Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts. Tilman Mayer

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Название Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts
Автор произведения Tilman Mayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711446935



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übergriffig, als es in manchem Klischee vom preußisch-deutschen Militärstaat den Anschein hat. Man muss aber auch hinzufügen: Diese Gewichtung war weniger strukturell bedingt als durch Rolle und Bedeutung der konkreten Akteure.

      Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Bismarck agierte seinerseits beachtlich in die Sphäre des Militärischen hinein: Das ging bei Rüstungsfragen bis in technische, ja physikalische und ballistische Details. Ähnlich wie bei der Steuerpolitik59 zeigte sich Bismarck auch bei der Rüstungspolitik von einer verblüffenden Detailkenntnis. Der in seinen jungen Jahren gescheiterte Verwaltungsbeamte, gescheitert, weil ihn die administrative Filigranarbeit langweilte, wurde auf seine älteren Tage zum Faktenhuber. Und auch in seinem Falle galt: Wissen ist Macht. In der Rüstungspolitik gerierte sich Bismarck, ganz patriarchalisch-fürsorglich, als so etwas wie der gute Hausvater der Armee. Soldaten bräuchten zweckmäßige, wärmende Kleidung, und vor allem bräuchten sie leistungsfähige, international wettbewerbsfähige Infanteriewaffen. Die 1870er- und 1880er-Jahre waren eine Zeit mehrfacher Umrüstungen und Quantensprünge bei den europäischen Armeen. Grundlegende technische Weiterentwicklungen folgten vor allem beim Infanteriegewehr aufeinander, zunächst vom Vorder- zum Hinterlader, dann zum Repetiergewehr und schließlich zum Gewehr mit rauchlosem Pulver und geringerem Kaliber, das mit höherer Rasanz schießen konnte. Bismarck zeigte beziehungsweise gerierte sich hier als der besorgte Experte, der die professionellen Experten förmlich vor sich her trieb. Dazu kokettierte er mit seinen Kenntnissen als passionierter Jäger. Beim rauchlosen Pulver, das einen Quantensprung bei der Infanteriebewaffnung darstellte, kommunizierte er eng mit dem Fabrikanten Max Duttenhofer, an den staatlichen Instanzen vorbei. Duttenhofer behauptete, höhere Qualität als staatliche Fabriken herstellen zu können.60 Ganz persönlich beteiligte sich der Kanzler sogar an der Auseinandersetzung um die Frage, wie lange man welches Schießpulver funktionsfähig lagern könne und wann durch Feuchtigkeit Unbrauchbarkeit drohe. Modern gesprochen: Das war das Gegenteil eines Generalisten, das war Detailverliebtheit.

      8. Ruhestand und Selbststilisierung

      Von den vier hier kursorisch betrachteten Kanzlern verlor nur einer sein Amt durch eine Wahlniederlage, Helmut Kohl 1998. 108 Jahre zuvor war die Niederlage des Bismarck-Kartells bei der Reichstagswahl unbestreitbar ein beschleunigendes Moment für seinen Abgang, aber nicht unmittelbar und nicht in einem formalen Maße zwingend. Aber von den Vieren, Bismarck, Bülow, Adenauer und Kohl, scheint nur Letzterer einigermaßen in Frieden aus dem Amt geschieden zu sein. Er hatte eine beispiellose Agenda auf der Habenseite, mit der niemand, er auch nicht, bei Antritt seiner Kanzlerschaft 16 Jahre zuvor hatte rechnen können: den Vollzug der deutschen Wiedervereinigung und die Weiterführung der europäischen Integration in einem Maße, das jedenfalls er als historisch ebenso notwendig wie legitimiert ansah. Kohl blieb im Geschäft; die Funktion des Ehrenvorsitzenden der CDU, die ihm wie selbstverständlich zugefallen war, interpretierte er durchaus politisch. Beim Europäischen Rat vom 11. Dezember 1998 avancierte er zum »Ehrenbürger Europas«.61 Dann riss mit einem Mal die Spendenaffäre, gemessen am historischen Zäsurcharakter der Phase vom Fall der Mauer in Berlin bis zur Entscheidung für die Einführung des Euro, eine Fußnote, Kohl medial-kommunikativ in den Abgrund. Und als er sich davon politisch einigermaßen erholt hatte, beraubten ihn körperliche Gebrechen weitgehend der Fähigkeit, seine historische Rolle selbst vital darzustellen. Anders sein Vorgänger Helmut Schmidt. Schmidt, dem wortgewandten Mitherausgeber der Wochenzeitung Die Zeit, stand und steht die ganze mediale Zunft der Elbmetropole zur Verfügung. Sie schreibt ihn je länger, desto intensiver zum Staatsmann und Intellektuellen von singulärer Urteilskraft hoch. Es dauert vermutlich lange, bis der deutschen Gesellschaft allmählich wenigstens in Teilen dämmern wird, dass dabei vielfach die Grenze zur peinlichen Hagiographie überschritten wird.62

      Adenauer schied im Oktober 1963 mit viel Galle aus dem Amt. Schwer zu sagen, ob es besser gewesen wäre, hätte er einen von ihm stärker akzeptierten Nachfolger im Amt als Ludwig Erhard gefunden, von dem er noch dazu befürchtete, dass er das letzte Erbe seiner Politik, die privilegierte Beziehung zum gaullistischen Frankreich, ausschlagen werde.63 Adenauer behielt den Parteivorsitz solange es ging, bis zum 21. März 1966. Und er kommunizierte und intrigierte gegen Erhard und gegen die neuen Verhältnisse mit jedem, der nur in Frage kam: mit Charles de Gaulle, mit Franz Josef Strauß, mit Eugen Gerstenmaier; auch der Bundespräsident Heinrich Lübke war in diesem Spiel. Und so wurde auch Erhards letzter großer Triumph, der Sieg bei der Bundestagswahl 1965, ein »ungeheurer und unerwarteter Wahlsieg«, für den Vorgänger »eine böse Überraschung«64.

      Bernhard von Bülow, inzwischen Fürst und »Durchlaucht«, schied 1909 aus dem Amt, mit kaum gebändigter Wut auf den Kaiser wie auf den ebenso ungeliebten wie verachteten Nachfolger Theobald von Bethmann Hollweg und ohne ersichtlich je über die eigenen großen Fehler wie Fehlschläge in seiner Politik zu reflektieren: über den Verrat des Kaisers in der Daily-Telegraph-Affäre 1908, über das Nichtzustandekommen einer umfassenden Finanzreform und schließlich – das war vielleicht der wundeste Punkt – über die Misserfolge in der sogenannten »Weltpolitik«. Bülow, der gelernte Diplomat, hatte Weltpolitik als strategische außenpolitische Aufgabe des Deutschen Reiches formuliert. Aber an strategischen Positionen war in seiner Amtszeit eigentlich nichts hinzugekommen. Viel schlimmer: Die Isolierung Deutschlands, ob nun Einkreisung oder Selbstauskreisung, machte ihre entscheidenden Fortschritte gerade in den Jahren seiner Kanzlerschaft. Die erste Marokko-Krise zeigte 1904 / 05 ein Zusammengehen Großbritanniens und Frankreichs, zwei Jahre später erreichten die vermeintlichen weltpolitischen Antipoden, London und St. Petersburg, ein Arrangement. Die Berliner Diplomatie hatte stets darauf gebaut, dass es eben dazu, zu einer Kooperation von Walfisch und Bär, nie kommen werde. Seine Wut arbeitete Bülow im dritten Band seiner Denkwürdigkeiten ab, der der Zeit nach seiner Entlassung über den Ersten Weltkrieg hinweg bis in die zwanziger Jahre gewidmet ist.65 Die ersten Kapitel des Buches dienen allein der Abrechnung, Abrechnung mit Kaiser wie Nachfolger, Abrechnung mit Staatssekretären und preußischen Ministern, die entweder unfähig seien oder ihn verraten hätten. Was folgt, ist eine Enzyklopädie von Begegnungen mit und Zuschriften aus der preußisch-deutschen Oberschicht, zumeist liberal-konservative Professoren, die Bülow als großem Staatsmann huldigen.

      Kein Zweifel: Bismarck, obwohl nach der Entlassung in keinerlei Funktion mehr, war von allen vier Kanzlern für die verbleibende Lebenszeit die mit Abstand wichtigste Potenz. Gewiss. Das Bild ist ambivalent. Sein Biograf Otto Pflanze schreibt: »Kaum jemand konnte sich vorstellen, wer seinen Platz einnehmen sollte. […] Dennoch war die Reaktion auf Bismarcks Sturz in der Presse und im Parlament eher schwach. Nach zwanzig Jahren Sicherheit und Frieden erschien das Reich […] als eine unverrückbare Realität, die bestehen bleiben würde, wer immer an seiner Spitze stand.«66 Einen anderen Eindruck gewinnt, wer die Bilder auf sich wirken lässt, die eine der besten Chronistinnen der Zeit, die Baronin Spitzemberg, in ihrem Tagebuch von der Abfahrt Bismarcks am 29. März 1890 malt: »Wie eine Sturmflut warf sich die Menge dem Wagen entgegen, ihn umringend, begleitend, aufhaltend, Hüte und Tücher schwenkend, rufend, weinend, Blumen werfend. […] Frau von Hirschfeld war im Lehrter Bahnhof und schilderte den Enthusiasmus als unermesslich; die inneren Räume waren zum Erdrücken voll, die Fenster wurden ausgehoben, an den Säulen hingen die Menschen bis hoch oben, jubelnd, weinend, sich die Hände drückend; plötzlich fing einer an, die ›Wacht am Rhein‹ zu singen, und ›wie Donnerhall‹ pflanzte sich der Sang fort, bis draußen die Zehntausende entblößten Hauptes das alte Siegeslied sangen; den Kürassierschwadronen liefen die hellen Tränen von den Wangen […]«67 Bismarck nahm ein nationalliberales Reichstagsmandat an, er ging auch noch sehr viel mehr als in seiner Zeit als Reichskanzler auf den publizistischen Markt, gewann die Hamburger Nachrichten als sein Sprachrohr, daneben auch die Münchner Allgemeine Zeitung, und er konspirierte und kommunizierte mit Maximilian Harden, einem verlässlichen publizistischen Feind des Kaisers. Zu seiner Genugtuung konnte Bismarck erleben, dass die Ära seines Nachfolgers Caprivi, innenpolitisch im Zeichen einer liberalen Öffnung, außenpolitisch im Zeichen der Nichtfortsetzung des geheimen Rückversicherungsvertrages mit Russland, auf den sich Bismarck so viel zugute hielt, denkbar kurz blieb: zwei Jahre im Amt des preußischen Ministerpräsidenten, vier Jahre im Amt des Reichskanzlers. Bismarcks Anhängerschaft umfasste nicht die ganze deutsche