Название | Das Erbe von Samara und New York |
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Автор произведения | Erik Eriksson |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783944369099 |
Eines Sonntags gingen die Mädchen zusammen mit Karl Gustaf und dessen jüngerem Bruder Fredrik, der auch begonnen hatte, in der Messerfabrik zu arbeiten, spazieren. Fredrik war erst dreizehn Jahre alt, aber er war derjenige, der am meisten redete. Er fragte, wollte wissen, wie Hedvig die Arbeit gefiel, die Menschen, denen sie begegneten, deren Kleidung. Glaubte Hedvig an Gott? Niemand hatte das bisher gefragt. Aber natürlich glaubte man wohl an Gott? War das so selbstverständlich? Hedvig wollte auf Fredriks Frage nicht antworten. Sie hatte ein wenig darüber nachgedacht, es gab so viel, was nicht stimmte. Warum ließ der gute Gott Menschen leiden, wenn er so allmächtig war? Später sollte sie lesen, dass Gelehrte diese Frage gestellt hatten, dass Gottes Existenz von anderer Seite, als sie selbst gedacht hatte, angezweifelt werden könne. Das bestärkte sie in ihrer Überzeugung, dass sie Recht hatte. Aber jetzt war sie erst fünfzehn Jahre alt und ging an einem schönen Sommerabend zusammen mit ihrer Schwester und zwei netten Jungen am Eskilstuna-Fluss spazieren.
Sie setzten sich auf den Boden, um auszuruhen. Karl Gustaf setzte sich direkt neben Hedvig. Sie spürte seine Hand im Gras. Er berührte ihre Hand ganz leicht. Als sie aufstanden, um weiterzugehen, hielt Karl Gustaf Hedvigs Hand fest. Aber er sagte nichts.
Den ganzen Sommer über hielten sie an ihren Spaziergängen fest. Meist an Sonntagen, aber auch an warmen Wochentagen. Manchmal kühlten sie ihre Füße im Fluss, ehe sie wieder weitergingen. An ihrem Weg lag ein Café, aber sie konnten es sich nicht leisten, dort einzukehren. Sie gingen vorbei, betrachteten die Paare, die dort mit ihren Kaffeetassen und ihrem Kuchen saßen, meist fein angezogene Damen und Herren, aber auch der ein oder andere Arbeiter.
Im Mai und im Juni machten sie alle vier ihre Spaziergänge gemeinsam. Im August gingen Hedvig und Karl Gustaf meist alleine.
Eines Abends legte Karl Gustaf seinen Arm um Hedvigs Schulter. Ihr gefiel es.
Ende des Monats schrieb Hedvig einen Brief nach Hause an ihre Mutter in Råberga. Sie berichtete, dass es ihr und der Schwester gut gehe, dass sie etwas besser als zuhause verdienten, dass aber trotzdem nicht viel übrig blieb, nachdem sie bei ihrem Onkel für Kost und Logis bezahlt hatten. Wie ging es der Familie? Waren alle gesund? Hatte man etwas von ihrem Bruder Carl aus Amerika gehört?
Der Brief war nicht lang geworden. Hedvig schrieb hauptsächlich aus Pflichtgefühl. Sie hatte nicht oft an ihre Familie gedacht, das Neue war so anders, füllte sie aus. Und dann dachte sie ständig an Amerika. Sie hatte eine Anzeige in einem Schaufenster gesehen. Die billigste Fahrkarte kostete fünfundsiebzig Kronen.
Wie sollte sie diese enorme Summe jemals zusammenbekommen?
Eines Abends sprach sie mit Karl Gustaf über Amerika. Hatte er nicht auch einmal daran gedacht hinüberzufahren? Hier zuhause konnte man ja nichts verdienen, man bekam gerade genug Geld für das Essen zusammen, darüber hinaus blieb nichts übrig. Aber in Amerika würde man sich genug zusammensparen können für ein Haus und eine gesicherte Zukunft.
Karl Gustaf hatte wohl auch darüber nachgedacht, aber er war nicht bereit, sich festzulegen. Wollte er denn arm bleiben, niemals irgendetwas erreichen?
»Ich weiß es noch nicht genau«, antwortete er.
»Ich selbst habe mich entschlossen«, sagte Hedvig.
»Aber da drüben kann es wohl gefährlich werden.«
»Ja, aber es kann auch richtig gut werden.«
»Ja, sicher.«
Mehr wurde nicht gesagt. Hedvig fand, dass Karl Gustaf ziemlich ängstlich war. Er war sicherlich ein guter Kamerad, ein netter und anständiger Junge. Sie mochte ihn wirklich, aber es wäre schön gewesen, wenn er auch ihre Sehnsucht nach Abenteuer verspürt hätte.
Fredrik verstand sie besser. Er konnte über die große neue Welt phantasieren. Er war neugierig auf das Unbekannte, er war mehr wie Hedvig.
Aber sie hatte sich nun einmal mit Karl Gustaf zusammengetan. Es wurde ein milder Herbst. Selten hatte man in Eskilstuna so viele Äpfel gesehen. Gärten und Wiesen waren gelb und rot von den verschiedenen Apfelsorten. Die reifen Früchte drückten die Äste nieder, lagen zuhauf auf dem Boden oder warteten darauf, gepflückt zu werden. Hedvig und Hulda aßen viele, alle schenkten ihnen Äpfel, die Preise auf dem Markt waren niedrig wie selten zuvor. Aber warum sollte man kaufen, wenn man sie umsonst bekommen konnte? Im Oktober regnete es häufig, aber das milde Wetter hielt an. Die Leute hatten fast vergessen, was Kälte bedeutete. Das war der Apfelherbst nach dem warmen Sommer.
Hedvig erhielt einen Brief von zuhause. Er war kurz. Ihre Mutter berichtete, dass Carl geschrieben habe, aber sie schrieb nichts darüber, was in seinem Brief stand. Sie schrieb auch nichts über Vaters Krankheit.
Hedvig dachte, dass das vielleicht bedeuten könne, dass es dem Vater besser ging. Sie wusste jedoch auch, dass es das Gegenteil bedeuten konnte.
»Wenn wir nur Geld hätten, könnten wir ihnen etwas schicken«, sagte Hedvig.
»Wie schickt man Geld?«, fragte Hulda.
»Im Brief, glaube ich.«
»Aber wenn es unterwegs wegkommt?«
»Wir haben ja doch nichts, was wir schicken könnten.«
»Aber wenn wir es hätten.«
Sie redeten nicht über die Krankheit ihres Vaters. Sie waren beunruhigt, wollten jedoch nichts sagen. Sie sprachen stattdessen darüber, dass sie Geld schicken könnten, Geld, das sie nicht besaßen.
In der ersten Novemberwoche schrieb Hedvig ihrem Bruder nach Boston. Sie berichtete, dass sie in Eskilstuna arbeite und dass sie sich nun entschlossen habe, nach Amerika zu fahren. Wenn sie mehr Geld zusammengespart habe, würde sie es ihren Bruder wissen lassen. Sie bat ihn, die Angelegenheit ihren Eltern gegenüber nicht zu erwähnen, wenn er schrieb. Sie wollte es ihnen selbst sagen. Als sie den Brief abgeschickt hatte, erzählte sie es Hulda.
»Ich fahre, sobald ich kann«, sagte sie, »aber das kann noch lange dauern, ich habe ja das Geld für die Fahrkarte nicht.«
»Bist du sicher, dass du das Richtige tust?«
»Ich werde es nicht bereuen, wie immer es auch ausgehen mag.«
»Wie kannst du so sicher sein?«
»Es ist in mir gereift, jetzt weiß ich, dass es gehen wird, das ist wie eine große Gewissheit.«
»Hast du das Karl Gustaf erzählt?«
»Nein, noch nicht, aber ich werde es ihm sagen.«
»Glaubst du, dass er mitkommen will?«
»Ich hoffe es, aber er muss diesen Entschluss selbst fassen.«
Karl Gustaf wurde an einem Sonntag sechzehn Jahre alt. Hedvig hatte eine hübsche Karte mit einem bunten Blumenboot gekauft. Sie schrieb einen Glückwunsch auf die Rückseite, band eine rote Schleife um die Karte und überreichte sie Karl Gustaf, als sie wie üblich an diesem Sonntagnachmittag spazieren gingen. Weil es ein Festtag war, gingen sie in das Café, tranken Kaffee und aßen je ein Stück Zuckerkuchen. Sie hielten einander unter dem Tisch an den Händen. Danach gingen sie noch ein Stück am Fluss entlang, wo die Weiden vor Feuchtigkeit trieften und kahl dastanden. Hedvig erzählte von ihren Amerikaplänen. Karl Gustaf sagte, er wolle noch warten, bis er sich endgültig entschließen könne.
»Aber ich möchte, dass wir uns als verlobt betrachten«, sagte er.
Sie standen ganz dicht beieinander, blickten einander in die Augen, ohne zunächst etwas zu sagen.
»Als Verlobte?«, fragte Hedvig.
»Ja, dass wir zusammengehören.«
»Das möchte ich gerne.«
Karl Gustaf ergriff wieder Hedvigs Hand. Sie gingen schweigend weiter.
Zu