Название | Diakonie - eine Einführung |
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Автор произведения | Christoph Sigrist |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783290176747 |
In der weithin üblichen Fokussierung auf die neutestamentlich-jesuanischen Grundlagen diakonischen Handelns spiegelt sich eine lange Tradition bedenklicher Überheblichkeit des Christentums gegenüber dem Judentum, die sich als fruchtbarer Nährboden für Antijudaismus und Antisemitismus erwiesen hat. Krass kommt das in Gerhard Uhlhorns Standardwerk über «Die Christliche Liebesthätigkeit» (1896) zum Ausdruck. Der erste Band wird mit der vielzitierten These eröffnet: «Die Welt vor Christo ist eine Welt ohne Liebe.»21 Angesichts der unbestreitbaren Tatsache, dass das Judentum schon vor Christus eine breite Tradition der Fürsorge |33| und Wohltätigkeit kannte,22 behauptete Uhlhorn etwa im Blick auf das karitative Engagement der Pharisäer schlicht: «Die Pharisäer geben Almosen, aber ohne Liebe.»23 Solche extremen Urteile scheinen uns heute abstrus. Dennoch sollte man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dahinterliegende Vorstellung tiefe Spuren hinterlassen hat. Anders wäre kaum zu erklären, was Frank Crüsemann noch 1990 zu Recht beklagte, dass nämlich «eine solche Sicht bis heute nachwirkt und in der nahezu ausschliesslich neutestamentlich bestimmten theologischen Grundlage von Diakonie nachhaltig zum Vorschein tritt».24 Wie nachhaltig diese neutestamentlich-christologische Engführung auch bei modernen diakoniewissenschaftlichen Ansätzen wirkt, wird vor allem in Kap. 5 noch ausführlich zu zeigen sein.25
Ausdruck solcher einseitigen Spuren sind die einleitenden Sätzen des Diakonielehrbuchs von Reinhard Turre, wenn er zwar zugibt, dass «zur biblischen Grundlegung (der Diakonie) auch die alttestamentliche, besonders die prophetische Mahnung gehört, dass der Glaube an Gott sich zu bewähren habe in der Hilfe für die Schwachen und Kranken», dann aber sogleich die Behauptung anfügt, dass «erst im Neuen Testament eine neue Qualität des Dienstes beschrieben und verlangt wird», weshalb es nach seiner Ansicht durchaus legitim und sinnvoll ist, den biblischen Rückbezug auf eine Darstellung der Diakonie im Neuen Testament zu beschränken.26
Ein solcher einseitiger Bezug auf die biblischen Grundlagen muss, wie noch zu zeigen sein wird, unweigerlich zu einem in wesentlichen Punkten defizitären Diakonieverständnis führen. In unserem Fragen nach einer |34| angemessenen theologischen Deutung solidarischer Mitmenschlichkeit als Basis für ein heutiges Diakonieverständnis beziehen wir uns darum dezidiert auch auf Perspektiven des Alten Testaments, von denen sich zeigen wird, dass sie von einer «Qualität» und Weite sind, die teilweise sogar über das hinausgeht, was das Neue Testament in diesen Fragen zu sagen hat. Klaus Müllers Hinweis gilt es jedenfalls zu beherzigen: «Diakonia – ohne Zweifel ein griechisches Wort – atmet hebräisches Denken!»27 Es scheint allerdings, dass in den letzten Jahren an diesem Punkt ein positives Umdenken eingesetzt hat, was sich etwa an der breiten Darstellung alttestamentlicher Grundlagen der Diakonie im Lehrbuch von Herbert Haslinger zeigt.28
2.3 Beim allgemein-menschlichen Helfen einsetzen
Schliesslich werden wir bei der Frage nach einer theologischen Deutung solidarischer, in praktischem Handeln sich äussernder Mitmenschlichkeit den Blick mit Absicht nicht sogleich auf das spezifisch christliche Helfen richten, sondern ernst nehmen, dass Helfen zuallererst einmal etwas Urmenschliches ist, ein allgemein-menschliches Phänomen, das als solches in seinen vielfältigen Formen wahr- und ernst genommen werden muss – bei Christen und Juden, bei Vertretern anderer Religionen und bei Atheisten gleichermassen. Man kann geradezu sagen, dass wir es beim Phänomen des Helfens bzw. beim Hilfebegriff mit einer «anthropologischen Universalie und Urkategorie des Gemeinschaftshandelns»29 unter Menschen zu tun haben.
Ob Menschen, die andern Menschen aus christlicher Motivation, mit einer christlich-theologisch geprägten Perspektive oder in kirchlichem Kontext helfen, dies anders tun als anders motivierte Menschen in einem nicht spezifisch christlichen Kontext, ist demgegenüber eine sekundäre Frage. Primär geht es darum, mitmenschliches Helfen gerade in seinem allgemein-menschlichen Charakter theologisch ernst zu nehmen und zu deuten. Nur auf dieser Basis kann ein angemessenes Diakonieverständnis gewonnen werden, das theologisch breit genug fundiert ist, damit Diakonie sich in der |35| Praxis nicht überheblich oder ängstlich von andern Formen helfenden Handelns in unserer pluralistischen Gesellschaft abzugrenzen braucht.
Theologisch geht es dabei darum, Diakonie bzw. helfendes Handeln nicht, wie es meist geschieht, christologisch zu deuten, also als Ausdruck eines spezifischen Christus-Glaubens, sondern schöpfungstheologisch, das heisst als Ausdruck einer Fähigkeit zu solidarisch-helfendem Handeln, die Gott allen Menschen immer schon mitgegeben hat und die deshalb quer durch alle Religionen und Weltanschauungen hindurch zu finden ist. Einer der ganz wenigen, die unmissverständlich klar gemacht haben, dass helfendes Handeln primär schöpfungstheologisch gedeutet werden muss, ist der Neutestamentler Gerd Theissen. Leider ist sein Hinweis, «dass über Hilfe zunächst im Rahmen der Schöpfung nachgedacht werden muss», weil «Hilfe ein allgemein menschliches Phänomen ist und – theologisch gesprochen – zur Schöpfung gehört»,30 bisher noch zu wenig ernst genommen worden. Für unser Diakonieverständnis, das wir in diesem Buch darstellen, ist Theissens Hinweis jedenfalls massgebend.31 Wir bestreiten damit keineswegs, |36| dass im Neuen Testament zuweilen auch andere Begründungsansätze für helfendes Handeln vorkommen,32 vertreten aber die Meinung, dass für unsere heutige Situation in einem zugleich säkularen und multi-religiösen gesellschaftlichen Kontext allein eine schöpfungstheologische Begründung, die Helfen als allgemein-menschliches Phänomen versteht, tragfähig ist und die zahlreichen fragwürdigen Überhöhungen christlich motivierten Helfens vermeiden kann, von denen in Kap. 5 die Rede sein wird.
2.4 Zum Begriff des Helfens
Will man ganz knapp umschreiben, worum es der Diakonie geht, so stösst man auf Definitionsvorschläge wie denjenigen von Herbert Haslinger: «Diakonie ist das christliche Hilfehandeln zugunsten notleidender Menschen.»33 Es geht also ganz fundamental um Helfen in seinen vielfachen Formen. Nun kann man sich fragen, ob Helfen wirklich der beste Begriff ist, um das auszudrücken, was hier gemeint ist. Christiane Burbach und Friedrich Heckmann weisen darauf hin, dass der Begriff des Helfens «obsolet geworden ist in der Diskussion um die Professionalisierung der im Sozial- und Gesundheitswesen Tätigen»,34 und auch Ralf Hoburg geht davon aus, dass der Begriff des Helfens für die Sozialarbeitswissenschaft grundsätzlich als überholt gilt.35 Aber nicht nur der Begriff als solcher steht zuweilen infrage; das Phänomen des Helfens grundsätzlich wurde in den |37| vergangenen Jahrzehnten aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch hinterfragt.36 Müsste vielleicht eher von solidarischem Handeln gesprochen werden oder von prosozialem Verhalten oder – in stärker theologisch orientierter Perspektive – von Praxis der Nächstenliebe? Es zeigt sich allerdings rasch, dass alle derartigen Begriffe ihre je besonderen Stärken und Grenzen haben. Letztlich kommt es immer darauf an, was man unter welchem Begriff auch immer versteht; und das ergibt sich aus dem sprachlichen Zusammenhang, in dem solche Begriffe stehen und aus den Phänomenen, die sie beschreiben.
Wir haben uns entschlossen, als Grundbegriff bei dem alltags- wie fachsprachlich geläufigen «Helfen» und verwandten Ausdrücken (helfendes Handeln, Hilfe) zu bleiben, weil sie allen Einwänden zum Trotz universell tauglich zu sein und sich als berufsgruppenübergreifender Universalcode sogenannt helfender Berufe durchzusetzen scheinen.37 Auch Helmut Lambers hält sich in seiner jüngsten Geschichte der Sozialen Arbeit «Wie aus Helfen Soziale Arbeit wurde» an diese Sprachregelung, selbst im Blick auf entsprechende Phänomene in modernen und spätmodernen Gesellschaften.38 Sogar unter Exponenten von Positionen, die fundamentale Kritik an klassischen Formen institutionellen Helfens üben, wird nach einer «neuen Kultur des Helfens» gefragt,39 wobei diese durchaus auch gesellschaftlich-politisches Engagement mit einschliesst. Anika Christina Albert hat unlängst in einer umfangreichen Studie über «Perspektiven einer Theologie des Helfens»40 gezeigt, wie die Begrifflichkeit des Helfens interdisziplinär Anknüpfungspunkte bietet und von daher durchaus geeignet ist, die damit bezeichnete Wirklichkeit als ein verschiedene Disziplinen übergreifendes Phänomen verständlich zu machen.41 Im Übrigen wechseln wir in diesem Buch bewusst zwischen Helfen/Hilfe, solidarischem Handeln, prosozialem |38| Verhalten und ähnlichen Begriffen ab, um so ein breites semantisches Feld abzustecken, innerhalb dessen deutlich wird, was Diakonie als «christliches Hilfehandeln zugunsten notleidender Menschen» meint.42
Helfen kann ganz allgemein-formal definiert werden