Название | Cowboys & Indies |
---|---|
Автор произведения | Gareth Murphy |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862871612 |
Anders als Victor und Edison hatte Columbia nicht die Cash-Reserven, um sich die Zeit mit Prozessen und Boykotten zu vertreiben. Immerhin waren die Columbia-Mitarbeiter hellhörig genug, das Radio als kostenlose Werbung zu begreifen. Am Ende des Tages aber brauchte die Firma vor allem eines: den visionären Kopf, der sie aus ihrer finanziellen Misere führte. Der Gesuchte kam in Gestalt des bulligen, scharfzüngigen Louis Sterling, der bislang Columbias Statthalter in London gewesen war. Während sich die grauhaarigen Industriellen Eldridge Johnson und Thomas Edison grummelnd in ihre Paläste zurückgezogen hatten, traute er sich zu, das lecke Schiff wieder flottzumachen.
Sterling, als Sohn jüdischer Eltern in Litauen geboren, war schon als Baby nach Amerika gekommen, hatte seine neue Heimat aber 1903 wieder verlassen, um in England sein Glück zu suchen. Bei seiner Ankunft in Southampton verjubelte er seine letzten fünf Dollar und schlief lieber auf dem Fußboden eines englischen Gefängnisses. Am nächsten Tag klopfte er sich den Staub aus den Kleidern und besuchte William Barry Owen, Chef der Gramophone Company, den er zuvor in New York kennengelernt hatte. Wie versprochen gab Owen dem 24-jährigen Jungen eine Chance: Als Vertreter für den hauseigenen Phonographen konnte Sterling in ganz England Erfahrungen sammeln, die ihn mit der Mentalität der Käufer, aber auch mit sozialen und kulturellen Unterschieden vertraut machten.
Nach Stationen bei kleineren Firmen heuerte er 1910 als Verkaufschef bei der englischen Columbia an – und war am Ende des Krieges bereits ihr Geschäftsführer. Aufgrund reichlich fließender Provisionen hatte es Sterling zu einem stattlichen Vermögen gebracht, das er allerdings größtenteils in sein Hobby – das Sammeln rarer Bücher – investierte.
Als in Amerika der Radio-Boom begann, überzeugte Sterling seine englischen Geldgeber, dass das Zeitalter der Schallplatte noch keineswegs vorbei sei. Mit der ihm eigenen Risikofreude legte er im November 1922 500000 britische Pfund auf den Tisch und kaufte seinen Arbeitgeber auf – inklusive aller Trademarks, die Columbia in Europa und Asien erworben hatte. Er richtete seinen Blick gen Amerika, wo Columbia zwar unter Konkursverwaltung stand, aber immer noch Hits produzierte. Im Fahrwasser von Okeh hatte Columbias Talentscout Frank Walker die Bluessängerin Bessie Smith unter Vertrag genommen und von ihrem »Golf Coast Blues« 750000 Exemplare verkauft. Es war ein Treppenwitz der Geschichte, dass Bessie Smith (die von Okehs Fred Hager als »zu schwarz« – und von Harry Pace als »zu urwüchsig« abgelehnt worden war) nun Columbia aus den größten Sorgen sang.
Kurz darauf nahm Paramount, ein kleines Label aus Wisconsin, Ma Rainey unter Vertrag – eine weitere kernige Blues-Diva, die sich ebenfalls auf Vaudeville-Bühnen ihre Sporen verdient hatte. 60 Meilen weiter, in Richmond/Indiana, begann das Gennett-Label damit, Chicagos florierende Jazz-Szene auf Tonträgern festzuhalten. Die Musikverleger Lester und Walter Melrose waren bei Gennett mit den Notenblättern zweier Jazzmusiker aufgekreuzt, die ursprünglich aus New Orleans stammten, in Chicago aber als neue Pioniere gehandelt wurden: Jelly Roll Morton und King Oliver.
Es war dieser glücklichen Begegnung zu verdanken, dass King Oliver’s Creole Jazz Band – mit Louis Armstrong auf dem Kornett – 16 Aufnahmen für Gennett einspielte und damit offiziell den »Hot Jazz« aus der Taufe hob. Jelly Roll Morton hatte seine Karriere in den Bordellen von Storyville gestartet und war dort als Gauner, Glücksspieler, Zuhälter, Komiker und Pianist tätig gewesen. Der Mann mit den Diamanten-verzierten Zähnen schrieb nicht nur seine eigenen Kompositionen und Arrangements, sondern integrierte auch die kreolischen und karibischen Rhythmen von New Orleans in sein Material – eine Musikfarbe, die er »die spanische Mischung« nannte.
Doch so wegweisend diese Aufnahmen aus dem Mittleren Westen auch sein mochten: Es war noch immer das Okeh-Label, das Neuland betrat und progressive Ideen förderte. Die Zeitschrift The Wireless Age kürte es jedenfalls zur Radio-freundlichsten Plattenfirma in ganz Amerika. Okeh begann auch damit, die Fühler nach Atlanta, St. Louis, Detroit und Chicago auszustrecken. Einer der Pioniere auf diesen musikalischen Expeditionen war Ralph Peer, der zuvor als Toningenieur Mamie Smiths »Crazy Blues« betreut hatte. Während er im mobilen Okeh-Studio quer durch die USA fuhr, sah sich Peer eigentlich nur mit einem Problem konfrontiert: Es gab einfach viel zu viele Kandidaten, die er aufnehmen wollte.
Peer, ein drahtiger Mitt-Dreißiger, stammte aus Independence/Missouri und hatte früher im Kansas-Büro von Columbia gearbeitet. Während er nun in Hotelzimmern, Lagerhallen oder Tanzschuppen seine Aufnahmen mit Blues, Gospel und Folk machte, wurde ihm schlagartig bewusst, wie viel unentdeckte Talente sich im jungfräulichen Hinterland noch versteckten.
Sein wichtigster Kontakt in Atlanta war der 19-jährige Polk Brockman, der in einer Ecke des väterlichen Möbelgeschäfts schon so viele »race records« verkauft hatte, dass Okeh ihm den Vertrieb für den ganzen Südosten der USA anvertraute. Als er im Juni 1923 bei einem New York-Trip das Palace Theater am Times Square besuchte, sah er in einer Wochenschau zufällig einen Fiddler-Wettbewerb in Virginia. Wie vom Blitz getroffen, griff Brockman zu seinem Notizbuch und schrieb: »Fiddlin’ John Carson – lokales Talent – unbedingt aufnehmen!« Besagter Fiddler war ein 53-jähriger Farmer aus den Blues Ridge Mountains. Brockman überzeugte Peer, bei seiner nächsten Musikexpedition in jedem Fall auch in Atlanta vorbeizuschauen.
Peer nahm den Geiger aus den Appalachen in einer Fabrikhalle auf, hatte anschließend aber erhebliche Bedenken: Das Kratzen und Quietschen der Fiddle, so befand er, klänge »absolut scheußlich«. Brockman wusste indes, dass Carson unter den Rednecks, die in Atlantas Textilfabriken arbeiteten, eine loyale Gefolgschaft hatte. Um zu verhindern, dass die Aufnahme in den Archiven verstaubte, bat er Peer, ihm »umgehend« 500 Platten zu pressen.
Vier Wochen später traf eine Kiste mit unbeschrifteten Platten per Zug in Atlanta ein. Ein paar Tage später trat Fiddlin’ John Carson bei einem örtlichen Festival auf – und Brockman begann damit, den begeisterten Zuschauern die schwarzen Scheiben zu verkaufen. »Ich werd wohl mit dem Schnapsbrennen aufhören müssen und nur noch Platten machen«, bemerkte Carson, als er den Trubel verfolgte.
Nachdem Brockman Nachschub geordert hatte, nahm Peer den ungeliebten Fiddler auch offiziell in Okehs Repertoire auf. Er erinnerte sich auch daran, dass er kurz zuvor eine ähnliche Testpressung mit dem Titel »The Wreck of the Old ‘97« aussortiert hatte. Ein gewisser Henry Whitter besang darauf ein tragisches Zugunglück, das sich 1903 in Virginia abgespielt hatte. Peer schickte eine Kopie zu Brockman, der ihm bestätigte, dass es in Tennessee und Virginia mit Sicherheit einen Markt dafür gebe. Im Handumdrehen hatte Okeh einen weiteren ländlichen Hit – und Peer spürte, dass es erst die Spitze des Eisbergs war.
Die Konkurrenz brauchte nicht lange, um auf das Phänomen aufmerksam zu werden. Frank Walker von Columbia vergaß für eine Weile seine Bessie Smith und widmete sich vermehrt dem, was nun »Hillbilly« hieß. Im August 1924 gab Victor dem Balladensänger Vernon Dalhart den Auftrag, eine neue Version von »The Wreck of the Old ‘97« einzusingen. Die bewusst rührselige Interpretation traf den Nerv der Zeit und mauserte sich zu einem landesweiten Monster: Mit insgesamt sieben Millionen Exemplaren war es der größte Hit in der 40-jährigen Geschichte der Plattenindustrie.
Derartige Erfolgserlebnisse waren Balsam für eine Industrie, die im Lauf der letzten Jahre den Glauben an sich verloren hatte. Ein noch größerer Rettungsring wurde ihr von den Bell-Laboratorien zugeworfen, wo Forscher eine Vitalitätskur für den technisch veralteten Phonographen gefunden hatten. Indem sie Kondensatormikrofone, Röhrenverstärker mit angepasster Impedanz und eine elektromagnetische Technik zum Schneiden der Platten kombinierten, erfanden sie praktisch den Prozess des Aufnehmens völlig neu. Mit Hilfe der Mikrofone und Verstärker konnte man nun tiefe wie hohe Frequenzen mit ungekannter Präzision aufzeichnen, Sänger mussten nicht mehr schreien, die Aussprache war verständlicher – und Instrumente wie Gitarren und Banjos wurden erstmals nicht von den lauteren Blasinstrumenten übertönt.
Nachdem man die Technologie patentiert hatte, boten die Bell-Labs das »Western Electric electrical recording system« zunächst Victor, dann aber auch Columbia an. Angesichts leerer Kassen und der hohen Lizenzkosten für