Название | Das Erbe von Samara und New York |
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Автор произведения | Erik Eriksson |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944369099 |
Es war Anfang Mai 1889. Alvine war fünfzehn Jahre alt. Ihre Mutter Ida war gerade sechsundvierzig geworden. Im letzten halben Jahr waren immer mehr zerlumpte Kerle auf den Straßen Samaras aufgetaucht. Alvine hatte gehört, dass die Landbevölkerung nichts zu essen habe. Kolja hatte ihr eine Ausgabe der Samara-Zeitung gezeigt, in der stand, dass viele Menschen in ihrem Gouvernement verhungert seien. Unter den Verhungerten befand sich auch eine Lehrerin.
Aber sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Ihr Vater hatte gesagt, dass es sich meist um Übertreibungen handele. Es gab Leute, die das Land ins Verderben stürzen wollten. Solche Leute verbreiteten Lügen.
Die Familie Christensen wohnte in einer Straße, die parallel zur Alexanderstraße mit den Geschäften verlief. Ihr dreistöckiges Wohnhaus war von Ulmen und Apfelbäumen umgeben. Vor dem Wohnhaus befand sich ein gepflasterter Hof, hinter den Ulmen lagen Ställe und einige graue Gebäude. Dort wohnte die Dienerschaft, abgesehen von einigen Mägden, die in der Küche auf der Ofenbank schliefen.
Alvine hatte ihr Zimmer ganz oben im Wohnhaus. Es lag in der Nähe des kleinen Balkons mit Aussicht über die Wolga. Sie liebte diesen Balkon. Sie saß häufig dort und dachte nach, hier sehnte sie sich nach der großen Welt und nach der Liebe. Diese würde von dorther kommen, dachte sie oft, von der Wolga her. Vielleicht mit einem Schiff, mit dem Wind, mit den großen Wolken, die sich über der Steppe auf der anderen Seite des Flusses auftürmten.
Alvine wusste es nicht, es war etwas, das sie fühlte, für das sie keine Worte hatte. Der Balkon war der Ort, an dem sie die größte Sehnsucht empfand.
Jeden Samstag suchte Alvine den Laden ihres Vaters auf. Sie schaute in seinen Kontorraum im Erdgeschoss hinein, ehe sie sich hinaus zwischen die Ladentische und Waren begab.
Es war ein sehr großes Geschäft auf drei Stockwerken, eher ein kleines Kaufhaus. Auf jedem Stockwerk befanden sich ein paar große Räume, sowie einige kleinere Räume für Nähzeug und Schreibwaren. Vor allem jedoch wurden Kleider und Haushaltswaren verkauft.
An den Samstagen war das Geschäft immer gut besucht, die meisten Kunden wohnten in Samara, aber es kamen auch Bauern vom Lande in die Stadt. Im letzten Jahr allerdings war das nicht allzu oft vorgekommen. Zur Straße hin hatten die Räume große Fenster. Auf dem Fußboden darunter befanden sich Schlitze, aus denen warme Luft kam. Nur wenige Häuser in Samara verfügten über eine solche Wärmeanlage. Die Luft wurde durch lange Rohre aus dem Keller heraufgeführt, dort befand sich ein großer Heizkessel. Alvines ältester Bruder Alfred hatte es ihr erklärt. Er half oft im Kontor mit, es war beabsichtigt, dass er die Firma später von seinem Vater übernehmen solle.
An einem Samstag in diesem Frühjahr sah Alvine durch einen Zufall etwas mehr von dem Heizkessel und den Rohren. Sie hatte ihren Besuch beendet und wollte nach Hause gehen. Dem Vater hatte sie schon Auf Wiedersehen gesagt. Er ließ sie nur zu Fuß gehen, wenn sie eine Begleitung hatte, dann brauchte sie nicht auf den Kutscher zu warten.
An diesem Samstag brauchte sich der Vater keine Gedanken zu machen. Alvine sollte von einer Freundin begleitet werden, sie hatten denselben Weg. Sie hatten sich auf der Straße verabredet.
Alvine wartete am Eingang, es dauerte. Hatten sie einander falsch verstanden? Wartete die Freundin vor dem Hintereingang? Kam sie vielleicht aus dieser Richtung?
Nach einer Weile ging Alvine durch das Haus zum hinteren Eingang, der nur von den Angestellten und Lieferanten benutzt wurde. Hinten war ein Hof mit Lagerhäusern und Ställen. Dort lag auch ein großer Holzstoß.
Hier war die Freundin jedoch auch nicht. Alvine ging zu dem Holzstoß. Dahinter befand sich ein Kellereingang. Sie fragte sich, wie es da unten wohl aussehen mochte. Es war dunkel, aber weiter hinten im Dunkel flackerte ein kleines gelbes Licht.
Alvine ging die Kellertreppe hinunter. Sie gelangte in einen länglichen Kellerraum. Es roch nach Rauch und Ruß. Sie ging weiter auf das Licht zu. Da erblickte sie einen Mann. Er war schwarz angezogen, sein Gesicht war dunkel vom Ruß. Alvine zuckte zusammen. Der Mann nahm die Mütze ab und verbeugte sich.
»Hier haben Sie nichts zu fürchten, liebes Fräulein«, sagte er mit sanfter Stimme.
»Entschuldigung, ich wollte nur einmal gucken«, murmelte Alvine.
»Hier kann man schwer etwas erkennen«, sagte der Mann.
»Wer sind Sie?«
»Ich bin derjenige, der dafür sorgt, dass es im Haus warm ist.«
»Die warme Luft dort oben?«
»Genau die, liebes Fräulein.«
»Wo wohnen Sie denn?«
»Hier unten wohne ich.«
»Aber wo ist Ihre Familie?«
»Anderswo, liebes Fräulein.«
»Aber wo essen Sie denn zusammen zu Abend?«
»Das tun wir nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich bin immer hier.«
Alvine wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann war freundlich, aber etwas seltsam. Sie wollte jetzt wieder zurück ans Tageslicht, hier unten fiel ihr inzwischen das Atmen etwas schwer.
Sie murmelte etwas zum Abschied und begann, die Treppe wieder hinaufzugehen. Als sie sich umwandte, war der Mann verschwunden. Vielleicht stand er auch dort im Dunkeln, eingehüllt in die Schwärze.
Nachdem Alvine nach Hause gekommen war, wusch sie sich gründlich. Am Abend fragte sie ihren Vater, wer der Mann im Keller sei. Wie hieß er?
Ihr Vater Julius antwortete, dass der Mann »der Schwarze« genannt würde. Seinen richtigen Namen kannte er nicht.
»Er ist schon immer dort«, sagte Julius.
»Immer?«
»Ja, und er wird wohl auch dort bleiben, weil er dort hingehört. Es ist das einzige Leben, das er hat, und er ist ja nützlich.«
An diesem Abend konnte man ein ungewöhnlich schönes Licht über der Wolga beobachten. Schwach lila gefärbte Wolken lagen über den waldigen Anhöhen am gegenüberliegenden Ufer des Flusses, die letzten Sonnenstrahlen funkelten an den Wolkenrändern.
Alvine stand lange auf dem Balkon und schaute. Ein Schiff glitt vorbei, das Achterdeck wurde von Lampen erleuchtet.
Der Richtige kommt mit dem Schiff
Alvine kannte die Namen von mehreren großen Schiffen auf dem Fluss. Einigen gab sie selbst Namen: Silberschwall, Morgensonne, Amadeus. Das kleine schwarze Schiff mit dem großen Schornstein nannte Alvine Zakarina.
Sie verriet ihrer kleinen Schwester Toni die Namen, da sie wusste, dass Toni es den anderen Geschwistern niemals erzählen würde. Toni war ernsthaft, lachte nicht oft, freute sich sehr über das in sie gesetzte Vertrauen.
Toni sagte, sie wolle ebenfalls Schiffe taufen. Alvine verbot es ihr.
»Ich bin es, zu der sie auf der Wolga kommen«, sagte Alvine, »du musst dir deine Freunde anderswo suchen.«
»Freunde?«, wollte Toni wissen.
»Ja, sie kommen auf dem Fluss, aber ich werde nur einen Einzigen empfangen und ihm meine Hand geben, verstehst du?«
Toni sagte, sie würde es schon verstehen, und jetzt war das Geheimnis noch größer. Jemand würde zu ihrer Schwester kommen. Ein Mann?
In dem Jahr, in dem Alvine siebzehn wurde, war noch kein Mann gekommen. Sie sollte achtzehn Jahre alt werden, ehe ein Mann sie mit wirklichem Interesse ansehen würde. Das war der junge Hauslehrer, der für Toni eingestellt worden war. Er war liebenswürdig, sah gut aus, kleidete sich elegant, sprach ausgezeichnet französisch. Als jedoch Alvines Mutter bemerkte, dass er Alvine richtiggehend den Hof machte, erklärte sie ihrer Tochter, dass sie ihr schon sagen würde, wenn der Richtige gekommen sei, der Hauslehrer war nicht passend. Sein Vater war Dorfschullehrer, Bahnwärter oder etwas Ähnliches. Sicher hatte