Название | Diakonie - eine Einführung |
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Автор произведения | Christoph Sigrist |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783290176747 |
Wie lange, HERR! Willst du mich ganz vergessen?
Wie lange verbirgst du dein Angesicht vor mir?
Wie lange soll ich Sorgen tragen in meiner Seele,
Kummer in meinem Herzen, Tag für Tag?
Wie lange noch soll mein Feind sich über mich erheben?
Sieh mich an, erhöre mich, HERR, mein Gott.
Mache meine Augen hell, damit ich nicht zum Tod entschlafe,
damit mein Feind nicht sage: Ich habe ihn überwältigt,
meine Gegner nicht jauchzen, dass ich wanke.
Ich aber vertraue auf deine Güte,
über deine Hilfe jauchze mein Herz.
Singen will ich dem HERRN,
denn er hat mir Gutes getan.
Geklagt wird in drei Richtungen: 1. Gegenüber dem einen Gott, der als für alles zuständig erachtet wird. Klagen sind insofern immer Gebete. 2. Im Blick auf sich selbst, und zwar mit ganz allgemeinen, stereotypen Aussagen, die auch heute von Leid Geplagten Sprache verleihen können. 3. Gegenüber den Feinden, indem schonungslos ausgesprochen wird, was alles als das eigene Leben bedrohend und als verängstigend erfahren wird.
Die überlieferten Klagepsalmen sind bis auf den heutigen Tag immer wieder benutzte Gebete, obwohl die Antworten Gottes genauso wie die Riten, in die die Gebete einst eingebunden waren, nicht überliefert sind. Die Klagen können für sich stehen, weil in ihnen die authentische Stimme der sozial, wirtschaftlich, kulturell und gesundheitlich Bedrängten zu hören ist. |55| Nach Herbert Haslinger kommen in den Klagen «die Stimmen der von Not betroffenen Menschen authentisch zu Gehör. Folglich muss das Klagen in der Diakonie notwendig einen Ort haben und die Ermöglichung des Klagens in sich als eine Realisierung der Diakonie gesehen werden.»72
Nicht nur die Klage an und für sich gehört zur Hilfekultur Israels. Das bedeutsame Moment liegt im Öffentlichmachen privater Not. Denn «diese Öffentlichkeit der menschlichen Anklage und des göttlichen Zuspruchs, bei der die Notsituation aus dem Raum des individuellen Erlebens der betroffenen Person herausgeholt, in den Raum der Gesellschaft hineingestellt und so zur Sache aller wird, kann eine Hilfe sein, den Mechanismus von Notlage, gesellschaftlicher Isolierung und existentieller Bedrohung aufzubrechen».73
Tempelplatz und Vorhof waren öffentliche Räume der Klage. Weniger Trostzuspruch oder Segenswort, sondern vielmehr die Möglichkeit öffentlicher Klage auf öffentlichen Plätzen war das Hilfreiche, was religiöses Handeln anzubieten hatte.74 Diese Vernetzung von individueller Ohnmachtserfahrung und öffentlicher, kollektiv wahrgenommener Klage kann gesellschaftlichen Zusammenhalt restituieren und Sprachlosigkeit überwinden helfen.
3.1.7 Gottes Sein als Mit-Sein in Solidarität
Die Möglichkeit der Klage steht auf dem Hintergrund der Gewissheit, dass der Gott Israels ein Gott ist, der sich für die sozial Schwachen engagiert. Ein klassischer Ausdruck dieser wichtigen Verbindung von Gott und sozialem Engagement ist in Psalm 82 zu finden:75
|56| Gott steht in der Gottesversammlung, inmitten der Götter hält er Gericht: Wie lange wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Schafft Recht dem Geringen und der Waise, dem Elenden und Bedürftigen verhelft zum Recht. Rettet den Geringen und den Armen, befreit ihn aus der Hand der Frevler. Sie wissen nichts und verstehen nichts, im Finstern tappen sie umher, es wanken alle Grundfesten der Erde. Ich habe gesprochen: Götter seid ihr und Söhne des Höchsten allesamt. Doch fürwahr, wie Menschen sollt ihr sterben und wie einer der Fürsten fallen. Stehe auf, Gott, richte die Erde, denn dein Eigentum sind die Nationen alle.
Ohne auf die bis in die spätexilische Zeit verbreitete religionsgeschichtliche Vorstellung eines Pantheon (einer himmlischen Götterversammlung), zu dem der Nationalgott Israels dazugehörte, eingehen zu können, fällt die direkte Verbindung von Eintreten für den Elenden mit dem Gottsein Gottes auf. Gottes Gottsein wird hier verstanden als sein Mit-Sein in Solidarität.76 So also denken und reden die sozial Schwachen, die kleinen Leute wie auch die gebildeten Theologen über Gott: «Im Ringen der Armen und Elenden um ihr Leben und ihr Recht, im Kampf gegen die sie unterdrückenden Frevler, geht es um nichts Geringeres als um das Gottsein Gottes.»77 Denn die Wahrheit des göttlichen Anspruchs erweist sich eben darin, dass Gott mit den Geringen und Elenden solidarisch ist und ihnen zu ihrem Recht verhilft – ihnen, die ihre Not in öffentlicher Klage vor Gott bringen. Damit zeigt sich nochmals die diakonische Bedeutung, die dem Errichten öffentlicher Räume für die Klage über erfahrene Not zukommt.
|57| Aus alttestamentlicher Perspektive ist im Blick auf helfendes Handeln grundlegend festzuhalten:
Helfen orientiert sich weithin an den überlieferten moralischen Sitten und Gebräuchen, die über Israel hinaus im Alten Orient für das Zusammenleben in Sippe und Volk anerkannt waren. Man hilft, weil man weiss, was gut und recht ist (vgl. Mi 6,8).
Diese Praxis mitmenschlicher Solidarität und Nächstenliebe entwickelt sich zu einer Kultur sozialen Engagements, die sich auf Rechtssätze stützt. Helfen orientiert sich am Rechtsanspruch der sozial, politisch und kulturell Benachteiligten und greift über das private Engagement im Rahmen des Sippenverbandes hinaus. «Während die Liebe stets an das Subjekt des Handelnden gebunden bleibt, formuliert das Recht eben ein Recht des Betroffenen, des potentiellen Opfers. Dieses Recht sollte nach biblischer Tradition gerade nicht (allein) auf die manchmal schwankende Liebe, schon gar nicht die von Einflussreichen und Mächtigen gegründet werden.»78
Durch die Interpretation des Anspruchs der sozial Schwachen als Wille und Gebot Gottes wird helfendes Handeln in einem weiteren Kontext begründet. Zugleich gewinnt dadurch der Glaube an Gott, der sein Gottsein durch das Engagement für die Armen und Geringen erweist, ein besonderes theologisches und soziales Gepräge. Der Arme, der Gefangene und die Kranke, die Hungrige werden nicht nur Aufforderung zu helfendem Handeln, sondern zum Gegenstand theologischen Nachdenkens über Gottes Gottsein, und das gottesdienstliche Feiern am Sabbat lässt sich nicht mehr trennen von sozialer Verantwortung im Alltag. Gottes- und Nächstenliebe durchdringen sich aufs Engste.79
Es kann jedenfalls nicht übersehen werden, dass wir es beim Alten Testament in ausgeprägtem Mass mit einer «diakonisch ausgerichteten Schriftensammlung sozialer Gerechtigkeit und Barmherzigkeit»80 zu tun haben, die eine nicht zu unterschätzende, bleibende Bedeutung für diakonisches Handeln in der jüdischen, aber auch in der christlichen Tradition hat.
|58| 3.1.8 Eine frühjüdische Vision sozialen Handelns
Bevor wir uns den neutestamentlich-christlichen Aspekten zuwenden, sei mindestens noch ein kurzer Hinweis auf das diakonische Handeln des hellenistischen Judentums zur Zeit Jesu gegeben. Die Bedeutung des hellenistischen Judentums für die Diakonie liegt nach Klaus Berger darin, dass über die Überwindung der Volksgrenzen und die universale Ausweitung der praktizierten Nächstenliebe nachgedacht wird. Mehr noch: Praktische Nächstenliebe wird bei Philo von Alexandria zum Inbegriff der Gerechtigkeit.81
Eine eindrückliche Vision von dem Glauben entsprechendem sozialem Handeln zeigt sich in dem zwischen 100 v. Chr. und 100 n. Chr. entstandenen Testament des Hiob. In dieser Schrift wird Hiob als ein zum Judentum bekehrter Heide beschrieben. Ausgehend vom Hiobbuch der Bibel (vgl. Hiob 31,16 f.; 19,31 f.) wird gleichsam eine Vision vorbildlich organisierter Fürsorge beschrieben:
Es waren aber bei mir auch Tische in meinem Haus aufgestellt – dreissig an der Zahl und ständig zu allen Stunden, allein für Fremde. Ich hatte aber auch andere zwölf Tische für Witwen dastehen. Und wenn ein Fremder herantrat, Almosen zu erbitten, musste er erst an dem Tisch gespeist werden, bevor er das Benötigte empfing. Und ich gestattete nicht, dass man aus meiner Tür hinausging mit leerem Beutel. – Ich hatte 3500 Joch Rinder, und ich suchte daraus 500 Joch heraus und stellte sie zum Pflügen bereit, das einer auf jeglichem Acker machen konnte von denen, die sie nahmen. Und den Ertrag sonderte ich ab für die Armen zu ihrem Tisch. Ich hatte 50 Backöfen,