Die Ethologie der Hunde. Raymond Coppinger

Читать онлайн.
Название Die Ethologie der Hunde
Автор произведения Raymond Coppinger
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783954640911



Скачать книгу

gegrast, manche von ihnen mit Hunden und menschlichen Hirten, manche in der alleinigen Gesellschaft von Hunden. Man sieht kaum einmal eine Schafherde ohne Hunde.

      Wie bei allen Tieren (einschließlich Hunden) wird das Verhalten von Schafen von Futtersuche, der Vermeidung von Gefahren wie etwa Raubtiere und der erfolgreichen Hervorbringung von Nachkommen geleitet. Dasselbe gilt natürlich auch für die Raubtiere selbst: Die Wölfe, Füchse, Luchse und wilden Bären, die noch im Apennin umherstreifen, müssen ebenso fressen, sich fortpflanzen und Gefahren aus dem Weg gehen. Eine Möglichkeit zur Futterversorgung besteht für sie darin, Schafe zu töten und diese oder ihre Lämmer zu fressen. Natürlich ist die Lage für die Herdenschutzhunde selbst eine andere: Hoch in den Bergen finden sie wenig zu fressen – und wie alle Hunde verlassen auch sie sich darauf, vom Menschen mit Futter versorgt zu werden.

      Als Ethologen wollen wir verstehen, wie dieses komplizierte Zusammenspiel zwischen Mensch, Schafen, Hunden und Raubtieren funktioniert. So trafen wir uns zu Beginn unserer Forschungsarbeit eines Sommermorgens mit einem Schäfer mit Schlapphut, dreihundertfünfzig Schafen und einigen großen weißen Maremmen-Abruzzen-Hunden (Maremmanos). Zur Mittagszeit kann die Sonne in derartiger Höhe infernalisch hell sein. Schon das Sonnenlicht allein kann Menschen und Tier förmlich umbringen – nur „mad dogs and Englishmen“ (verrücktgewordene Hunde und Engländer) gehen in der Mittagssonne nach draußen. Hautkrebs und Hitzschlag stellen sowohl für Hunde als auch Schäfer eine Bedrohung dar. Wenn erhitzte Hunde keinen Schatten finden, hecheln sie und ihre rosa Zungen können einen Sonnenbrand bekommen; und in der Tat tritt bei einigen von ihnen Zungenkrebs auf. Wenn große Tiere der Sonne draußen ausgeliefert sind, können sie rasch sterben. Die Schäfer sind so schlau, sich mit angemessener Kleidung zu schützen (wie auf Abb. 6 zu sehen).

Image

       Abb. 6: Schäfer auf der ganzen Welt schützen sich durch ihre Kleidung vor der Sonne. Der Schäfer auf dem oberen Bild mit dem riesigen Mantel stammt aus dem Weideland der ungarischen Puszta, der andere Schäfer darunter im Riesenmantel aus Lesotho, Südafrika.

      An einem ganz besonders heißen Tag verlangsamten die Schafe gegen Mittag ihr Tempo und legten eine Pause ein. Die Hunde fanden ein wenig Schatten unter überhängenden Felsen und der Schäfer kroch unter seinen riesigen Feldmantel, der ihn zusammen mit seinem Hut vor der Sonne schützte. Während wir dasaßen und beobachteten, fiel der Schäfer rasch in einen tiefen Schlaf. Nach einiger Zeit, als er noch schlief, erhoben sich seine Schafe und wanderten davon. Und trotz der unendlich heißen Sonne gingen die Hunde mit ihnen. Der Schäfer wachte auf, nachdem die Tiere schon eine Zeitlang ganz außer Sichtweite gelangt waren, um festzustellen, dass seine Herde und Hunde verschwunden waren. Ein wenig peinlich berührt schaute er uns an und wir zeigten in die Richtung, in die die Tiere gegangen waren. Er winkte uns zum Dank zu und ging los, um ihnen zu folgen.

      Ethologische Gedanken über die Maremmenhunde

      Wie sehen eigentlich Ethologen eine kleine Begebenheit wie diese? Wissenschaft ist ja tatsächlich nichts anderes als eine systematische Art und Weise, Fragen zu stellen und zu versuchen, Antworten auf diese zu finden. Die Herausforderung besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen und die richtige Methode zu wählen, um sie zu untersuchen. Der eigentliche Trick dabei ist, nachprüfbare Fragen zu formulieren – Hypothesen oder begründete Annahmen – mit denen man Vorhersagen machen kann. Dann muss man eine Feldstudie und Versuche ausarbeiten, um Daten zu sammeln, die es ermöglichen, diese Vorhersagen zu überprüfen. Nachfolgend eine Sammlung von vielen, vielen Fragen, die Ethologen zu unserer kleinen Beobachtung zum Verhalten der Maremmanos in den Abruzzen stellen könnten:

      Warum haben diese Hunde ihren Herrn zurückgelassen (sind sie nicht des Menschen bester Freund?) und sind stattdessen den Schafen gefolgt?

      Würden alle Maremmanos sich so verhalten wie die von uns beobachteten?

      Würde jede beliebige Hunderasse sich so verhalten? Wie steht dieses Arbeitshundeverhalten in Bezug zu dem möglichen Verhalten unserer Haushunde, die in Familien leben?

      War ihr Verhalten eine Folge der Einwirkung von Sonne und Hitze (oder anderer Umweltbedingungen) ihres Lebensraumes im Hochgebirge? Waren sie möglicherweise den Schafen gefolgt, um Abkühlung zu finden?

      Wurden die Maremmanos in den Abruzzen gezielt darauf abgerichtet, sich besonders um die Schafe zu kümmern, wenn diese weiterzogen?

      Was würde geschehen, wenn man sie Ziegen oder Pferde hüten ließe anstelle von Schafen?

      Waren diese Hunde ganz einfach intelligent genug, um selbst herauszufinden, was zu tun war?

      Werden Herdenschutzhunde mit einer genetisch bedingten Eigenschaft geboren, die sie die Schafe dem Menschen vorziehen lässt?

      Könnte es am Alter dieser speziellen Hunde gelegen haben?

      War ihr Verhalten die Folge von etwas, das geschieht, während diese Hunde aufwachsen und sich entwickeln? Falls ja, gab es eine bestimmte Zeitspanne in ihrem Leben, in der sich diese Art der Verbindung entwickelte?

      Lassen Sie sich nicht von den verschiedenen (und manchmal auch gegensätzlichen) Möglichkeiten verwirren, wie man einen kleinen Teil des hündischen Verhaltens betrachten und hinterfragen kann. Wenn Wissenschaftler ein Naturphänomen untersuchen, ist es so gut wie immer möglich – und auch wünschenswert – eine Vielzahl an Hypothesen aufzustellen. Der Kern jeder wissenschaftlichen Arbeit ist die kreative Aufstellung von Hypothesen, die man dann anschließend gegen sorgfältig erstellte und gemessene Beobachtungen der äußeren Welt überprüft. Über konkurrierende Thesen zu streiten und sie zu überprüfen macht einen großen Teil des Spaßes und der Spannung bei der Wissenschaft aus.

      Und es gibt noch einen anderen, wesentlicheren Grund dafür, dass unterschiedliche Wissenschaftler auch unterschiedliche Erklärungen dafür haben, warum die Dinge sind, wie sie sind. Die Frage nach dem „Warum“ einer bestimmten Verhaltensweise ist in der Tat keine einfache Frage. Niko Tinbergen – einer der Begründer der modernen Ethologie – war der Meinung, dass ein Biologe das „Warum“ von Verhalten mindestens auf vier verschiedene Arten hinterfragen sollte. Diese wurden unter Ethologen als „Tinbergens vier Fragen“ bekannt.

      In der Zeitschrift Science stellte Tinbergen selbst diese Fragen 1968 so:

      Inwiefern beeinflusst dieses Phänomen (Verhalten) das Überleben und den Erfolg des Tieres?

      Wie wird die Verhaltensweise an einem beliebigen Zeitpunkt ausgelöst? Wie funktioniert ihre „Maschinerie“?

      Wie entwickelt sich die Verhaltensmaschinerie beim Heranwachsen des Individuums?

      Wie haben sich die Verhaltenssysteme einer jeden Spezies entwickelt, bis sie zu dem geworden sind, was sie heute sind?

      Die erste Frage betrifft die Funktion einer Verhaltensweise: Wie passt diese zu den grundlegenden Bedürfnissen eines Tieres: Nahrungserwerb, Gefahrenvermeidung und Fortpflanzung? Als die Maremmanos in den Abruzzen den Schafen anstatt dem Schäfer folgten - verbesserte das ihre Chance zur Futtersuche oder konnten sie mehr oder bessere Nachkommen zeugen als Hunde, die nicht bei der Herde bleiben? Könnte es ganz einfach damit zu beantworten sein, dass die Schäfer diejenigen Hunde füttern und versorgen, die bei den Schafen bleiben, während sie die anderen aussortieren?

      Zweitens wollte Tinbergen, dass wir Vorgänge hinterfragen (oder die Kausalität). Welche Prozesse - physiologische, neurologische oder motivationsgeleitete - könnten, während sich ein Tier tatsächlich in Raum und Zeit bewegt, neben der Bewegungs-Biomechanik selbst noch eine Rolle spielen, oder auch eben nicht? Waren unsere Maremmanos durch die direkten körperlichen Auswirkungen der hohen Temperaturen veranlasst worden, sich zu bewegen? Gibt es einen „Schalter“ ihrer Nervenbahnen im Gehirn, der durch die Bewegung von Schafen gesteuert wird? Werden sie innerlich belohnt, einfach weil es sich gut anfühlt, Schafen nachzufolgen? Wenn sie das tun, sorgt dann ihr Gehirn für eine kräftige Endorphinausschüttung, so wie bei einem Läuferhoch?

      Zum Dritten müssen wir uns die individuelle Entwicklung (oder Ontogenese)