Diakonie - eine Einführung. Christoph Sigrist

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Название Diakonie - eine Einführung
Автор произведения Christoph Sigrist
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783290176747



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(Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28), das Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner (Lk 10,30–37), die Rede vom Weltgericht (Mt 25,31–46) und die sogenannte Goldene Regel (Mt 7,12; Lk 6,31). Herbert Haslinger spricht im Blick auf die ersten drei von «neutestamentlichen Grosstexten der Diakonie».97

      Dieses Gebot in seiner Gestalt als Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe kommt in allen drei synoptischen Evangelien vor (Mt 22,34–40; Mk 12,28–34; Lk 10,25–28).98 Seine zentrale Bedeutung zeigt sich schon daran, dass es im Matthäusevangelium als höchstes Gebot und zugleich als Quintessenz von Gesetz und Propheten, also des ganzen Alten Testaments bezeichnet wird (Mt 22,38 f.).99 In seiner lukanischen Variante lautet es: |64| «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst» (Lk 10,27). Es wird im Kontext extra darauf hingewiesen, dass dies keine neue, jesuanische oder christliche Sicht sei, sondern alte israelitische Tradition, die Jesus bestätigt: «Tu das, und du wirst leben» (10,28).

      Die Bedeutung dieses Gebots lässt sich in Anlehnung an Herbert Haslinger100 in den folgenden fünf Punkten zusammenfassen:

       Die dem Nächsten gegenüber geforderte Liebe hat nicht viel mit unserem modernen, stark von der Romantik geprägten Verständnis von Liebe zu tun. Man muss den Nächsten nicht mögen, nicht sympathisch finden, um ihn zu lieben. Nicht um eine emotionale Verbundenheit geht es, sondern sehr viel nüchterner um die Bereitschaft zu konkretem, solidarischem Handeln angesichts einer bestimmten Notsituation, in der sich ein Mitmensch befindet.101

       Das Gebot ist ganz allgemein formuliert: Es fokussiert auf den Mitmenschen schlechthin, ob er jetzt Nahestehender oder Fremder ist, Freund oder Feind. Die Ausrichtung ist also universal, meint aber vor allem den notleidenden Mitmenschen.

       Diese universale Stossrichtung bringt es mit sich, dass Nächstenliebe im Extremfall auch die Feindesliebe mit einschliesst, von der Mt 5,43–48 in der Bergpredigt Jesu bzw. Lk 6,27 f.32–36 in Jesu Feldrede sprechen. Auch hier gilt: Nächstenliebe dem Feind gegenüber heisst nicht, ihn zum Freund zu gewinnen. Er bleibt ein Feind, ein Gegner, ein Konfliktpartner. Aber er soll auch als Feind fair, human behandelt werden: als Nächster oder Mitmensch eben.

       Die ganz irdisch-profane Nächstenliebe, also das solidarische, hilfsbereite Verhalten zum Mitmenschen in einer konkreten Notsituation, wird aufs Engste mit der religiösen Gottesliebe verbunden. Gott lässt sich nicht am helfenden Handeln gegenüber notleidenden Menschen vorbei lieben. Christliche Spiritualität kann es nicht geben ohne Solidarität |65| in sozialem Engagement.102 Herbert Haslinger pointiert: «Das Handeln dessen, der Nächstenliebe praktiziert, hat in sich und aus sich heraus – und nicht erst durch einen separaten ‹religiösen› Akt – die Qualität eines Handelns gemäss dem Willen Gottes.»103

       Nächstenliebe, wie sie in Jesu Gebot gefordert wird, setzt Selbstliebe voraus. Es geht nicht darum, den Nächsten anstatt oder auf Kosten meiner selbst zu lieben, sondern «wie mich selbst». Dahinter wird man die fundamentale menschliche Erfahrung und Erkenntnis vermuten dürfen, dass die Fähigkeit zur Liebe nur wächst, wenn jemand sowohl frei ist zu sich selbst als auch von sich selbst und dadurch für den Nächsten.

      Dem Gebot der Nächstenliebe schliesst sich im Lukasevangelium unmittelbar das Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner an,104 das in der Diakonie- und Kirchengeschichte Menschen durch alle Jahrhunderte zum Helfen inspiriert hat. Es wird von Jesus als Antwort auf die Frage eines Schriftgelehrten, wer denn konkret sein Nächster sei, den er zu lieben habe, erzählt.

      Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter die Räuber. Die zogen ihn aus, schlugen ihn nieder, machten sich davon und liessen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab, sah ihn und ging vorüber. Auch ein Levit, der an den Ort kam, sah ihn und ging vorüber. Ein Samaritaner aber, der unterwegs war, kam vorbei, sah ihn und fühlte Mitleid. Und er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm. Dann hob er ihn auf sein Reittier und brachte ihn in ein Wirtshaus und sorgte für ihn. Am andern Morgen zog er zwei Denare hervor und gab sie dem |66| Wirt und sagte: Sorge für ihn! Und was du darüber hinaus aufwendest, werde ich dir erstatten, wenn ich wieder vorbeikomme. Nach dieser Antwort fragte Jesus den Schriftgelehrten: Wer von diesen dreien meinst du, ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden? Der sagte: Derjenige, der ihm Barmherzigkeit erwiesen hat. Da sagte Jesus zu ihm: Geh auch du und handle ebenso. (Lk 10,30–36)

      Das Gleichnis besteht aus einer alltäglichen Geschichte, deren Weltlichkeit in der Theologiegeschichte meist nicht ausgehalten und die deshalb oft allegorisch zu einer theologischen Geschichte uminterpretiert wurde.105 Die von Gott erwartete und von Jesus als vorbildlich dargestellte Nächstenliebe des hilfsbereiten Samaritaners wird rein profan beschrieben, ohne dass religiöse Züge dabei zu entdecken wären: Wir hören nichts von einer religiösen Motivation des Samaritaners, nichts von einem seelsorglichen, religiösen Zuspruch für den Verwundeten, es wird kein Gebet gesprochen, kein Segen erteilt, keine spirituelle Heilung vollzogen. Der Überfallene erhält einfach Zuwendung und praktische Massnahmen Erster Hilfe; dann wird er in ein Wirtshaus gebracht, wo er in Sicherheit ist und weitere Betreuung erfährt. Gerd Theissen konstatiert zutreffend: «So paradox es klingt: Die klassische Erzählung zur Begründung christlicher Hilfsmotivation, die Samaritergeschichte, gibt wenig zur Begründung einer spezifisch christlichen Hilfsmotivation her. Und sie gibt erst recht nichts her, um eine allgemein-menschliche Hilfsmotivation abzuwerten. Im Gegenteil! Die Geschichte kann als Aufforderung an uns verstanden werden, Hilfsmotivation bei allen Menschen zu entdecken und anzuerkennen. Hilfsmotivation ist souverän gegenüber kulturellen und religiösen Grenzen.»106

      Es ist wohl kein Zufall, dass die grossen Vorbilder helfenden Handelns im Neuen Testament nicht als Jesus-Jünger dargestellt werden: Der Samaritaner ist kein Christ, nicht einmal ein als rechtgläubig geltender Jude.107 Die arme Witwe mit ihrer von Jesus als vorbildlich erklärten Spende ist Jüdin und keine Anhängerin Jesu (Mk 12,41–44). Der Hauptmann von Kafarnaum, der der einheimischen Bevölkerung hilft, indem er ihr eine Synagoge stiftet (Lk 7,1 ff.), ist Heide und politischer Feind. Der grossen Sünderin wird vergeben, weil es von ihr heisst, sie habe viel geliebt (Lk 7,47).

      |67| Das Entscheidende christlichen Helfens im Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner zeigt sich gerade in dem, was Eberhard Jüngel als «religiöse Anspruchslosigkeit» des Helfens bezeichnet hat; eine Anspruchslosigkeit, «die auch allem nichtchristlichen Handeln in Wahrheit eignet, die aber nur zu oft durch pseudoreligiöse Emphase verdeckt oder verdorben wird.» Denn «was der Christ für andere tut, das tut er eben. Er würde die Qualität seines Handelns nicht verbessern, sondern verderben, wenn er ihm einen religiösen Mehrwert an Bedeutung zuerkennt. Er würde damit die Würde des Selbstverständlichen zerstören, die alles gute Handeln auszeichnet.»108

      Damit ist auch schon gesagt, dass es nach diesem Gleichnis Jesu im Glauben nicht um irgendein theologisches Fürwahrhalten, inneres Gestimmtsein oder liturgisch-rituelles Praktizieren geht, sondern um konkrete Praxis der Nächstenliebe. Das ist die Antwort des Gleichnisses auf die Frage des Schriftgelehrten, was er tun müsse, um ewiges Leben zu erben (Lk 10,25). «Das Samaritergleichnis definiert die theologische Orthodoxie als diakonische Orthopraxie.»109

      Die Pointe des Gleichnisses liegt im Wechsel der Perspektiven hinsichtlich des Verständnisses dessen, wer als «Nächster» gilt. Der Schriftgelehrte fragt, wer denn sein Nächster sei (Nächster als Adressat von Hilfe), um den Kreis derer einzugrenzen, die als Nächste mit einem moralischen Anspruch auf Hilfe infrage kommen. Jesu Antwort kehrt die Perspektive um: Die Frage ist nicht, wer als Nächster einen Anspruch auf Hilfe an mich haben kann; die Frage ist vielmehr, von wessen Not ich mich so berühren lasse, dass sie mich zum Helfen herausfordert und ich so zum Nächsten des Notleidenden werde (Nächster als Subjekt des Helfens). Das aber heisst: Kein Mensch ist grundsätzlich von der Hilfe ausgeschlossen. Die Ausweitung des Gebots der Nächstenliebe bis hin zum Feind zeigt an: Es gibt