Diakonie - eine Einführung. Christoph Sigrist

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Название Diakonie - eine Einführung
Автор произведения Christoph Sigrist
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783290176747



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Ziels. Im sozialen Bereich erfolgt solch eine Intervention in der Regel als Beitrag zur Behebung einer Problemlage bzw. zur Befriedigung eines grundlegenden Bedürfnisses, das ohne fremde Hilfe nicht gestillt werden kann. Herbert Haslinger beschreibt solche Problemlagen als Situationen, «in denen Menschen unter einer aufgezwungenen Einschränkung von Lebensmöglichkeiten leiden, welche eine erfüllte individuelle Lebensführung bzw. eine gleichberechtigte Teilnahme am sozialen Geschehen erschwert oder verhindert».43 Dabei wird deutlich, dass die Frage, ob eine Situation als Problemlage angesehen wird oder nicht, nicht einfach objektiv beantwortbar ist, sondern immer mit kulturellen und individuellen Vorstellungen zusammenhängt. Ob Kinderlosigkeit in diesem Sinne ein Problem ist, dürfte in China, in Schweden und in Südafrika unterschiedlich gesehen werden, wie es auch innerhalb ein und desselben Landes von verschiedenen Paaren unterschiedlich empfunden werden dürfte. «Ganz offenbar ist es eine Frage der Interpretation, der Betrachtungsweise, ob eine bestimmte Wirklichkeit als soziales Problem bezeichnet wird oder nicht. Anders gesagt: Situationen oder Lebenslagen sind nicht in sich und von vornherein soziale Probleme, sondern werden als solche definiert» und «in einem sozialen bzw. letztlich gesellschaftspolitischen Definitionsprozess als solche durchgesetzt».44

      Helfen beinhaltet dann all jene Aktivitäten, durch die jemand eigene Handlungsmöglichkeiten einsetzt, um den Mangel an Handlungsmöglichkeiten auszugleichen, der aufseiten derjenigen Person besteht, die sich mit dem betreffenden Problem konfrontiert sieht und dessen Lösung wünscht.45

      Hilfe kann gewährt werden46

       |39| als Vermittlung von Gütern zur Behebung eines Mangels,

       als Vermittlung von Dienstleistungen, z. B. Therapien zur Behebung von krankhaften Zuständen,

       als Anleitung zum Handeln,

       als Beratung zur Orientierung oder Entscheidungsfindung,

       als Begleitung zwecks Ermutigung und Unterstützung oder

       als Engagement für gerechte, menschenwürdige Lebensbedingungen.

      Sie bezieht sich je nachdem auf den ökonomischen, rechtlich-politischen, sozialen, pädagogischen, psychischen oder somatischen Bereich. Wenn man Seelsorge als Teilbereich der Diakonie versteht, kann sich Hilfe auch auf den spirituellen Bereich beziehen.

      Sie kann erfolgen

       als spontane Tat,

       als planmässig organisiertes, professionelles Verfahren (z. B. einer Sozialarbeiterin),

       als Dienstleistungsangebot einer Institution (z. B. eines Heims) oder

       als öffentliche Einrichtung (z. B. Sozialversicherungen).

      Dabei erfolgt Hilfe aus unterschiedlicher Veranlassung oder Motivation:

       aus einer empfundenen moralischen Forderung heraus,

       aufgrund der Bestellung einer entsprechenden, zu vergütenden Dienstleistung,

       aufgrund eines Rechtsanspruchs.

      Idealtypisch lassen sich drei Modalitäten des Helfens unterscheiden:

       die Gabe (v. a. in archaischen Gesellschaften, wobei Reziprozität impliziert ist),

       das Almosen (in höher entwickelten Gesellschaften ist diese Art des hierarchischen Helfens ohne Erwartung irgendwelcher Reziprozität der Prototyp der guten, verdienstlichen Tat47) und

       die moderne, organisierte, professionalisierte, monetarisierte und bürokratisierte Hilfe, auf die zum Teil ein Rechtsanspruch besteht.

      In diesem sehr breiten, allgemeinen Sinn sprechen wir im Folgenden von Diakonie als einer vielfältigen Praxis solidarisch-helfenden Handelns.

      Auf einen letzten Punkt sei hier noch hingewiesen. Er hat zwar nicht die Bedeutung einer methodischen Grundentscheidung, dürfte aber für die Perspektive, die wir im Folgenden einnehmen, und für manche Akzente, die wir setzen, nicht ganz unerheblich sein: Wir schreiben aus einem schweizerisch-reformierten Kontext.

      Fast alles, was heute an diakoniespezifischer, insbesondere diakoniewissenschaftlicher Literatur auf Deutsch geschrieben wird, steht auf dem Hintergrund der Diakonieverhältnisse in Deutschland mit einer stark abgestützten, flächendeckend präsenten, institutionellen Diakonie, die Tausende von Institutionen und Hunderttausende von Mitarbeitenden umfasst.48 Etwas Vergleichbares gibt es in der Schweiz nicht; viele der ursprünglich als diakonische Werke entstandenen sozialen Institutionen sind inzwischen von der öffentlichen Hand übernommen worden. Auch gibt es keinen nationalen Zusammenschluss diakonischer Werke.49 Davon, dass die diakonischen Institutionen zusammen das Gewicht von so etwas wie einem eigenen Wohlfahrtsverband hätten, kann nicht die Rede sein.

      Auch wenn es uns nicht darum geht, uns von anderen Ausprägungen diakonischer Praxis und theologischer Diakonie-Reflexion in anderen Kontexten grundsätzlich abzugrenzen, sind wir uns doch bei der Ausarbeitung der folgenden Kapitel je länger je mehr bewusst geworden, wie sehr die institutionelle Realität und die gesellschaftliche Praxis, die uns umgibt, unsere Perspektive prägt. Neben der im Vergleich mit Deutschland völlig andersartigen Diakonielandschaft gehört dazu, dass wir in einem Land leben, das zwar weitgehend säkularisiert und zunehmend religiös pluralistisch ist, aber immer noch stark von einer christlich-volkskirchlichen Tradition geprägt wird. Es mag durchaus sein, dass z. B. vor dem Erfahrungshintergrund osteuropäischer Diakonie, die noch stark unter den Nachwehen eines jahrzehntelangen, militant atheistischen gesellschaftlichen Kontextes steht, ein stärkeres Bedürfnis nach einer sich dezidiert christologisch begründenden und vom nichtchristlichen Kontext abgrenzenden Diakonie besteht. Insofern ist unsere Perspektive zweifellos durch unseren Kontext bestimmt, der nicht für alle anderen repräsentativ und normativ sein kann.

      Schliesslich werden die theologisch sensibilisierten Leserinnen und Leser unseres Buches wohl da und dort herausspüren, dass unser kirchlicher |41| Hintergrund reformiert, nicht lutherisch ist.50 Dazu kommt, dass wir uns auf die evangelische Diakonie-Tradition beschränkt haben; wir sind uns bewusst, dass dadurch die Entwicklung der katholischen Caritas-Praxis wie auch das diakonische Wirken anderer Konfessionen nicht gebührend gewürdigt werden können. Auch das wollen wir transparent machen. Denn es ist unseres Erachtens einfacher, ein faires Gespräch mit anderen Positionen zu führen, wenn man von vornherein offenlegt, woher man kommt und was die eigene Perspektive mit bestimmt.

      |45| 3. Biblische Grundlagen

      3.1 Alttestamentliche Perspektiven

      Im alttestamentlichen Kontext geschieht helfendes Handeln in mancherlei Form. Wir wenden uns im Folgenden drei spezifischen Aspekten zu: Hilfe geschieht einmal als individuelles soziales Handeln zwischen Personen in vielfältigsten Lebenslagen, und zwar meist im Horizont einer Grossfamilie. Das unmittelbare mitmenschliche Hilfehandeln erfährt sodann im Laufe der Zeit eine Erweiterung in kodifiziertem Recht. Eine besondere alttestamentliche Form von Hilfe kann schliesslich in der Errichtung öffentlicher Räume für die Klage erfahrener Not gesehen werden.

      Hilfe kommt im Alten Testament vor allem als Lebenshilfe im Rahmen der Familien- bzw. Sippensolidarität in den Blick. Solidarisches Handeln kam in diesem gesellschaftlichen Kontext ohne spezielle Institutionen und Expertenwissen aus. Die Sippe war in vorstaatlicher wie auch in staatlicher Zeit lange der einzige Bezugsrahmen, der Leben und Überleben ermöglichte. Beispiele solch gelebter Solidarität sind etwa die sogenannte Schwager- oder Leviratsehe (Dtn 25,5–10), also die Verpflichtung eines Mannes, beim vorzeitigen Tod seines Bruders dessen verwitwete Frau zu heiraten, damit deren soziale Einbindung und materielle Absicherung gewährleistet blieb; oder das Gebot, Vater und Mutter zu ehren