Diakonie - eine Einführung. Christoph Sigrist

Читать онлайн.
Название Diakonie - eine Einführung
Автор произведения Christoph Sigrist
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783290176747



Скачать книгу

sich die Frage, ob und inwiefern sich jemand tatsächlich als Nächster erweist, aus der Perspektive der hilfebedürftigen Person entscheidet, nicht aus der Sicht derjenigen, die helfen!110

      |68| Schliesslich ist an diesem Gleichnis die Zweistufigkeit der Hilfe bedeutsam: Zuerst hilft der Samaritaner ganz persönlich aus spontanem Mitleid mit dem Opfer des Überfalls. Aber sein beherztes Helfen ist punktuell und begrenzt: Er liefert den Verletzten so rasch als möglich im nächstgelegenen Wirtshaus ab und organisiert dort gegen Bezahlung die «stationäre» Weiterbetreuung des Mannes.111 Anderntags zieht der Samaritaner wieder fort. Helfendes Handeln braucht oft die Verbindung beider Formen: des spontanen persönlichen Einsatzes und der institutionalisiert-beruflichen Dienstleistung, um wirksam sein zu können. «Diakonie braucht die richtige Balance zwischen der Nähe emotionaler Berührtheit und der Distanz sachlicher Nüchternheit, zu der auch die Kunst des rechtzeitigen Heraustretens aus Hilfebeziehungen gehört.»112

      Die in Mt 25,31–46 dargestellte Rede Jesu vom Weltgericht, die zur Weltliteratur menschlicher Barmherzigkeit und Nächstenliebe gehört, entfaltet erneut das bereits in den beiden oben dargestellten «Grosstexten der Diakonie» deutlich gewordene, für das Verständnis von Diakonie so wichtige universalistische Ethos eines Helfens in «religiöser Anspruchslosigkeit». Geschildert wird die Szene des universalen Gerichts am Ende der Zeiten beim Kommen Jesu als Menschensohn.

      Dann wird er als königliche Richtergestalt denen zu seiner Rechten sagen: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, empfangt als Erbe das Reich, das euch bereitet ist von Grundlegung der Welt an. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt euch meiner angenommen. Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden ihm die Gerechten |69| antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen, oder nackt und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen? Und der König wird ihnen zur Antwort geben: Amen, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. (Mt 25,34–40)

      Die folgenden Verse 41–46 stellen spiegelbildlich das verwerfende Urteil über diejenigen dar, die die entsprechenden sechs «Werke der Barmherzigkeit» den geringsten Brüdern vorenthalten haben.

      Dieser Text kann als «Magna charta» der Diakonie gelten. Mit Christoph Morgenthaler ist festzuhalten: «Konkrete Menschen tun in konkreten Situationen konkreten anderen Menschen konkret Gutes. Sie tun das so Allerselbstverständliche, Menschliche und doch so wenig Selbstverständliche.»113 Dass es hier um elementar menschliches Handeln geht, zeigt sich in vielen Parallelen zu diesem Katalog der «Werke der Barmherzigkeit» in anderen religiösen Schriften.114

      |70| Es ist das Verdienst des Neutestamentlers Gerd Theissen, anhand von Texten wie der Rede Jesu vom Weltgericht und deren Wirkungsgeschichte das universale Hilfehandeln ins Zentrum diakoniewissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt zu haben.115 Er unterscheidet zum einen eine universalistische Auslegungstradition der Weltgericht-Rede, bei der mit «alle Völker» alle Menschen gemeint sind, die unter dem Anspruch stehen, den notleidenden «geringsten Brüdern», also allen Notleidenden, beizustehen. Zum anderen eine partikularistische Auslegungslinie, derzufolge der Text Hilfeleistungen im Auge hat, die Nichtchristen, also Heiden, gegenüber Christen, insbesondere den urchristlichen Wandermissionaren, erbringen. Vermutlich hat der Text eine Geschichte durchgemacht. Ganz ursprünglich war wohl vom Gericht über Heiden (also Nichtjuden) aufgrund ihres Verhaltens gegenüber Juden die Rede. Diese Tradition könnte später mit dem Erfahrungshintergrund urchristlicher Wandermissionare verarbeitet worden sein, die von anderen Menschen unterstützt wurden. Diese Richtung wird in der exegetischen Forschung von Ulrich Luz bestätigt: Der Evangelist Matthäus hat in den notleidenden Brüdern nicht alle Menschen, sondern die notleidenden Jünger gesehen.116

      Matthäus kennt jedoch eine Transparenz der Erfahrungen der Jünger für das, was alle Menschen angeht. So stellt Theissen fest: «Die mt Gerichtsschilderung in Kap 25 vertritt zumindest tendenziell ein universales Hilfsethos. Der Stoff trägt die Spuren eines partikularistischen Hilfsethos: Heiden werden daran gemessen, wie sie Israeliten helfen. Hier gibt es noch eine |71| Binnengruppe und eine Aussengruppe. Im Rahmen des Matthäus-Evangeliums geht die Bearbeitung aber in eine universalistische Richtung. Alle sind mögliche Adressaten der Hilfe – und alle sind mögliche Subjekte der Hilfeleistungen.»117

      Drei Aspekte dieses Textes sind für ein am Neuen Testament orientiertes Verständnis von Diakonie besonders wichtig:

       Die vom Weltenrichter als «Gerechte» angesprochene Gruppe von Menschen hat die genannten Werke der Barmherzigkeit offensichtlich einfach aus spontanem menschlichem Mitgefühl heraus getan, ohne damit eine besondere religiöse Absicht zu verfolgen. Darum sind sie so erstaunt, dass ihnen dieses selbstverständlich anmutende, profane helfende Handeln als etwas angerechnet wird, das sie dem Weltenrichter selbst erwiesen haben. In dieser völligen «religiösen Anspruchslosigkeit» (E. Jüngel) deckt sich dieser Text mit dem Gleichnis vom hilfsbereiten Samaritaner.

       Die konkreten Taten mitfühlender Solidarität, an denen die Völker in dieser Gerichtsrede gemessen werden, sind keine ausserordentlichen, heroischen Leistungen. Es geht um ganz elementare zwischenmenschliche Hilfe zur Abdeckung der lebensnotwendigen Grundbedürfnisse. Mehr ist nicht verlangt. Es wird von niemandem verlangt, eine Mutter Theresa oder ein heiliger Franziskus zu werden. Der Rahmen des alltäglich-mitmenschlich Möglichen wird nicht gesprengt.

       In diesem Text geschieht – ähnlich wie im Samaritaner-Gleichnis – ein grundlegender Perspektivenwechsel: «Der Nächste ist nicht nur Gegenstand menschlicher Barmherzigkeit. Der Nächste ist Träger der Barmherzigkeit Gottes.»118 Dadurch gewinnt das hierarchische Gefälle der Hilfebeziehung zwischen starken Helfenden und schwachen Hilfe-Empfängern eine Umwertung: In der Begegnung mit den Notleidenden werden die Helfenden selbst zu Empfangenden: Sie begegnen Gott, der ihnen zugewandt ist, in dem ihr Heil gegründet ist. Denn die Hilfebedürftigen erscheinen nicht nur als defizitär, sondern als Ebenbilder Gottes, was ihnen Würde und Status verleiht.

      Auf einen vierten neutestamentlichen Schlüsseltext für ein angemessenes Diakonieverständnis weist Anika Christina Albert in ihren Perspektiven einer Theologie des Helfens hin: die Goldene Regel (regula aurea).119 Sie lautet: «Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!» (Mt 7,12; Lk 6,31).

      Albert findet diese Goldene Regel «für ein theologisch verantwortbares und interdisziplinär anknüpfungsfähiges Verständnis von Helfen […] von besonderem Interesse, da sie einerseits eine zentrale Maxime christlichen Handelns darstellt, andererseits aber auch in anderen kulturellen Kontexten nachgewiesen werden kann und gleichzeitig als allgemein ethisches Prinzip fungiert».120

      Dass diese Regel für Matthäus ein besonderes Gewicht besitzt, zeigt sich schon daran, dass sie genau wie das Doppelgebot der Liebe mit dem Hinweis versehen ist, darin bestehe das Gesetz und die Propheten. «Da die Formel ‹Gesetz und Propheten› die Gesamtheit der Forderungen Gottes benennt, lässt sich schliessen, dass bei Matthäus die Goldene Regel mit dem Doppelgebot der Liebe als Summe der göttlichen Forderungen gleichzusetzen ist. Damit kann sie als zusammenfassende Darstellung der Ethik Jesu in Form eines übergreifenden Handlungsprinzips angesehen werden.»121 Liebesgebot und Goldene Regel sollen sich offenbar gegenseitig interpretieren, wobei Letztere als Orientierungsprinzip fungiert, wie das Liebesgebot in konkretem helfendem Handeln situationsgerecht umgesetzt werden kann.

      Die Goldene Regel setzt voraus, dass Menschen in konkreten Situationen durch Einfühlen in die Situation einer anderen Person und durch vernünftiges Überlegen herausfinden können, wie sie anderen so gerecht werden können, dass es dem Gebot der Liebe entspricht. Dabei ist allerdings immer mitzubedenken, dass die Goldene Regel nur ein formales Prinzip ist: Ich möchte