Das Erbe von Samara und New York. Erik Eriksson

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Название Das Erbe von Samara und New York
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369099



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ein?

      Ja, das sah sie ein.

      Alvine wartete weiter. Sie stand nicht mehr ganz so oft auf dem Balkon. Stattdessen las sie Romane über die Liebe und über das Reisen. Sie las sogar zwei Bücher von Leo Tolstoj.

      Ihr Vater sah diese Bücher. Er lehnte Tolstoj ab, den er verwirrend fand. Er wollte seiner Tochter nicht verbieten, die Bücher des phantasiebegabten Grafen zu lesen, aber es gab doch so viel anderes zur Auswahl, Bücher, an denen man Freude hatte.

      Alvine tat, was ihr Vater wünschte. Sie hörte auf, Tolstoj zu lesen. Sie wandte sich wieder den Romanen über die Liebe zu, die an Orten spielten, die weit weg lagen – in der Südsee, in Arabien, in Paris.

      Sie wurde zwanzig, dann einundzwanzig, und er, der kommen sollte, hatte sie noch nicht gefunden.

      Im Frühjahr 1895 dann passierte es. Alvine lernte Oscar Peterson auf der Schlittschuhbahn in Samara kennen. Er hielt nach dreimonatiger Bekanntschaft um ihre Hand an. Alvines Mutter meinte, dass Oscar der Richtige sei. Er war Geschäftsmann, hatte schwedische Vorfahren, sah gut aus und konnte sich angeregt unterhalten.

      Oscar war mit dem Schiff auf dem Fluss gekommen, aus der großen Stadt Saratov im Süden, um Haushaltswaren zu verkaufen, aber das wusste Alvine nicht. Für sie war Oscar derjenige, auf den sie gewartet hatte. Er war doch auf einem ihrer Traumschiffe gekommen, nicht wahr?

      Alvine und Oscar heirateten in der lutherschen Kirche in Samara. Oscars Mutter und seine vier Schwestern waren mit dem Dampfer aus Saratov angereist. Sie wohnten im Hotel. Das Hochzeitsessen wurde im Hause der Christensens eingenommen. Alvines Vater hielt eine lange und sehr gefühlvolle Rede.

      Er erzählte von den Vorfahren aus dem fernen Norden, die Familien stammten ja von dort, sprach über das große Russland, das ewige russische Zarenreich.

      Julius Christensen war von seinen Worten selbst gerührt. Nach dem Essen spielte eine Musikkapelle verschiedene Stücke russischer und nordischer Komponisten.

      Oscar fand, dass die nordische Musik wie ein Wiener Walzer klang. Er konnte wirklich tanzen. Alvine hatte keine Übung, aber sie hatte Unterricht von einer Lehrerin erhalten. Alle lächelten dem Brautpaar zu, dem großen eleganten Oscar im gut sitzenden Frack, und der kleinen zarten Alvine in Spitzen, Schleier und Seide. An diesem Abend war sie eine bezaubernde kleine Braut.

      Die Nacht wurde schlimm. Sie wusste nicht, was ihr bevorstand, dass der Mann in ihrem Leben so fordernd sein würde, so hart und schwer. Sie wusste nichts, und es war sehr schmerzhaft, als er in sie eindrang und immer weitermachte, gar nicht aufhören wollte.

      Lange lag sie noch wach und horchte auf Oscars schwere Atemzüge, die allmählich in Schnarchen übergingen.

      Jemand hatte ihr gesagt, dass man sich mit der Zeit daran gewöhne, ja sogar Gefallen daran finden konnte.

      Das jedoch war bei Alvine niemals der Fall. Sie war gezwungen, Oscar seinen Willen zu lassen, wann immer er wollte, und sie verabscheute ihn für das, was er tat, aus ganzem Herzen.

      Die Brände kommen näher

      Oscars Vater Johan Peterson war ein schwedischer Schiffsmaschinist gewesen. Er stammte aus Schonen, war mehrere Jahre auf Dampfschiffen zur See gefahren, war in Odessa in Südrussland an Land gegangen. Johan war ins Landesinnere gefahren, hatte Emilie Goldbach aus Astrachan, der großen Stadt im Wolgadelta am Kaspischen Meer kennengelernt.

      Sie hatten geheiratet und sich in Sarajewo siebenhundert Kilometer flussaufwärts niedergelassen. Johan Peterson arbeitete weiterhin auf Dampfschiffen. Er wurde Maschinenaufseher auf einem Wolgaschiff, dessen Kapitän Däne war. Wenn das Schiff vertäut war, tranken sie zusammen Wodka. In einer kalten Winternacht rutschte Johan am Kai aus, fiel ins Wasser, zog sich eine Lungenentzündung zu und starb nach zwei Wochen.

      Oscar war drei Jahre alt gewesen, als er seinen Vater verloren hatte. In der Familie gab es vier Schwestern. Anna war die Älteste. Sie kümmerte sich um Oscar, wurde wie eine Mutter für ihn, wenn Emilie es nicht schaffte.

      Anna wurde Oscars Haushälterin, seine Gehilfin, die große Stütze seines Lebens. Sie wachte über ihn, ließ ihn bestimmen, fällte jedoch auch oft Entscheidungen, ohne ihn vorher zu fragen, sie wusste ja, wie er es haben wollte.

      Als Oscar Alvine heiratete, wurde Anna ängstlich. Würde Oscar sie im Stich lassen? Nein, er versprach, Anna mitzunehmen. Sie durfte in das Haus einziehen, das er gekauft hatte. Sie betätigte sich weiterhin als seine persönliche Haushälterin. Anna bügelte Oscars Hemden und Kragen, sie bereitete ihm das Frühstück, brachte ihm warmes Waschwasser, packte seinen Koffer, wenn er verreisen musste. Sie blieb immer auf und wartete auf ihn, wenn er von den Abenden in seinem Herrenclub in Samara spät nach Hause kam.

      Alvine ließ es geschehen. Sie hatte keine Wahl. Anna und Oscar hatten so viel gemeinsam, ein Urbild alter Abhängigkeiten. Oscar und Alvine waren miteinander verheiratet, aber Anna hatte das Sagen im Hause, sie kommandierte die Dienerschaft, beriet mit Oscar über wirtschaftliche Angelegenheiten, hatte sein Vertrauen.

      Oscar ließ seine Schwester nicht im Stich, noch nicht.

      Das Haus lag ein Stück vom Fluss entfernt, im nördlichen Außenbezirk von Samara, in der Nähe einer kleinen blauweißen orthodoxen Kirche. Es war eine schöne Gegend, schattig im Sommer, nicht allzu lehmig, wenn im Herbst der Regen fiel, im Frühling dufteten die Lilien.

      Aber das Haus war alt. Es war solide gebaut, hielt im Winter die Wärme, aber es hatte kein fließendes Wasser, die Mägde mussten Wasser mit Eimern vom Brunnen auf dem Hof holen. Alvine hatte in ihrem Elternhaus alle Annehmlichkeiten der modernen Technik der damaligen Zeit gehabt. Sie und ihre Schwestern hatten ein eigenes Dienstmädchen zur Verfügung, die Familie hatte eigene Kutscher, die auch für die Kinder den Wagen vorfuhren.

      Jetzt war Alvine gezwungen, sich selbst um ihre Kleidung zu kümmern. Sie bekam zwar die Mahlzeiten hingestellt, aber sie musste sich selbst bedienen. Wenn sie in die Stadt fahren wollte, mussten Pferd und Wagen bestellt werden.

      Im Spätwinter 1900 gebar Alvine ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, das Erika genannt wurde.

      Die Kleine schlief zunächst eine Zeitlang in einem Kinderbettchen neben Alvine. Anna stand immer zur Verfügung, sie nahm Erika auf, wenn Alvine darum bat, ließ das Kind eine Weile neben seiner Mutter liegen, legte es recht bald wieder zurück in das Bettchen. Anna wechselte die Windeln, wusch, brachte Erika in ein anderes Zimmer, wenn Alvine sich ausruhen wollte.

      Nach einem Monat war es soweit, dass Anna bestimmte, wie Erika versorgt werden sollte. Nach vier Monaten schlief das Kind nicht länger bei seiner Mutter. Als Erika ein Jahr alt war, aß sie zusammen mit Anna und der Dienerschaft in der Küche. Die jungen Eltern bekamen ihre Mahlzeiten oben in dem kleinen Speisezimmer neben dem Schlafzimmer serviert.

      Oscar und seine junge Frau waren der Auffassung, dass es so am besten sei. Alvine wurde beim Essen nicht durch Kindergeschrei gestört, Oscar musste nach einem langen Arbeitstag nicht nach Hause kommen zu übelriechenden Windeln.

      Er hatte einen Laden eröffnet, er verkaufte Küchengeräte, meist aus Deutschland importierte Waren. Oscar hatte Alvines Mitgift in den Laden gesteckt, er selbst hatte kein Geld gehabt. Das Geschäft lief jedoch gut, er hatte zwei Angestellte, selbst würde er es bald etwas ruhiger angehen können, vielleicht etwas häufiger zuhause sein können. Das würde Alvine doch wohl gefallen?

      Das tat es sicher, ja, natürlich.

      Er könne morgens länger im Bett bleiben, das wolle sie wohl gerne?

      Sie antwortete ausweichend. Oscar nahm an, dass sie dasselbe wie er wollte, dass sie nur zu schüchtern sei, ihm zu antworten.

      Alvine gebar noch ein Mädchen, das Dagmar genannt wurde. Jetzt wusste Anna, was von ihr erwartet wurde. Schon nach zwei Monaten wurde das Kind von seiner Mutter getrennt.

      Im Sommer 1904 wurde Alvine zum dritten Mal schwanger.

      Die Kälte war um Neujahr herum sehr schneidend. Das Wasser der Wolga war gefroren, die Rauchsäulen aus den tausenden von Schornsteinen in Samara stiegen kerzengerade