Название | Vorspiele |
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Автор произведения | Markus A. Sutter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907468 |
In der Nacht schrillte das Telefon. Dem gebrochenen Deutsch entnahm er, dass sie gestorben und er zur Abdankung und zum Totenmahl eingeladen sei. Inständig habe sie um seine Anwesenheit gebeten. Wenn er einen der nächsten Nachtzüge nehme, bleibe genug Zeit. – Burger, in der einen Hand den Hörer, musste sich mit der anderen an der Wand abstützen. Wie ist sie denn …, wollte er anfangen, bemerkte aber sogleich die Unerträglichkeit der Frage. Weder für ihn noch für den Anrufer war jetzt ein Gespräch möglich. Wie in Trance stimmte er zu.
»Sicher«, sagte er. »Ja, mit dem Nachtzug. Ciao.«
Burger setzte sich. Er zog die Schirmlampe herunter, damit ihn die Glühbirne nicht blendete. Starrte in den gelben Steinholzbelag seiner Wohnstube. Fuhr mit zwei Fingern den verschmutzten Fugen in der Kirschholzplatte entlang, bis einer der Nägel brach.
Das Verhängnis hatte sich schon gestern angekündigt, als er mit der Standbahn auf den Kulm geflüchtet und mehr verstört als befreit worden war. Obwohl die Vorhersage klare Fernsicht in den Bergen angekündigt hatte, war der Himmel überschliert und die Novembersonne frostig. Die Wiesen mit den letzten sterbenden Blümchen schwammen im Schmelzwasser des ersten Schnees. Ein trudelnder Sommerfalter, der trotz wildem Flattern am Ende dem Eisschnee erlag, erschütterte Burger. Vor dem langsamen Ertrinken der Gondelbahn in der Nebelnacht erfasste ihn der Drang, über Bord zu gehen und auf den Wogen des Meeres zu treiben. Schon beschlug sich aber das Kabinenfenster und das Glas wurde milchig. Weit unten reihten sich die Fahrzeuge wie Grabsteine. An der Talstation wartete der Bus. Stur lotste der Fahrer seine Fracht unter dem verschleierten Licht der Strassenlampen durch den zähfliessenden Verkehr. An Burgers Haltestelle vergass er einzubiegen und entschuldigte sich nur der Form halber. Burger musste an sich halten, um nicht die Fassung zu verlieren. Auf dem Fussweg zurück wurde er von Ahnungen heimgesucht. Im Gespinst, durch das er sich tastete, verhedderte er sich und kam zu Hause an wie ein Verhafteter.
Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich jetzt. Erinnerungen brachen über ihn herein. Ereignisse von einst überfluteten ihn. Zwanzig, dreissig Jahre und mehr waren es her. Immer weiter zurück schien er gezerrt zu werden, immer tiefer in den Brunnen seines Gedächtnisses zu fallen. Orte, die ihn geprägt hatten, zogen an ihm vorbei. Ein Abbruchhaus. Ein Bauernhof in den Bergen. Ein Haus voller Kaninchen. Momente, die ihn einst zeichneten. Der Verlust der Sprache. Ein Konzert in der Turnhalle. Eine Nacht am Wehr. Es erschienen Menschen, die er verlassen und nie mehr gesehen hatte. Eine ganze Talschaft. Wohngemeinschaften. Eine Gruppe von Musikern. Dorfbewohner. Es wollte nicht enden.
Und immer wieder sie. Er hätte sich neben sie setzen, sie festhalten, sie in die Arme nehmen wollen. Eine Sehnsucht nach Wärme und Berührung überkam ihn, durchschüttelte ihn. Zu ungeduldig vielleicht. Zu eingeschränkt vom Drang und vom eigenen Unvermögen. Das Festhalten der Bilder wollte nicht gelingen. Seine eigene Geschichte durchquerte und verbarrikadierte den Weg zu ihr. Was blieb war das Gefühl der Trennung.
Von Weitem hörte er den Zeitungskurier. Wenn sich die Wagentür öffnete, wummerte Musik heraus. Je näher, desto lauter, desto tiefer der nachfolgende Fall in die Stille. Bei einem nächsten Stopp erschallte das Zeitzeichen, danach eine dröhnende Stimme mit den Nachrichten. Burger war gebannt vom Aufstossen und Zuschlagen der Tür. Erst das Scheppern des eigenen Milchkastens erlöste ihn.
Er begann mit den Vorbereitungen. Zuerst fing er an, einen Koffer zu packen, entschied sich dann aber doch für eine Tasche. Er ging zur Arbeit, organisierte eine Vertretung, für die er Dringlichkeitslisten und Lernprogramme erstellte. Der Rektor hatte ein Einsehen und gab ihm so viele Tage Urlaub, wie er benötigte. Er wünsche ihm alles Gute auf seiner Fahrt in die Vergangenheit, sagte er.
»Der Süden Italiens ist Neuland für mich«, stellte Burger klar.
»Umso vertrauter scheinst du mit der Verstorbenen gewesen zu sein.«
»Schon«, antwortete er und verabschiedete sich mit einem Wink der Hand.
Auf seiner Fahrt wollte Burger Ruhe haben. Den Mitreisenden aus dem Weg gehen. Sich ungestört in die alten Zeiten vertiefen und die Geschichten, die ihn mit ihr verbanden, in Erinnerung rufen. Der Nachtzug in zwei Tagen bot ein ganzes freies Abteil. Ohne Zögern griff er zu.
»Gute Reise, Herr Burger«, sagte die Bahnassistentin. »Geniessen Sie die Ferien.«
Die Taxifahrerin wartete bereits, der Motor lief, das Gepäck war im Heck verstaut, als Burger noch einmal die Gartentreppe hinauf zurück ins Haus rannte, um ein handkleines, in braunes Kunstleder gebundenes Notizbuch aus dem Regal zu fischen. Vor Jahren hatte er Strassen, Häuser und Daten, Namen von Freundinnen, Freunden und Bekannten festgehalten. Details von Begegnungen, Aussprüche und Zitate fanden sich darin. Die Seiten waren mit feinem Minenstift vollgeschrieben und ähnelten den Mikrogrammen eines bekannten Schriftstellers. Mit den aktuellen Ereignissen von damals, dem Verlassen der Stadt am Fluss und der zweiten Trennung von ihr, hatte er die Notate auf der hintersten Seite begonnen, um im zeitlichen Rückblick und räumlichen Nach-vorne-Blättern zur Front des Notizblocks zu gelangen. Das Langvergangene kam jetzt wie in einem gewöhnlichen Geschichtenbuch zuerst. Burger stellte sich vor, während er zwei Stufen der Gartentreppe auf einmal übersprang, dass er mit den Seiten des Büchleins ebenso umspringen und die Zeiten auffächern und nach Belieben abblättern wollte.
»Nicht gerade die Saison, um in den Süden zu fahren«, bemerkte die Fahrerin durch den Rückspiegel, nachdem er ihre Frage, wohin es denn gehe, unvorsichtigerweise mit »Apulien« beantwortet hatte.
»Sind da nicht die Stürme los und die Strände leer?«
Burger wich den Fragen aus. Er liess die Frau im Glauben, dass er sich in einen Novemberurlaub begebe, entschädigte sie dafür mit einem grosszügigen Trinkgeld. Das Gepäck könne er selber herausheben, rief er. Die Heckklappe rutschte ihm aber aus der Hand und fiel mit dumpfem Knall ins Schloss. Die Fahrerin hielt sich die Ohren zu und winkte ihm dann lachend nach.
Obwohl er genug Zeit hatte, hetzte Burger durch das Gewimmel des Bahnhofs. Er hörte weder das Lärmen aus den Lautsprechern noch beachtete er das Geschwätz der Reisenden. Mit entschiedenem Schritt fasste er eine Spur durch die Menge ins Auge und fand, ohne angerempelt oder gestossen zu werden, sein Perron und seinen Wagen. Schon wollte er die Tasche in den Gang hineinwerfen. Aber er wurde gebremst. Der Weg war verstopft. Ein betagtes Ehepaar, das von einer jüngeren Frau, wahrscheinlich die Tochter, an seinen Platz begleitet wurde, forderte seine Geduld. Zuerst suchten sie unter viel Gerede und Lachen ihre Platznummer, danach wurde Burger gebeten zu warten, obwohl die Tochter, wie sich herausstellte, lediglich noch ein Gepäckstück zu holen hatte. Endlich machten sie ihm Platz und er durfte sein Abteil beziehen. Er legte die Tasche auf den nächsten Sitz und wühlte darin nach Schreibzeug, noch bevor er die Kleider ablegte. Durch die trüben Scheiben beobachtete er, wie sich eine Frau im roten Mantel und ein Mann im Loden verabschiedeten. Es fiel den beiden schwer. Burger platzierte den gesuchten Blechbehälter auf dem Tisch und zog seine Jacke aus. Das Futter nach aussen schob er sie auf die Ablage. Der Mann im Loden stand inzwischen am Fenster und verständigte sich mit Handzeichen. Von draussen wurden Pakete durch den beweglichen Teil des Korridorfensters gehievt. Zwei Kinder setzten zu Luftsprüngen auf dem Asphalt an, um ins Innere sehen zu können und ihrer Nonna mit fuchtelnden Händen zuzuwinken.
Burger hasste Abschiede. Freunde und Freundinnen behielt er im Gedächtnis.