Alter nicht zu hungern brauchen. Vorgetäuscht wird durch dieses Plakat nichts; es beruht alles auf der Wahrheit.“

      Mit diesem „Masurenaufruf“ warb die Gewerkschaft Victor im Jahr 1887 in zahlreichen Wirtshäusern der Region im äußersten Osten des Deutschen Reiches in schwärmerischen Tönen um Arbeitskräfte. Bei der auf dem Plakat beworbenen Siedlung handelte es sich vermutlich um die Strittheidekolonie im heutigen Castrop-Rauxeler Stadtteil Bladenhorst.13 Die Gewerkschaft Victor hatte auf dem Gelände der damaligen Dörfer Rauxel und Ickern im Jahr 1872 mit dem Abteufen von Schacht Victor 1 begonnen. Von 1884 bis 1887 wurde dann ein Wetterschacht abgeteuft, und 1887 erwarb August Thyssen Anteile (Kuxe) an der Gewerkschaft. Das Unternehmen expandierte, der Bedarf an Arbeitskräften stieg.

      Auch andernorts im rheinisch-westfälischen Industriegebiet suchten Unternehmen mit solchen und ähnlichen Aufrufen händeringend nach Arbeitskräften. Der Bergbau und die Montanindustrie waren Wachstumsbranchen, das Ruhrgebiet wurde in den 1880er-Jahren Jahren zum Motor der Industrialisierung des neugegründeten Deutschen Reiches. Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das Gebiet zwischen Rhein, Ruhr und Emscher weitgehend agrarisch geprägt gewesen und entsprechend dünn besiedelt.

      * * *

      Um 1850 lebten etwa 400.000 Menschen im heutigen Ruhrgebiet, jener Region, die in der Definition des 1920 gegründeten Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk (der sich heute, nach zahlreichen Umbenennungen, Regionalverband Ruhr, RVR, nennt) die kreisfreien Städte Bochum, Bottrop, Dortmund, Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Hagen, Hamm, Herne, Mülheim an der Ruhr und Oberhausen umfasste sowie die Kreise Recklinghausen, Unna, Wesel und den Ennepe-Ruhr-Kreis, die den heutigen Landesteilen Rheinland und Westfalen des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen angehören.

      Die Landschaft ähnelte der des Münsterlandes oder der Soester Börde. Dörfer, Bauerschaften und Einzelgehöfte