Название | Diakonie - eine Einführung |
---|---|
Автор произведения | Christoph Sigrist |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783290176747 |
Auch die Goldene Regel ist – wie die vorgängig beschriebenen «Grosstexte der Diakonie» – Ausdruck eines universalen Ethos, denn sie traut «jedem Einzelnen in seiner Freiheit und Verantwortung zu, […] Ausprägungen der Goldenen Regel im alltäglichen Leben zu verwirklichen».122
3.2.6 Gegenseitigkeit als Strukturprinzip des Helfens
Das wechselseitige Annehmen und das gegenseitige Anteilgeben und Sich-Unterstützen, das in eine relativ enge Lebensgemeinschaft mündet, die mindestens ein Stück weit auch das Teilen ökonomischer Ressourcen einschliesst, sind von Beginn an zentrale soziale Gestaltungskräfte der christlichen Gemeinden.123 Daraus entwickelten sich relativ unhierarchische, solidarische Gemeinschaftsformen unter Menschen aus mehrheitlich niedrigen sozialen Schichten, die das Zusammenleben als ‹Leib Christi› in einem Geist der Gegenseitigkeit und Geschwisterlichkeit zum Ausdruck brachten.124 Dabei wurden bewusst Positionsbezeichnungen vermieden, die einzelne Mitglieder der Gemeinschaft über andere erhoben hätten.125 Männer taten sich bisweilen mit dieser antihierarchischen Struktur schwer (Mk 10,35–45). Verbunden mit dem Abbau der ungleichen Beziehungsstrukturen war der Aufbau solidarischer Gemeinschaftsformen von unten, die auf gegenseitige Unterstützung und Teilen in geistlichen wie materiellen Belangen Wert legten. Klassisch dafür sind etwa die zwei Summarien, in denen Lukas die Lebenssituation der Jerusalemer Urgemeinde beschreibt:
|74| Alle Glaubenden hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte. (Apg 2,44 f.)
Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. […] Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land oder Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen und es wurde einem jeden zuteil, was er nötigt hatte. (Apg 4,32–35)
Mit dieser sicher idealisierend überzeichneten, aber sich dennoch auf eine historische Realität stützenden126 Charakterisierung des Lebens der Urgemeinde wollte Lukas bei gebildeten griechischen Lesern seines Werks wohl bewusst Erinnerungen an eine verbreitete Vorstellung antiker Philosophie von der idealen, gerechten Gesellschaftsform hervorrufen und so die Attraktivität des christlichen Lebensentwurfs ins rechte Licht rücken. Immerhin weist Gerd Theissen darauf hin, dass das Urchristentum gerade wegen seiner karitativen Leistungen und solidarischen Gemeinschaftsstruktur grosse Anziehungskraft auf seine Umwelt ausübte und dass «in einer Welt mit schwach entwickelten sozialen Sicherungssystemen der soziale Bedarfsausgleich in den Gemeinden Schutz gegen die Grundrisiken des Lebens bot».127 Theissen hat aufgezeigt, dass im Unterschied zur griechischen Antike, in der Wohltätigkeit primär ein aristokratisches Phänomen war und im sozialen Gefälle von oben nach unten praktiziert wurde, urchristliche Hilfe «im wesentlichen horizontale Solidarität war – eine Intensivierung der Hilfe unter Gleichgestellten.»128 Indem einfache Menschen die aristokratische Spendermentalität übernahmen (vgl. das von Paulus zitierte Jesuswort: «Geben ist seliger als nehmen», Apg 20,35), vollzogen sie selbstbewusst so etwas wie eine «Demokratisierung aristokratischer Wohltätermentalität».129 Kleine Leute nehmen auf einmal die Möglichkeit wahr, zu Wohltätern füreinander zu werden.130
|75| Damit bekommt helfendes, solidarisches Handeln einen stärker egalitären, auf Gegenseitigkeit tendierenden Zug. Das deckt sich auch mit der exegetischen Beobachtung von Gerhard Lohfink, wonach in den Aufforderungen zu prosozialem Verhalten in der neutestamentlichen Briefliteratur das Reziprokpronomen «einander» (allēlōn) eine wichtige Rolle spielt: So werden die Christen aufgefordert, einander Ehre zu erweisen (Röm 12,10), einander anzunehmen (Röm 15,7), einander zurechtzuweisen (Röm 15,14), füreinander zu sorgen (1Kor 12,25), einander zu trösten (1Thess 5,11), einander Gutes zu tun (1Thess 5,15), einander Gastfreundschaft zu erweisen (1Petr 4,9) usw.131
Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei der sogenannten ökumenischen Kollekte, die Paulus im Einflussbereich der von ihm gegründeten heidenchristlichen Gemeinden sammelt, um mit ihrer Hilfe die materiell verarmte Jerusalemer Urgemeinde finanziell zu unterstützen. Sie zeigt deutlich, wie Paulus christliche Gemeinschaft auch zwischen entfernten Gemeinden als einen Ausgleich des Nehmens und Gebens versteht. Hilfe ergeht nicht unidirektional von den Starken/Reichen zu den Schwachen/Armen, sondern in Gegenseitigkeit: Die jetzt verarmte Jerusalemer Urgemeinde, von der das Evangelium ausging, gab den griechischen, heidenchristlichen Gemeinden Anteil an ihrem geistlichen Reichtum; entsprechend ist es nichts als recht, wenn die heidenchristlichen Gemeinden den Jerusalemern nun ihrerseits etwas von ihrem materiellen Reichtum geben (Röm 15,26 f.). Ziel der Spendensammlung für die Jerusalemer Gemeinde ist nach Paulus das Herstellen eines Ausgleichs: «Im jetzigen Zeitpunkt möge euer Überfluss ihren Mangel aufwiegen, damit auch ihr Überfluss euren Mangel aufwiege, so dass es zu einem Ausgleich kommt» (2Kor 8,14). Für das hier sich zeigende Verständnis von Hilfe ist beides zentral: der Gedanke des Ausgleichs und der Gesichtspunkt der Gegenseitigkeit, denn darin spiegelt sich nach Paulus der egalitäre Grundzug christlicher Geschwisterlichkeit.132
Dieser Ansatz der Gegenseitigkeit (Mutualität) wurde in den letzten Jahrzehnten von der feministischen Theologie aufgenommen. In der exegetischen Arbeit am Begriff diakonein entfaltete Elisabeth Schüssler |76| Fiorenza den Begriff der «Gleichheit von unten»,133 und in Bezug auf die Sozialarbeit entwirft Ina Praetorius die Grundsätze einer Ethik der Gegenseitigkeit, in der «Freiheit und Dienst gegenseitig gewährt und geleistet werden».134 Nur so ist gutes Überleben für alle möglich. Eine menschenfreundliche Kultur des Helfens im Sinne von helfen und Hilfe erhalten trägt in sich die gegenseitige Bezogenheit von Bedürfnis und Möglichkeit. Das diakonische Handeln gründet sich in diesem vor allem in der paulinischen Literatur für das Kirchenbild prägenden Ansatz der gegenseitigen Anteilnahme und Erbauung.
3.2.7 Diakonie als allgemeine christliche Berufung und als kirchliches Amt
Gegenseitiges Helfen und gegenseitige soziale Unterstützung, wie wir sie bisher beschrieben haben, waren in der Urchristenheit eine Grundstruktur des gemeinsamen Lebens und lagen insofern in der Verantwortung und in der Möglichkeit aller Gemeindeglieder, denen man dies auch zutraute. Alle sollen sich an dieser gemeinsamen solidarischen Verbundenheit beteiligen, jeder und jede «entsprechend dem, was jemand hat» (2Kor 8,12).
Dafür brauchte es anfänglich weder spezielle Strukturen, Institutionen noch spezialisierte Amtsträger. Solidarisches Helfen war ein Grundzug gemeinsamer Lebenspraxis, und zwar ein für das Sein christlicher Gemeinden wesentlicher Grundzug.135 Erst mit der Zeit entwickelte sich eine Gemeindestruktur, in der u. a. soziale Aufgaben an bestimmte, dafür speziell beauftragte Amtsträger übertragen wurden. «Diakon» als Amtsbezeicnung begegnet im Neuen Testament erstmals im Vorwort des Philipperbriefs,136 der wohl zwischen 56 und 58 n. Chr. verfasst worden sein dürfte. Ein eigentliches Diakonenamt begegnet aber erst in den Pastoralbriefen (1Tim 3).
Mit Ulrich Luz kann man festhalten: «Die spätere Zeit zeigt eine gewisse Tendenz zur Institutionalisierung: Lehre und praktische ‹Diakonie› |77| wurden im Amt des Bischofs bzw. der Diakoninnen und Diakone konzentriert, aber nicht einfach voneinander getrennt. Die Lehre gewann mehr und mehr einen gewissen Vorrang vor der Diakonie. Daneben aber bleibt die ganze Gemeinde zu Werken der Liebe, zur Gastfreundschaft, zur Fürsorge für die Armen aufgefordert. Deshalb ist die Diakonie bleibend eine ‹nota› der ganzen Kirche, in höherem Masse als die Lehre und die Theologie.»137
3.2.8 Zu Geschichte und Bedeutungsinhalten des Begriffs «diakonein»
Die Bedeutung, die unterschiedliche exegetische Positionen dem griechischen Begriff diakonia bzw. diakonein zuschreiben, hat Auswirkungen auf das Verständnis dessen, was Nachfolge, Nächstenliebe, Gemeindeordnung