Die Ethologie der Hunde. Raymond Coppinger

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Название Die Ethologie der Hunde
Автор произведения Raymond Coppinger
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783954640911



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um es herum beeinflusst.

      Da nun diese beiden Begriffe so viel diskutiert werden, möchten wir an die Stelle von „instinktiv“ oder „angeboren“ generell den Begriff „intrinsisch“ setzen. Die Verwendung von „intrinsisch“ in diesem Zusammenhang schulden wir den Embryologen, welche Entwicklung und Wachstum erforschen. Warum dieses Wort besser für die Beschreibung ererbter Eigenschaften (egal ob in Bezug auf Verhalten oder physische Eigenschaften) geeignet ist, werden wir in einem späteren Buchabschnitt aufzeigen. Wir werden außerdem zwei weitere Begriffe einführen, die vom üblichen Vokabular eines Ethologen abweichen: „Akkomodation“ und „Emergenz“.

      Unter „Akkomodation“ (ein weiterer Fachbegriff aus der Embryologie) verstehen wir, dass die Entstehung und Entwicklung biologischer Strukturen und Verhaltensmuster – das Ergebnis der Gene – nicht nur gegenseitig voneinander abhängen, sondern auch von der Umgebung, in der sie sich entwickeln. “Emergenz“ ist die Art, wie einfache Prozesse und Eigenschaften zusammenspielen und dadurch Strukturen und Verhaltensmuster ausbilden können, die im Ganzen oft erheblich komplexer sind als die Summe ihrer Teile. In Wissenschaften wie Biologie, Physik und Informatik ist dieser Gedanke von wachsender Bedeutung. Wir werden in den Kapiteln 7 und 8 noch näher darauf zu sprechen kommen.

      Mit unserem Vokabular und unserer Auffassung von der Ethologie verabschieden wir uns also gewissermaßen vom herkömmlichen Fokus auf den Instinkt. Wir betrachten Verhalten aus drei verschiedenen (und doch miteinander verbundenen) Kräften und Prozessen heraus entstehend - intrinsisch, akkomodativ und emergent - und wir dürfen keine von ihnen außer Acht lassen, wenn wir Hunde oder andere Tiere studieren.

      Natur kontra Umwelt?

      Vielleicht fühlen Sie sich bei diesem Streit um Begrifflichkeiten und deren Feinheiten an die schon lange andauernde und immerwährende Kontroverse von „Natur kontra Umwelt“ oder „Natur kontra Erziehung bzw. Sozialisation“ (im Englischen „Nature or Nurture“) erinnert. Zwischen Wissenschaftlern aller Sparten und der breiten Öffentlichkeit wird seit vielen Jahren heiß diskutiert, was von größerer Bedeutung ist: Die genetische Disposition bei Lebewesen und deren physische Gestalt (Natur) oder deren Entwicklung unter stark veränderlichen Umgebungsbedingungen (Erziehung / Sozialisation bzw. Umwelt). Diesbezüglich schwankt die öffentliche Meinung, zumindest was den Menschen anbelangt, heftig hin und her. Im einen Moment noch ist die öffentliche Meinung geradezu gefangen von der Idee, es gäbe „Gene für Religion“ oder angeborene Veranlagungen zu Gewalt- und Kriegsbereitschaft. Dann wieder folgt die Gegenbewegung und Gedanken zum Angeborensein werden als Beispiele für einen „biologischen Determinismus“ verteufelt, der den Einfluss von Kultur oder jeglicher Möglichkeit einer Veränderung im menschlichen Verhalten glattweg ignoriert. Nur wird diese Fragestellung leider allzu oft dichotom gesehen, also eine Diskussion geführt, bei der es nur zwei Seiten gibt, von denen entweder nur die eine oder die andere überwiegend oder komplett für das Verhalten verantwortlich sein kann.

      Es mag daher wenig überraschen, dass den der Biologie zugeneigten Ethologen oftmals nachgesagt wird, sie seien Vertreter der Natur-Seite. Wie alle Biologen nehmen auch wir den Darwinschen Leitsatz ausgesprochen ernst, der besagt, dass die Tierarten sich durch evolutionäre (stammesgeschichtliche) Prozesse an ihren Lebensraum angepasst haben. Die „Natur“ ist also ganz klar der Ursprung dieser adaptiven Sichtweise. Aber nicht jeder Biologe ist davon überzeugt, biologische Anpassung erkläre das ganze Geheimnis von Leben und Verhalten. Einige jüngere Evolutionstheoretiker (unter anderem Steven Jay Gould und Mary Jane West-Eberhard) zweifeln an der Vorrangstellung der Adaptation gegenüber einer natürlichen Auslese als treibender Kraft der Evolution und glauben, dass Entwicklungsprozesse – ja sogar Naturkatastrophen – die Hauptrolle spielen. Zunehmend wird die Geschichte der Biologie als Produkt des Zusammenspiels beider Prozesse angesehen, sowohl evolutionärer als auch entwicklungsvorantreibender Kräften (genannt die evolutionäre Entwicklungsbiologie, oder engl. evo-devo für evolutionary developmental biology). Wie wir noch in Kapitel 7 und 8 sehen werden, werfen auch einige unserer eigenen Gedanken zu entwicklungsbedingter Akkomodation und Emergenz Fragen auf, und zwar bezüglich der Macht des üblichen Bilds von einem „starken Adaptionismus“.

      Andere Wissenschaftler, darunter viele Psychologen, haben sich von einem anderen Blickwinkel her einzig und allein damit beschäftigt, wie sich Verhalten (wie ein Tier „lernt“) als Feedback auf nicht planbare und zufällige gemachte Erfahrungen im Laufe einer individuellen Lebensspanne verändert. Es überrascht nicht, dass sie der „Umwelt“-Seite zugeneigt sind - einige lehnen den Gedanken, dass jegliches Verhalten in irgendeiner bestimmten Weise durch Gene vorherbestimmt sein könnte, sogar komplett ab.

      Letztlich erscheint es uns glasklar, dass die Bezeichnungen „Instinkt“ und „Angeborensein“, genauso wie „Natur“ und „Erziehung/Sozialisation“ wirklich die falsche Wortwahl darstellen. Der Phänotyp eines Tieres – also die Gesamtsumme all seiner physischen und verhaltensbedingten Merkmale – ist stets und notwendigerweise das Ergebnis eines hochkomplexen Zusammenwirkens aus Genen (und deren Produkten) sowie aus der Entwicklung und Erfahrungen des Lebewesens. Die Verfügbarkeit von Nahrungsquellen, die Gegenwart anderer Tiere und sogar zufällige unwägbare Ereignisse wie das Wetter – alles kann eine tiefgreifende Auswirkung darauf haben, wie ein Tier aussehen wird oder wie es sich zu irgendeinem Zeitpunkt verhält.

      Wir zum Beispiel fragen unsere Studenten gern scherzhaft: „Glaubt ihr, ihr seid genetisch für genau das Gesicht vorprogrammiert, das ihr habt?“ (Dieses großartige Beispiel verdanken wir dem Evolutionsbiologen und Genetiker Richard Lewontin.) Üblicherweise antworten die Studenten mit: „Natürlich, deshalb sehe ich ja aus wie mein Vater [oder meine Mutter, oder mein Großonkel].“ Zweifellos ähneln Menschen häufig ihren Eltern oder anderen Vorfahren, und es erscheint nur zu vernünftig, zu glauben, diese Ähnlichkeit müsse der Natur geschuldet sein, sie sei genetisch vererbt. Nun, in gewichtiger Hinsicht muss ein Gesicht genetisch bedingt sein – es ist immerhin eine Ansammlung aus Haut, Knochen und Bindegewebe, welche natürlich durch die Gene des speziellen Individuums entstanden ist. Aber Gene können nicht alles sein. Gesichter können sich im Laufe eines Lebens - manchmal ganz dramatisch - verändern. Welches Gesicht war denn nun genetisch vorprogrammiert worden? War es das, wie man mit vier Jahren ausgesehen hat? Und was ist mit dem Gesicht, als man siebzehn war? Oder fünfundsiebzig? Es ist wohl nur recht und billig, zu behaupten, dass ein Mensch tatsächlich an keinen zwei aufeinanderfolgenden Tagen das gleiche Gesicht hat. All die vielen Gesichter mögen mehr oder weniger aussehen wie „man selbst“, aber gibt es denn für jedes einzelne Gesicht, das man im Laufe seines Lebens im Spiegel erblickt, einen eigenen Satz an Genen? Selbstverständlich nicht.

      Tatsächlich entwickeln sich alle Lebewesen während der Spanne ihres Lebens – ständig verändert sich ihre äußere Erscheinung durch ein feines Zusammenspiel zwischen den Genen und der Umgebung des Tieres. Zu Beginn ist ein Säugetier oder ein Vogel ein befruchtetes Ei, der Embryo wird größer und bildet sich differenziert heraus. Von Geburt an haben ein neugeborenes Säugetier oder ein frischgeschlüpfter Vogel eine vollkommen andere äußere Erscheinungsform als das erwachsene Tier seiner Art. Jede dieser Entwicklungsstufen des Lebens – das Ei, der Embryo, Neugeborenes, Jungtier und erwachsenes Tier – funktioniert aufgrund desselben Gensatzes, aber genau diese Gene tun sich irgendwie zusammen, während das Tier wächst und bringen ganz unterschiedliche Ergebnisse hervor.

      Ein Neugeborenes hat nicht nur einen anderen Körper als ein Erwachsener, sondern es zeigt auch spezielle Verhaltensweisen, die intrinsisch zu seiner derzeitigen Entwicklungsstufe sind. Ein neugeborenes Säugetier nuckelt an der Zitze seiner Mutter (und muss das nicht beigebracht bekommen); ein Erwachsener frisst feste Nahrung auf eine Art und Weise, die sich erheblich vom Nuckeln eines Babys unterscheidet. Während seiner Entwicklung herrscht ein Wechselspiel der intrinsischen Eigenschaften des Lebewesens miteinander wie auch mit seiner Umgebung und es bilden sich neue Strukturen und Fähigkeiten heraus: Akkomodation und Emergenz spielen dabei wichtige Rollen. Die Quintessenz ist, dass kein Genom eines Tieres den vollständigen Entwurf enthält, der die genauen Details all der Veränderungen in seiner Erscheinung und seinem Verhalten festlegt, wie es sie in seinem Leben zeigt. So gesehen kann es keine simple