Das Erbe von Samara und New York. Erik Eriksson

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Название Das Erbe von Samara und New York
Автор произведения Erik Eriksson
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369099



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Neujahrsnacht zeigte das Thermometer minus neununddreißig Grad.

      Alvine war im siebten Monat. Sie war umfangreicher als die vorigen Male, bewegte sich weniger. Sie las Romane, blieb im Bett liegen. Die Hebamme, die nach ihr sah, bat sie aufzustehen, es sei für das Kind besser, wenn sich die Mutter etwas mehr bewege, auch sei es gut für die Mutter.

      Widerwillig stand Alvine auf und zog sich an. Die Hebamme ließ absichtlich eine Dose mit Knöpfen auf den Boden fallen, schlug vor, dass Alvine sie als ein kleines Training aufsammeln sollte. Als Alvine sich weigerte, änderte die Hebamme ihre Taktik, fand, dass sie gemeinsam die Knöpfe auflesen sollten.

      Alvine ließ sie liegen. Sie stellte sich ans Fenster, die Scheibe war von Frostblumen überzogen, sie konnte nicht hinaussehen. Sie überlegte, was sie am Neujahrstag anziehen sollte, wenn sie, Oscar und die Kinder zu Alvines Eltern zum Essen fahren würden.

      Am ersten Tag des Jahres war es nicht ganz so kalt. Die Leute gingen ohne einen Wollschal vor dem Gesicht nach draußen.

      Der Schlitten holte sie um ein Uhr ab. Es war ein überdachter Schlitten, sie saßen in Decken eingewickelt, Oscar hielt seinen Arm um Erika, die kleine Dagmar saß neben Alvine.

      Die beiden Pferde hatten Schellen um den Hals. Sie zogen den Schlitten langsam auf dem Weg an der Kirche vorbei, hinauf bis zur Salzsiederei, über das Feld, auf dem der verharschte Schnee in kleinen harten Wehen lag, die Kufen knarrten auf dem verkrusteten Schnee.

      Dann ging es etwas schneller, sie befanden sich auf der geraden Strecke, die an dem Stall der Kosaken vorbeiführte, an den Gebäuden der Wachmannschaften, vorbei an dem Platz, auf dem die Wagen und Geräte standen, die den Soldaten gehörten. Alvine nahm flüchtig einige Soldaten auf dem Hof wahr, sowie ein paar Reiter. Sie schienen irgendwohin aufzubrechen, sie ritten sehr schnell weg.

      Jetzt war der Schlitten nur noch ein kleines Stück von der Katarinastraße, auf der sich der Palast des Gouverneurs befand, entfernt. Sie würden gleich an dem großen gelben Gebäude vorbeifahren und dann abbiegen hinunter in Richtung Innenstadt.

      Da verlangsamte sich die Fahrt plötzlich. Der Kutscher rief den Pferden etwas zu, es schien so, als ob er sie zurückhielt.

      Oscar steckte den Kopf auf der Seite hinaus und rief dem Kutscher zu, die Fahrt fortzusetzen.

      »Du sollst uns zu der Adresse, die du erhalten hast, bringen, ohne zu trödeln«, schrie Oscar.

      »Mein Herr, mein Herr«, rief der Kutscher zurück, »sehen Sie nicht, was wir vor uns haben?«

      Jetzt verlangsamte er die Fahrt noch mehr. Oscar sah wieder hinaus, er sagte nichts, der Schlitten hielt an.

      »Eine Schar Krawallmacher«, murmelte Oscar.

      »Was für Leute?«, fragte Alvine.

      »Ein Haufen Menschen auf dem Weg dort hinten.«

      »Was sind das für Leute?«

      Oscar antwortete nicht. Er rief dem Kutscher zu, einen anderen Weg zu nehmen.

      Der Kutscher sprang vom Schlitten herunter, zog die Zügel an, versuchte, die Pferde ein Stück zurückzuführen, damit er den Schlitten wenden konnte. Es ging sehr langsam, eine große Schneewehe war im Weg.

      »Beeil dich, du fauler Kerl«, schrie Oscar.

      Der Kutscher riss an den Zügeln, sprach auf die Pferde ein, führte sie ein Stück zurück, dann wieder vor. Jetzt hatte er es fast geschafft, den Schlitten zu wenden. Die dunkle Schar vor ihnen kam näher. Die vordersten der Männer trugen eine große Prozessionsfahne, ein Bild der Jungfrau Maria, einige der anderen an der Spitze hielten brennende Kerzen in den Händen. Jetzt konnte man Gesang hören. Sie sangen einen Psalm, eine Neujahrshuldigung an den Erlöser.

      Als sich die Schar noch etwa hundert Meter vom Schlitten entfernt befand, bog die Spitze ab. Die Männer, die die Standarte trugen, begannen, über das Feld hinauf zum Gouverneurspalast zu gehen. Sie stapften durch den Schnee, die anderen folgten, bald hatte der ganze Zug den Weg verlassen. Die Volksmenge bewegte sich hinauf auf den offenen Platz vor dem Palast zu. Dort machte die Spitze halt, die anderen blieben ebenfalls stehen.

      Jetzt konnte Alvine sehen, wie viele Leute in dem Zug waren. Es waren fast nur Männer, sicher mehrere hundert, einige hielten Bilder von Maria, Josef und dem Jesuskind in den Händen.

      Dann begann jemand zu sprechen, es klang laut und eintönig. Alvine konnte zunächst nur einzelne Wörter verstehen, dann Teile von Sätzen: »Als Diener des Zaren … bringen wir unsere Huldigung … seine guten … rechtgläubigen Kinder. Jesu Leiden … Huldigung.«

      Hier wurde der Redner von dem Psalmengesang unterbrochen. Die Männer hielten die angezündeten Kerzen hoch, der Gesang tönte über das Feld, hinauf gegen die Wände des Palastes. Jetzt verstummte der Gesang wieder. Neue Worte erreichten Alvine: »Hungernde Kinder … treue … hungernde … hör uns … Jesu Gnade … hungern … Kinder hungern … sei gnädig.«

      Wieder Psalmengesang. Wieder Hunderte erhobener Hände mit brennenden Kerzen, donnernder Gesang über das Feld.

      Dann hörte man andere Geräusche, zuerst schwach, dann lauter werdend. Es waren Pferdehufe, dumpf im Schnee, viele galoppierende Pferde. Alvine wandte den Kopf, blickte in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Da kamen Pferde heran, eine Reitertruppe, die Kosaken. Der Schnee stob um die Hufe der Pferde.

      Sie waren unterwegs über das Feld, hin zu den singenden Menschen. Sie machten vor den Männern mit den Kerzen nicht Halt. Die Reiter ritten direkt in die Schar auf dem Feld hinein. Einige Menschen wurden umgestoßen, andere versuchten wegzulaufen, wieder andere fielen mit gefalteten Händen auf die Knie.

      Einer der Reiter schwang seinen Säbel und schlug zu, andere machten es ihm nach, sie schlugen ununterbrochen auf die Wehrlosen ein, die Säbel trafen Gesichter und Hälse, der Schnee färbte sich rot. Viele lagen schon am Boden, andere liefen davon, die Reiter nahmen die Verfolgung auf, und auch diese wurden niedergehauen.

      Dann war der schonungslose Angriff plötzlich vorbei. Vielleicht hatte ein Offizier den Befehl erteilt, vielleicht war der Auftrag erfüllt. Die Reiter formierten sich in Reihen und entfernten sich langsam. Überall lagen tote und verletzte Menschen, einige versuchten, in Sicherheit zu kriechen, ein junger Mann saß mit hängendem Kopf im Schnee.

      In weiter Entfernung war eine Kirchenglocke zu vernehmen. Vielleicht war es die Kirche in der Nähe von Oscars und Alvines Haus. Der Ton kam aus der Richtung.

      Der Kutscher hatte die ganze Zeit über bewegungslos neben den Pferden gestanden. Jetzt kletterte er wieder auf den Schlitten, zog die Zügel leicht an. Die Pferde setzten sich in Bewegung und zogen den Schlitten hinunter auf die Alexanderstraße.

      Die Kälte hielt an. Es war mitten im Winter, eine schwere, stille Zeit. Samaras Zeitung schrieb über die Ereignisse am Palast, aber als Alvine die Zeitung las, fand sie, dass die Beschreibung nicht mit dem übereinstimmte, was sie gesehen hatte.

      In den folgenden Wochen standen in der Zeitung Berichte von ähnlichen Vorkommnissen überall in Russland, wo sich Menschen versammelt hatten und vom Militär auseinandergetrieben worden waren. Offenbar war irgendetwas Bemerkenswertes in St. Petersburg geschehen, aber es wurde nicht klar, was wirklich vorgefallen war. Viel später würden Oscar und Alvine von dem blutigen Sonntag im Januar vor dem Winterpalais des Zaren erzählen hören. Sie nahmen jetzt an, dass es sich hauptsächlich um Übertreibungen handelte oder dass böse umstürzlerische Mächte zu Recht zurückgeschlagen worden waren.

      Im Februar gebar Alvine ihre dritte Tochter. Sie wurde Irma genannt. In diesen Tagen gingen in Samara Gerüchte um über Ereignisse, die sich auf dem Land am gegenüberliegenden Ufer zugetragen hatten. Einige große Güter waren von hungernden Bauern geplündert und in Brand gesetzt worden.

      An stillen Tagen konnte man weit hinten die Rauchsäulen erkennen. Die Brandherde rückten immer näher. Eines Nachts loderten die Flammen aus einem großen brennenden Hof direkt vor der Stadt.

      Niemand sah Erika je weinen

      Die