Название | Diakonie - eine Einführung |
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Автор произведения | Christoph Sigrist |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783290176747 |
Für helfendes Handeln erweist sich das Ethos der selbstverständlichen Gastfreundschaft immer wieder als massgebend. Die Gastfreundschaft, insbesondere gegenüber Fremden, gehört zur allgemeinen altorientalischen Kultur und kommt in der Szene des Besuchs der drei Fremden beim Erzvater Abraham und seiner Frau Sara exemplarisch zum Ausdruck (Gen 18,1 ff.). Helfen heisst, Fremde als Gäste aufnehmen, sie mit Höflichkeit und Respekt behandeln, ihnen Schutz, Obdach und Speise gewähren. Die eigene Erfahrung von Fremdsein und Angewiesensein auf die Gastlichkeit Einheimischer prägt dabei die ganze Geschichte der Erzväter (Abraham: Gen 17,8; 23,4; Isaak: Gen 26,3; Jakob: Gen 28,4) sowie die Exodus-Tradition (Ex 6,4).
Exemplarisch für Notsituationen, die zu helfendem Handeln herausfordern, werden einerseits immer wieder Menschengruppen genannt, die ihre fundamentalen Lebensbedürfnisse nicht selbst abdecken können: Hungrige etwa, die darauf angewiesen sind, dass jemand ihnen Nahrung gibt, oder Nackte, die der Kleidung bedürfen (Ez 18,7). Andererseits kommen stereotyp Menschen in den Blick, die selbst nicht rechtsfähig und darum besonders leicht zu manipulieren und zu unterdrücken sind: Fremde, Witwen und Waisen (Jer 7,6).51
Die Funktion des Helfens im Blick auf in Not geratene Menschen wird nicht nur als selbstverständliche Pflicht jedes Israeliten verstanden. Beispielhaft dafür stehen weise Frauen oder Ratgeberinnen. Neben Prophetinnen kennt die alttestamentliche Tradition «weise» Frauen, die sich in politischen Notsituationen hilfreich einmischen und sich so massgeblich für die Rettung von Menschenleben einsetzen (vgl. 2Sam 14,1 ff.; 20,14 ff.). Explizit wird erwähnt, dass Frauen bei der Geburt helfen (Ex 1,15–22), Fluchthilfe betreiben (Jos 2), diplomatische Verhandlungen führen und durch weise Vermittlungsarbeit Konflikte für das ganze städtische Gemeinwesen schlichten (1Sam 25; 2Sam 20,14–22) sowie Fremde aufnehmen (1Kön 17).52
|47| Der explizite Auftrag des Helfens wird jedoch auch exemplarisch der Funktion des Königs zugeschrieben. In Psalm 72 wird das Idealbild eines Königs entworfen und von ihm erwartet, dass er «Recht schaffe den Elenden des Volkes, helfe den Armen und zermalme die Unterdrücker. […] Denn er rettet den Armen, der um Hilfe schreit, den Elenden, dem keiner hilft. Er erbarmt sich des Schwachen und Armen, das Leben der Armen rettet er. Aus Bedrückung und Gewalttat erlöst er ihr Leben» (Ps 72,4.12–14). Die Ausübung von Herrschaft wird an der Hilfekultur und Sorge im Blick auf die Armen gemessen.53 Die Kategorie Arme umfasst dabei sehr weit verstanden Menschen in irgendwelchen Situationen von Not und Bedrängnis.
3.1.2 Das Gebot der Nächstenliebe
Zentral für das alttestamentliche Ethos ist das Gebot der Nächstenliebe in Lev 19,18: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Herbert Haslinger macht deutlich, dass dieses Gebot «nichts von der individualistischen Pflege eines harmlosen, diffusen Sympathiegefühls an sich hat, aber – wie an seiner Rückbindung an die eigene Person (‹wie dich selbst›) abzulesen ist – auch nichts von der Naivität einer altruistischen Aufopferungsideologie. Die unmittelbar vorausgehenden bzw. nachfolgenden Bestimmungen zur Armenfürsorge (Lev 19,9 f.), zum Verbot von Diebstahl und Meineid (Lev 19,11 f.), zum Verbot der Ausbeutung und Schädigung Schwacher (Lev 19,13 f.), zum Verzicht auf Parteilichkeit oder Verleumdung (Lev 19,15 f.), zum Respekt vor Alten (Lev 19,32), zur Fremdenliebe (Lev 19,33 f.) und zur Ehrlichkeit vor Gericht (Lev 19,35 f.) definieren die Qualität des Gebots der Nächstenliebe. Es ist eingebunden in das Bemühen um Gerechtigkeit speziell für sozial benachteiligte Menschen und zielt auf die Verwirklichung einer solidarischen, humanen Gesellschaft, die getragen ist von dem Bewusstsein, dass jedem Menschen gleiche Würde und gleicher Wert zukommen.»54 Meint der Begriff Nächster hier wohl primär den Volksgenossen (unter Einschluss der in Israel ansässig gewordenen Fremden), tendiert die geforderte Haltung solidarischer Liebe doch ganz entschieden |48| dazu, die engen Volksgrenzen zu sprengen, was sich daran zeigt, dass in Lev 19,34 das Gebot der Nächstenliebe mit der gleichen Redewendung zum Gebot, den Fremden zu lieben, erweitert wird: «Du sollst ihn (sic. den Fremden) lieben wie dich selbst.»
Diese Haltung von Lev 19 macht deutlich – v. a. wenn sie noch zusammen gesehen wird mit Dtn 6,5 («Du sollst den HERRN, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft») –, dass die für das Diakonieverständnis verhängnisvolle Behauptung Gerhard Uhlhorns, das Liebesgebot sei eine christliche Neuerung, weil die Welt vor Christus eine Welt ohne Liebe gewesen sei,55 vollkommen verfehlt ist. Im Gegenteil erweist sich das sogenannte Doppelgebot der Liebe, das immer wieder als christliches Proprium gedeutet wurde, als eindeutiges Erbe des Alten Testaments.
3.1.3 Theologisierung sozialer Forderungen
Im Verlauf der Reflexion und Verschriftung der mündlichen Tradition wurden die vorerst einmal einfach als weise erfahrenen und ethisch evidenten Forderungen an ein humanes Zusammenleben theologisiert, d. h. als in Gottes Willen und im göttlichen Gebot begründet interpretiert. «Es ist nicht zufällig, dass das biblische Liebesgebot der krönende Abschluss einer Reihe von Schutzbestimmungen für die Armen, die Fremdlinge, die Tagelöhner, die Tauben und die Blinden ist (Lev 19,9–18); und es ist auch nicht zufällig, dass biblische Rechtssetzungen und Gebote im Laufe der Entwicklung immer deutlicher religiös verstanden wurden, nämlich als Entsprechungen zum Handeln Gottes. Der barmherzige und gnädige Gott (Ex 34,6; Ps 103,8 etc.) selbst verschafft den Waisen und Witwen ihr Recht, liebt die Fremden und gibt ihnen Nahrung und Kleidung (Dtn 10,18). Er ist Vater der Waisen und Anwalt der Witwen (Ps 68,6). Sein Verhalten gilt es nachzuahmen.»56
Helfen beinhaltet Handlungen, die die Tendenz zeigen, die individuelle bzw. die Sippenmoral zu überschreiten. Das in der israelitischen Gesellschaft sich manifestierende Gefälle zwischen reich und arm wurde zuerst einmal durch den moralischen Appell an die Wohltätigkeit der Reichen zu lindern versucht: «Denn es wird immer Arme geben im Land, darum gebiete ich dir: Du sollst deine Hand willig auftun für deinen bedürftigen und armen Bruder in deinem Land» (Dtn 15,11).
|49| Weisheitliche Texte begründen die Evidenz der den Armen geschuldeten Hilfe schon früh in der Königszeit mit der Einbettung allen Lebens in den Schöpfungszusammenhang: «Reiche und Arme begegnen sich, erschaffen hat sie alle der Herr» (Spr 22,2). Es ist fundamental mit dem Menschsein gegeben, dass einer, der dem Armen das kärgliche Brot vorenthält, ein Blutsauger ist (Sir 34,25). Wer dem Mitmenschen den Unterhalt wegnimmt, ist ein Mörder (Sir 34,26). Und wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält, vergiesst Blut (Sir 34,27 f.). Helfen gehört fundamental zum Menschensein, hat in der Sippe seinen Ort und wird von ausgewiesenen Personen oder dem König vermehrt erwartet. Mit Manfred Oeming ist allerdings auch festzuhalten: «Sozialhilfe in Form von Mildtätigkeit für die Unterschicht ist nichts Spezifisches für Israel, eher allgemein altorientalisch, besonders im Kontext der Königsideologie, ja, allgemein menschlich. Die diakonischen Ansätze sind in den gesellschaftlichen Verhältnissen nur bescheiden entwickelt; Israel war eine hierarchische, auch ökonomisch elitär organisierte Agrargesellschaft, in die kaum demokratische Strukturen oder ein gesicherter Mittelstand implantiert waren. Vieles, ja alles wird vom König oder vom kommenden Messias erwartet, statt klare Programme zu entwickeln.»57
3.1.4 Die Erweiterung individuellen Helfens zu Ansprüchen kodifizierten Rechts
In der Tradition des Alten Testaments liegen neben vielfältigen ethischen Handlungsprinzipien vor allem ausformulierte Grundsätze sozialen Rechts vor. Silvia Schroer weist auf «die drei grossen Säulen der israelitischen Religion und Theologie» hin: Gesetz, Propheten und Schriften. «Alle drei Traditionskreise haben sich mit den Grundrechten von Menschen befasst, vorab mit den Grundrechten von