Das Erbe von Samara und New York. Erik Eriksson

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Название Das Erbe von Samara und New York
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369099



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      Aber immer noch fehlten für die Fahrkarte mindestens dreißig Kronen, außerdem benötigte sie ja auch Geld für Essen und Unterkunft.

      Da traf ein Brief von Carl ein. Er schrieb, dass er der Meinung sei, Hedvig solle schnell herüberkommen. Falls sie Geld für die Reise brauche, könne er aushelfen.

      Hedvig antwortete innerhalb einer Woche. Ja, sie hätte sich entschlossen. Sie hatte Geld gespart, aber es fehlte noch etwas.

      Carl schrieb noch einen Brief. Er wusste, dass Hedvig bei Tante Clara unterkommen könne, und das Geld für die Überfahrt dürfte kein Problem sein. Er konnte ihr leihen, was noch fehlte, sie würde schnell gut verdienen und könne es dann zurückzahlen.

      Hedvig schrieb: »Ich erwäge jetzt, dein Angebot anzunehmen, und ich werde es sobald wie möglich Mutter erzählen.«

      Dann wurden Hedvig und Hulda sechzehn Jahre alt. Die Zwillinge feierten den Geburtstag in der Küche des Onkels, mit Kaffee und frischgebackenen Haferkeksen. Abends, als sie aus der Fabrik nach Hause kamen, bekamen sie auch ein gutes Essen.

      Karl Gustaf schenkte Hedvig ein hübsches kleines Notizbuch mit linierten Seiten. Hier konnte sie ihre Gedanken niederschreiben. Er wusste, dass sie abreisen wollte. Er hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen, endlich sagte er Hedvig Bescheid. Das machte er an ihrem Geburtstag. Sie fand, er hätte sich einen besseren Tag aussuchen können. Aber sie war froh, dass er sich endlich entschieden hatte.

      »Ich fahre, wie du weißt«, sagte Hedvig, »aber wir werden einander schreiben, und du wirst wohl bald nachkommen?«

      »Zuerst will ich meinen Beruf haben, dann werden wir an eine gemeinsame Zukunft denken können.«

      »In Amerika?«

      »Oder hier zuhause.«

      Sie nickten einander zu. Es war nicht viel gesagt worden, trotzdem hatten sie eine Vereinbarung getroffen.

      Hedvig sparte weiterhin ihr Geld. Hulda fuhr im Oktober zurück nach Råberga, Hedvig blieb in der Messerfabrik und traf Karl Gustaf weiterhin wie vorher auch.

      Es wurde ein langer Winter, der Frühling kam spät, bis in den April hinein hielt sich das Eis.

      Hedvig wurde siebzehn, ehe das versprochene Geld von Carl eintraf. Im August bekam sie einen eingeschriebenen Brief, der hundert schwedische Kronen enthielt, zehn Zehnkronenscheine. Hedvig hatte noch nie so viel Geld besessen.

      Sie fuhr nach Hause nach Råberga, um auf Wiedersehen zu sagen. Ihre Mutter war mager geworden, sie lächelte nicht, als Hedvig kam, und sagte nicht viel, als ihre Tochter nach drei Wochen wieder abreiste.

      Dann begab sich Hedvig auf die lange Reise nach Amerika. Zuerst mit dem Zug nach Göteborg, dann mit dem Schiff, mit dem Zug, wieder mit dem Schiff. Sie schrieb es in das Büchlein, das sie von Karl Gustaf geschenkt bekommen hatte. Jeden Tag schrieb sie etwas hinein.

       3. Oktober 1892

      Eine gute Reise nach Göteborg. Übernachtung in einem Hotel am Hafen. Ich habe mehrere große Schiffe anlegen sehen. Ich bin in einem Zimmer zusammen mit zwei Mädchen aus Småland und einem Mädchen aus Värmland.

       6. Oktober 1892

      Abreise bei leichtem Nebel. Bald sind wir in Hull, und von dort fahren wir mit der Eisenbahn nach Liverpool.

       17. Oktober 1892

      Das Schiff ist ungeheuer groß. Ich schlafe ganz unten im Schiff in einem Raum zusammen mit den Mädchen, die ich in Göteborg kennengelernt habe, und vielen Frauen aus anderen Ländern. Wir sind jetzt auf See, hoffentlich wird die Reise nicht allzu mühselig. Aber der Himmel ist nachts so mächtig, es gibt mehr Sterne, als ich jemals zuvor gesehen habe, wie glitzernde kleine Augen über dem schwarzen Ozean, auch erinnern sie an eiskalten, fernen Vogelgesang.

      Alvine, die Mutter meiner Mutter

      Als sich der Schnee in Samara rot färbte

      Der Schwarze im Keller

      Das Wasser der Wolga war grau, in Ufernähe schwammen Holzstücke und Gras, mehrere kleine Fischerboote lagen etwas weiter draußen, die Männer in den Booten waren mit den Netzen beschäftigt, einer von ihnen rief den Leuten, die an Land warteten, etwas zu. Es war weit bis zum anderen Flussufer, vielleicht tausend Meter. Es kam vor, dass gelegentlich große Schiffe vorbeifuhren. Jetzt war das Wasser weit draußen zu sehen, graues, düsteres Wasser, das die Wolken am Himmel nicht widerspiegelte.

      Alvine fragte ihre Mutter, ob sie eine Weile aus dem Wagen steigen dürfe, aber die Mutter erlaubte es nicht. Es war hier allzu schmutzig.

      »Warum möchtest du das denn, wir wollen jetzt weiterfahren«, sagte die Mutter, die Ida hieß.

      »Ich möchte die Boote betrachten«, sagte Alvine.

      »Die kannst du genauso gut vom Wagen aus sehen, oder nicht?«

      »Du hast Recht, Mama, es war nur so eine Idee.«

      »Natürlich, meine Liebe, du hast so deine kleinen Ideen.«

      Alvines Mutter befahl dem Kutscher weiterzufahren. Er schlug mit den Zügeln auf den schwarzen Pferderücken, schnalzte ein paarmal mit der Zunge, schlug wieder zu, dieses Mal ein wenig fester, murmelte irgendetwas Unhörbares. Alvine lachte auf, sie fand den mürrischen Kommandoton des Kutschers lustig. Ihre Mutter sagte nichts. Der Wagen rollte weiter hinauf in das Stadtzentrum. Sie hatten den Umweg zum Fluss hinunter nehmen müssen, weil einige grölende Männer den Weg in die Stadt versperrt hatten, sie hatten klappernde Pferdehufe gehört, der Kutscher war in eine Seitenstraße eingebogen, hatte das Pferd angetrieben, das hinunter zum Wolgastrand trabte.

      Es war nicht weit bis nach Hause. Wenn Alvine auf den Balkon im obersten Stockwerk des Elternhauses trat, konnte sie den Fluss sehen. Sie stand dort bisweilen und folgte den Booten mit den Blicken, den Dampfern, die nach Süden fuhren, nach Saratov und Astrachan, oder nach Norden, nach Kazan und Novgorod. Sie wäre gerne mit einem der Schiffe gefahren, am liebsten mit dem, welches Peter hieß, es war etwas größer als die anderen. Auf dem Schiff gab es ein schönes Restaurant, das hatte ihr Bruder Kolja erzählt.

      Alvine hatte sich zum Geburtstag eine Dampferfahrt auf der Wolga gewünscht. Sie würde im Sommer sechzehn Jahre alt werden. Jetzt war es Ende April.

      Der Kutscher schnalzte wieder, er wollte das Pferd antreiben. Sie hatten eine kleine Steigung vor sich, einen mit Kopfsteinen gepflasterten Buckel auf dem Weg, der hinauf zur Hauptverkehrsstraße von Samara, der Alexanderstraße mit ihren Büros, Läden und der französischen Konditorei, führte.

      Alvines Vater Julius Christensen besaß eines der größten Geschäfte in der Alexanderstraße. Sein Name stand auf dem ovalen Schild über dem Eingang. Es kam vor, dass die Leute das Geschäft »den Laden des Dänen« nannten.

      Alvine hatte es oft gehört und sie hatte nichts dagegen.

      Ihre Familie war Ende des 18. Jahrhunderts aus Dänemark gekommen, seitdem hatten sie sich mit Deutschen und Russen vermischt. In der ganzen Straße war es ähnlich, fast alle Geschäfte gehörten Leuten, die vor langer Zeit aus anderen Ländern nach Russland gekommen waren. Weiter unten in der Straße gab es ein schwedisches Hutgeschäft, einen deutschen Uhrmacher und die wunderbare Konditorei des Franzosen.

      Alvine hatte bereits begonnen zu überlegen, welches Gebäck sie nehmen wollte.

      Die Kutsche hielt direkt vor der Konditorei. Alvines Mutter sagte etwas, der Kutscher sprang ab und hielt einen Mann zurück, der auf der Straße gestanden hatte und jetzt zum Wagen vordringen wollte. Er war nicht besonders alt, trug eine zerrissene Jacke, er hielt seine Mütze in der Hand, streckte sie Alvines Mutter entgegen. Der Kutscher stieß den Mann beiseite, sagte jedoch nichts. Alvines Mutter bat den Kutscher, draußen auf sie zu warten.

      Als Alvine mit ihrer Mutter hineinging, sah sie, wie der Mann in der zerrissenen Jacke die Straße überquerte. Er blieb nicht stehen, sondern ging weiter mit der Mütze in der Hand. Er hinkte ein wenig. Alvine nahm an, dass der Mann vermutlich