Cowboys & Indies. Gareth Murphy

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Название Cowboys & Indies
Автор произведения Gareth Murphy
Жанр Книги для детей: прочее
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Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862871612



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nun mal auf der Tagesordnung. Wer Gospel sang und zur Kirche ging, hatte in dieser tiefreligiösen Umgebung einen Freifahrtschein in den Himmel. Wer hingegen den Blues spielte und ein Leben in Sünde führte, steckte mit dem Teufel unter der Decke und musste in die Hölle.

      Auf der Suche nach ausdrucksstarken Bluesmusikern fuhr Speir kreuz und quer durchs Hinterland, suchte auch in den benachbarten Bundesstaaten, schaute sich Straßensänger an, besuchte Vollmond-Partys und die Tanzveranstaltungen auf den Plantagen, ja begutachtete sogar die Stimmen der Ansager auf den Bahnhöfen. Auch wenn es überall Talente zu geben schien, so stellte er doch schnell fest, dass er vor allem in der Umgebung von Memphis und New Orleans fündig wurde.

      Glaubte er ein Talent entdeckt zu haben, nahm Speir zwei Songs auf einer Metallscheibe auf und schickte sie zu einer potenziell interessierten Plattenfirma. Um eine entspannte Per­formance zu bekommen, hatte er stets einen ausreichenden Nach­schub an Alkohol zur Hand. Das bevorzugte Gift der Bluesmusiker war in den Jahren der Prohibition entweder Etha­nol, das gewöhnlich als Antiseptikum eingesetzt wurde, oder aber verdickter Brennspiritus, der nach dem Erhitzen eine rauschhafte Wirkung entfaltete.

      Für eine Erfolgsprämie von 150 Dollar brachte er William Harris zu Gennett oder Tommy Johnson zu Ralph Peer. Auf einer Plantage stolperte er 1929 über Charlie Patton, »den Vater des Delta Blues«. Es war ein kleiner Mann mit großer Stimme, der obendrein mehr Songs geschrieben hatte, als sich in einer Session aufnehmen ließen. Das Originalmaterial war, neben dem individuellen Stil, für Speir der wichtigste Faktor – und zwar aus einem ganz banalen Grund: Wenn man einen vielversprechenden Musiker gefunden hatte, setzte man ihn in einen Zug in die nächste Stadt und nahm in einem mobilen Studio eine Handvoll Songs mit ihm auf. Um Speirs Unkosten und die 50 Dollar Musiker-Honorar wieder reinzuholen, brauchten die Plattenfirmen mindestens vier Songs, auf die sie dann das Copyright anmeldeten. Wenn sich die erste Aufnahme zufriedenstellend verkaufte, wurden die anderen Tracks aus der Session gleich nachgeschoben.

      Henry Speirs Entdeckungen lesen sich heute wie das »Who is Who« der frühen Blues-Legenden: Charlie Patton, Robert Johnson, Son House, Jim Jackson, Bo Carter, Skip James, Ish­mon Bracey, Blind Joe Reynolds, Blind Roosevelt Graves, The Mississippi Sheiks, Robert Wilkins und Geeshie Wiley. Er nahm farbige Jazz-Bands auf, weiße Appalachen-Musik mit Gitarre, Banjo und Mandoline oder auch Formationen der Choctaw-Indianer, die im Südosten der USA ansässig waren. Einmal brachte er sogar eine mexikanische Gruppe über die Grenze, um in San Antonio mit ihr ins Studio zu gehen. Die Liste seiner Kunden war entsprechend lang: Neben Paramount wurden Victor, Columbia, Okeh, Brunswick-Vocalion und Gen­nett von Speir beliefert.

      Während Amerika noch immer die Wurzeln seiner musikalischen Identität entdeckte, machte in den Großstädten bereits eine neue Mode Furore: Der ländliche Blues wurde zunehmend vom urbanen Jazz abgelöst – wobei »Jazz« nicht mehr nur einen musikalischen Stil definierte, sondern ein kulturelles Phänomen. Zuerst war es der Charleston, der die Tanzflächen eroberte, dann kam Hollywood mit Al Jolson und »The Jazz Singer«. Es war nicht nur der erste abendfüllende Tonfilm der Filmgeschichte, sondern entpuppte sich 1927 auch als Kinokassen-Knüller schlechthin.

      Die atmosphärische Poesie des Jazz passte perfekt zum Zeitgeist der »Roaring Twenties«. Die provokante »Flapper«-Mode kreierte ein neues Frauenbild, die Sprache der Speakeasys fand ungefiltert ihren Weg in den Mainstream. Allein für den alkoholischen Rausch erfand die Jazz-Generation ein ganzes Arsenal von plastischen Beschreibungen: »blotto«, »fried«, »hoary eyed«, »splifficated«, »ossified« oder »zozzled«. Minderwertiger Bootleg-Schnaps hieß »coffin varnish«, während der Kater am nächsten Morgen mit »heebie jeebies« oder »screaming meemies« umschrieben wurde. Der »vamp« war ein Frauenheld, der »lollygagger« ein leichtes Mädchen, der »cake eater« ein Playboy, der »face stretcher« eine ältere Frau, die sich verzweifelt auf jung trimmt, die »handcuffs« oder »manacles« die Verlobungsringe.

      Der gewiefteste Akteur in New Yorks boomender Jazz-Szene folgte den gleichen Prämissen, die Ralph Peer im Rahmen der Countrymusik aufgestellt hatte. Irving Mills – halb Schlitzohr, halb Visionär – hatte gelernt, dass im Zeitalter des Radios nicht mehr die Plattenproduktion das große Geld abwarf, sondern Musikverlag und Management.

      Mills war damit groß geworden, sich notfalls mit Fäusten durchs Leben zu boxen. Als Sohn jüdischer Einwanderer aus Odessa war in einem Getto auf New Yorks Eastside aufgewachsen. Als sein Vater starb, war er elf Jahre alt und musste die Schule verlassen. Er verkaufte Krawatten und Tapeten, bis er eines Tages mit dem Broadway Bekanntschaft machte. Mills arbeitete als Page im Theater-Restaurant »Stanley’s«, in dem auch eine hauseigene Big Band spielte. Die Broadway-Größen, die hier speisten und den Jungen für gelegentliche Botengänge einsetzten, hinterließen bei Mills einen nachhaltigen Eindruck.

      Mit 14 war er Platzanweiser in einem Theater, das sich ganz in der Nähe der Tin Pan Alley befand – jenem Straßenzug in Manhattan, in dem sich die Musikverleger und Komponisten niedergelassen hatten. Broadway-Schauspieler schickten ihn des öfteren los, um dort die Notenblätter mit den neuesten Hits zu kaufen. Einer der Musikverleger fragte ihn schließlich, ob er nicht lieber als »Song-Plugger« für ihn arbeiten wolle – als Promo-Mann also, der neue Songs den potenziellen Interpreten schmackhaft zu machen versucht. Auch wenn Mills keine Noten lesen konnte, so hatte er doch eine gute Stimme und sang den Schauspielern den betreffenden Song einfach vor.

      Ein paar Jahre später war er selbst Sänger einer Big Band, hatte seinen eigenen Musikverlag gegründet und begann damit, billige Jazz-Platten für die Warenhäuser zu produzieren. Der Fingerzeig des Schicksals aber kam 1926, als ihm jemand den Tipp gab, sich im »Kentucky Club« eine neue Kapelle namens »The Washingtonians« anzuschauen, die von einem gewissen Duke Ellington geleitet wurde. Mills hörte ein Genie, sah einen künftigen Star und roch schon die Dollars. Gleich am nächsten Tag nahm er Ellingtons Band als Manager und Musikverleger unter Vertrag – und besorgte ihnen wenig später ein Langzeit-Engagement im legendären »Cotton Club«.

      Während regelmäßige Radio-Shows aus besagtem Club »den Duke« zu Amerikas populärstem Jazzmusiker machten, sorgte eine Flut von Veröffentlichungen auch für den nötigen Umsatz. Zwischen 1927 und 1930 nahm Ellington unter elf verschiedenen Namen über 200 Tracks auf, die insgesamt 20 Plattenfirmen angeboten wurden. Mills’ Musikverlag florierte und expandierte zu einem kompletten Musikkonzern, der weitere Musiker unter Vertrag nahm, Zeitungen verlegte und eine eigene Konzertagentur unterhielt. Und wie eine Salami-Maschine schnitt sich Mills von jedem Häppchen eine Scheibe ab, schrieb Hits für seine populärsten Klienten oder – wenn man diversen Quellen glauben will – meldete auch schon mal fremde Kompositionen unter eigenem Namen an.

      Als die »Roaring Twenties« an ihr Ende kamen, waren die Ruinen der einst so mächtigen Phono-Industrie nicht mehr wiederzuerkennen. Anders als sein Vorläufer, der noch mit Klassischer Musik aufgewachsen war, glich der neue record man eher einem schlitzohrigen Vertreter, der stets auf der Jagd nach dem neuesten Hit war. Radio und Musikverlag hatten sich zu den treibenden Umsatzträgern der Gegenwart gemausert – und das Zeitalter einer neuen, autobiografisch gefärbten Musik stand vor der Tür.

      Eine Analyse, 1929 von der US-Regierung in Auftrag gegeben, belegte mit Zahlen, was man subjektiv schon ahnte: Das Radio war die größte Boom-Industrie, die das ablaufende Jahrzehnt hervorgebracht hatte: Allein die Hardware trug zu einem jährlichen Umsatz von 842 Millionen Dollar bei. 41 Prozent der amerikanischen Haushalte verfügten bereits über einen dieser neuartigen Radio-Empfänger.

      Emile Berliner, der Erfinder des Gramophone, verstarb am 3. August 1929 und hinterließ ein Vermögen, das auf 1,5 Millionen Dollar geschätzt wurde. »Nach meinem Tod wünsche ich mir keine teure Beerdigung«, schrieb er in einem Abschiedsbrief an seine Familie. »Aufwendige Begräbnisse sind eine fast schon kriminelle Geldverschwendung. Ich würde mich freuen, wenn Alice den ersten Teil der Mondschein-Sonate spielen könnte – und zum Abschluss vielleicht Josephine den Trauermarsch von Chopin. Gebt etwas Geld an junge allein stehende Mütter und begrabt mich bei Sonnenuntergang. Ich bin dankbar, in den Vereinigten Staaten gelebt zu haben und möchte meine Kinder und Enkel daran erinnern, dass es der innere Friede ist, den sie stets anstreben sollten.«

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