Diakonie - eine Einführung. Christoph Sigrist

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Название Diakonie - eine Einführung
Автор произведения Christoph Sigrist
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783290176747



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der KriegssklavInnen.»58 Mit den Grundrechten ist nicht die auf dem westlich-abendländischen Menschenbild |50| fussende Rechts- und Gesellschaftsordnung gemeint. «So gab es unseren Begriff von Eigentum, der individuelle freie Verfügung beinhaltet, nicht. Es ging vielmehr um Nutzungsrechte Einzelner, aber zugunsten einer ganzen Sippe. […] Innerhalb der patriarchalen Herrschaftspyramide gibt es ein erschreckendes Ausmass von Verfügungsgewalt von Vätern über den Körper ihrer Töchter, von Männern über ihre Frauen. Der damalige Staat bemühte sich um die Schaffung eines für alle verbindlichen Rechts, hatte aber noch wenig Möglichkeiten, Rechtsbrüche zu kontrollieren und zu sanktionieren. Er blieb darin abhängig vom engmaschigen Netz der Sippenkontrolle. Trotz allem ist es eine ungeheure Arroganz, wenn wir deshalb meinen, dass altorientalische Kulturen kein Rechtsempfinden oder keine Utopie von Gerechtigkeit gehabt hätten.»59

      Die Inhalte der alttestamentlichen Sozialgesetze, die Gottes Liebe in klare Solidaritätsregeln gegenüber den sozial Schwachen und Benachteiligten giessen, erweitern das individuelle und soziale Helfen erheblich. Die Ausrichtung auf rechtliche Regelungen für das Helfen leistet an und für sich schon einen wichtigen Beitrag zu einer Hilfekultur.60 Frank Crüsemann hat in zwei grundlegenden Aufsätzen die Grundlinien alttestamentlicher Hilfekultur als Beitrag zu einem angemessenen Verständnis von Diakonie dargelegt.61 Sie sind auch für unsere Ausführungen wegleitend. Crüsemann ist überzeugt, dass die Diakonie vom alttestamentlichen Befund her dem «ausdrücklichen Bezug auf die den sozial Schwachen zustehenden Rechte und ihre deswegen anzuerkennenden Ansprüche»62 ein stärkeres Gewicht beimessen müsste.

      Der Schutz des Fremden ist eine der zentralsten Pflichten aller alttestamentlichen Rechtssammlungen.63 Die älteste Sammlung aus dem 8. Jh. v. Chr. hält in einer Zeit grösserer Flüchtlingsströme nach Juda und Jerusalem, die von der aggressiven Deportationspolitik der Assyrer ausgelöst wurden, sozusagen als Grundregel fest: «Einen Fremden sollst du nicht bedrängen und nicht quälen, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten» |51| (Ex 22,20; 23,9). Darin eingebettet werden die Rechte der Witwen und Waisen (Ex 22,21–23) sowie der Armen (Ex 22,24–26). Diese vier Sozialgruppen werden exemplarisch für die chronische Gefährdung bestimmter Menschen eingeführt, eine Typologie, die später durch die prophetische und deuteronomistische Tradition aufgenommen wurde, die gegen die Unterdrückung dieser sozial schwachen Gruppen ankämpfen.

      Der Schutz der Fremden wird radikal zugespitzt: «Ein und dasselbe Recht gilt für euch, für den Fremden wie für den Einheimischen» (Lev 24,22). Dieser Rechtssatz wird in Verbindung mit dem Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) nun zum Gebot der Fremdenliebe: «Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten; ich bin der HERR, euer Gott» (Lev 19,34). Die Evidenz des hier postulierten Rechts des Fremden auf Schutz liegt in der Erfahrung eigenen Fremdseins und dadurch gegebener Lebensbedrohung. Mit der Erinnerung an eigene Erfahrung des Fremdseins in Ägypten wird das Engagement für die Fremden, die nun dieselbe Erfahrung in Israel machen, gefordert. Dieser Motivationszusammenhang von eigener Erfahrung und Schicksal fremder Menschen wird zur ethischen Begründung eines der fundamentalsten Rechtssätze in Israel. Und schliesslich wird dieses Gebot im autoritativen Zuspruch Gottes begründet: «Ich bin der HERR, euer Gott». In der ganz weltlich-praktischen Solidarität gegenüber dem Nächsten und dem Fremden erweist sich nach israelitischem Glauben nichts weniger als die Anerkennung des Gottseins Gottes und die Respektierung seines Willens.

      Als Typos für auf Hilfe Angewiesene ist in der hebräischen Bibel oft von «Armen» die Rede. Wer ist nun im engeren Sinn die Gruppe, die mit diesem Begriff umschrieben wird? Die so umschriebenen Personen sind wohl nicht einfach besitzlose und obdachlose Outsider auf der untersten sozialen Stufe. Sie sind offenbar frei, aber verarmt und überschuldet, obwohl sie noch Land besitzen. Diese Kleingrundbesitzer, die durch ihre Verschuldung abhängig werden, riskieren, in eine Form von Schuldsklaverei zu geraten (Lev 25,39). Sie sind es, die mit dem Begriff «arm» im engeren Sinn bezeichnet werden.64 Diese Abhängigkeit geisselt der Prophet Amos, wenn er die Reichen kritisiert, dass «sie den Gerechten verkaufen für Geld und den |52| Armen für ein Paar Schuhe» (Am 2,6). Öffnet man den Blick auf die Gruppe der als «Arme» im weitesten Sinn bezeichneten Personen, so können auch Witwen, Waisen und Fremde unter diese Kategorie fallen. Die Hauptursache der Verarmung liegt dabei im Verlust des Versorgers sowie im Verlust der Heimat.65

      Im Deuteronomium wird nun zum ersten Mal ein umfassendes sozialrechtliches Konzept entwickelt, durch das zwei Gruppen der Gesellschaft speziell sozial gesichert werden sollen. Die eine Gruppe sind die Armen, die andere die Landlosen. Normativer Leitgedanke dabei ist, dass der Reichtum, der durch Gottes Gabe und menschliche Arbeit entsteht, durch die gerechte Partizipation aller zum Segen und zum Wohlstand führen soll.

      Im Blick auf die Landlosen, die nicht an Land und Reichtum teilhaben, wird das Gesetz über den Zehnten eingeführt: «Vom ganzen Ertrag deiner Saat sollst du den Zehnten geben, von dem, was auf dem Feld wächst, Jahr für Jahr, und du sollst vor dem HERRN, deinem Gott, […] den Zehnten deines Korns, deines Weins und deines Öls verzehren» (Dtn 14,22 f.). In jedem dritten Jahr soll diese Steuer des Zehnten an Menschen ohne Grund- und Erbbesitz ausbezahlt werden. So wird den Leviten, Witwen, Waisen und Fremden die Existenz gesichert (Dtn 14,28 f.). «Das ist die erste Sozialsteuer der Weltgeschichte, die Urzelle rechtlicher und staatlicher Verantwortung für die Schwächsten aus dem allgemeinen Steueraufkommen.»66 Nach Frank Crüsemann kann man diese Steuer sozialpolitisch nicht hoch genug einschätzen: «Dass alle Besitzenden und Produzierenden eine regelmässige Abgabe in Form einer Steuer zugunsten der materiell Ungesicherten und sozial Schwachen leisten sollen, diese also dadurch einen festen und geregelten Unterhalt haben, wird hier zum ersten Mal formuliert.»67 Diese Sozialsteuer des Zehnten ist eine der grundlegenden, schriftlich tradierten rechtlichen Regelungen zur Sicherung der materiellen Existenz von Landlosen.

      Ebenso grundlegend ist das Zinsverbot. «Leihst du Geld dem Armen aus meinem Volk, der bei dir ist, so sei nicht wie ein Wucherer zu ihm. Ihr sollt ihm keinen Zins auferlegen» (Ex 22,24). Das Verbot kommt neben |53| dem Bundesbuch noch in veränderter Gewichtung und Form an zwei weiteren Stellen vor, im deuteronomistischen Gesetzbuch (Dtn 23,20 f.) und im Heiligkeitsgesetz (Lev 25,35–38). Alle drei Stellen verbieten, unter Volksgenossen Zinsen zu nehmen. So soll vermieden werden, dass der, der ein Darlehen aufnehmen muss, immer tiefer in den Strudel der Verarmung und Verschuldung gerät.68

      Der Schuldenerlass ist das dritte Instrument, um gegen die Verarmung anzukämpfen. Armut ist eine Falle, aus der verschuldete Menschen oft nicht mehr herauskommen. Deswegen ist ein regelmässiger Schuldenerlass vorgesehen: «Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass gewähren. Und so soll man es mit dem Schuldenerlass halten: Jeder Gläubiger soll das Darlehen erlassen, das er seinem Nächsten gegeben hat. Er soll seinen Nächsten und Bruder nicht drängen, denn man hat einen Schuldenerlass ausgerufen zu Ehren des HERRN […] Was du aber deinem Bruder geliehen hast, das sollst du ihm erlassen. Doch Arme wird es bei dir nicht geben, denn der HERR wird dich segnen in dem Land, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbbesitz gibt» (Dtn 15,1–4).69

      Solche grundlegenden rechtlichen Regeln konnten in der Zeit des Königs Joschija, in der viele von ihnen schriftlich formuliert wurden, aber auch bei seinen Nachfolgern faktisch kaum durchgesetzt werden. Es blieb also eine spannungsvolle Differenz zwischen sozial gerechtem Sollen und realpolitischem Sein, zwischen moralisch-theologischem Anspruch und gelebter Praxis.70 Dennoch wurden diese Regeln interessanterweise als Teil der Tora Israels weiter überliefert und nicht als realpolitisch nicht implementierbar wieder ausgeschieden. Sie wurden weiter überliefert, offenbar als bleibende kritische Anfrage an reale gesellschaftliche Verhältnisse und als Impuls zu |54| deren Humanisierung in Richtung auf mehr soziale Gerechtigkeit und weniger menschliche Not und Verelendung.

      Nach Frank Crüsemann ist «für die Menschen der Bibel die Klage die erste, wichtigste und alles andere erst ermöglichende Reaktion auf sie treffende Nöte. Wer in aktuelle Not gerät, klagt – laut, unüberhörbar, massiv, wild. Nahezu ein Drittel der