Название | Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts |
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Автор произведения | Tilman Mayer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446935 |
In allen drei Fällen dominierte gesellschaftspolitisch die Distanz gegenüber oder auch die Abkehr von einer reinen, liberalen Lehre zur Gestaltung von Wirtschaft und Sozialsystem. Ganz einfach formuliert: Die Politik ist wichtiger als die Ökonomie. Es geht darum, gesellschaftliche Gruppen zu pazifizieren, wenn es geht zu gewinnen, etwaige Gegner sozialpolitisch von links zu überholen, Bündnisse mächtiger Gruppen und Verbände zu schmieden und gesellschaftspolitische Integration zu leisten.
Bei Bismarck dokumentiert sich eine solche Grundausrichtung von Politik im Ende der liberalen Ära nach dem Gründerkrach und ersten wirtschaftlichen Eintrübungen, personifiziert im Ausscheiden des Leiters des Reichskanzleramtes Rudolf von Delbrück 1876. Was dann folgte, war eine Politik zur Abschirmung vor allem der ostelbischen Landwirtschaft gegen Importbedrohungen, im Bündnis mit den Grundstoffindustrien durch die forcierte Zollpolitik, und ein Jahrzehnt später, in den 1880er-Jahren, die Bismarck ’sche Sozialpolitik mit den neuen Versicherungssystemen gegen Krankheit, Unfälle, Invalidität und Alter, von Bismarck selbst als Staatssozialismus und Therapie gegen das Aufkommen der Sozialdemokratie bezeichnet. In gewisser Weise hat Adenauer diese Bismarck ’sche Kontinuität fortgesetzt: Durch Konzessionsbereitschaft gegenüber den Gewerkschaften in der Frage der Mitbestimmung am Anfang der fünfziger Jahre suchte er das Bündnis zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie zu schwächen, die Gewerkschaften so – im Gegensatz zur ablehnenden Haltung der Sozialdemokratie – für die Politik der Westintegration zu gewinnen. Vor Wahlen wurden kostspielige sozialpolitische Wahlgeschenke verteilt, mit dem Höhepunkt der großen Rentenreform von 1957. Die reine ordoliberale Lehre, wie sie das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard repräsentierte, war Adenauer stets ein Dorn im Auge. Das galt ebenso grenzüberschreitend in der Außenhandelspolitik: keine globale Open-Door-Politik im Sinne Ludwig Erhards, sondern kontinentaleuropäische Schwerpunktbildung mit dem Frankreich Charles de Gaulles. Helmut Kohl verfügte nicht mehr über die großen Verteilungsspielräume der Wirtschaftswunderjahre. Aber von einem radikalen Schnitt in der Wirtschafts- und Sozialpolitik konnte ab 1982 nicht die Rede sein: Heilige Kühe wie die Subventionen im Kohlebergbau konnten weiter grasen. Die Gelegenheit der Wiedervereinigung 1989 / 90 wollte niemand beim Schopfe packen, um strukturelle Eingriffe in den Sozialstaat vorzunehmen. Dazu kamen in der Ära Kohl ganz neue Leistungen wie Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub, Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung und Einführung der Pflegeversicherung.
Wer Bismarck, Adenauer und Kohl ernsthaft historische Größe zusprechen will, wird freilich jenseits integrierender und kostspieliger Gesellschaftspolitik das jeweilige Zentralereignis ihrer Kanzlerschaft in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken müssen: Bei Bismarck den Durchbruch zum Nationalstaat 1870 / 71, bei Adenauer den Aufbau und die Stabilisierung der alten Bundesrepublik im westlichen Verbund, mit dem Höhepunkt von NATO-Beitritt, Aufhebung des Besatzungsstatutes und wenigstens ansehnlichem Souveränitätsgewinn 1955, bei Kohl die Wiedervereinigung Deutschlands 1989 / 90 und in Verbindung damit, ob nun unmittelbar oder mittelbar, eine strukturelle Weiterentwicklung der europäischen Integration. Alle drei Zäsuren haben den deutschen Zug auf ein neues Gleis gesetzt, in eine neue Richtung fahren lassen. Das ist im Kern das, was mit vollem Recht von historischer Größe bei diesen drei Kanzlern sprechen lässt. Natürlich gibt es aber gravierende Unterschiede:
Adenauer musste sich die Aufgabe, als er 1949 als Bundeskanzler begann, nicht suchen, und er musste auch nicht auf den historischen Zufall setzen. Seine Agenda war gewissermaßen naturgegeben: Selbstbehauptung Westdeutschlands in der fundamentalen Systemauseinandersetzung des Kalten Krieges, Überwindung der durch Verbrechen und Blutspur des Dritten Reiches geradezu zwangsläufigen Stigmatisierung des Landes, ökonomischer Wiederaufbau – das »Auferstanden aus Ruinen« der DDR-Hymne traf in sehr viel höherem Maße auf die Bundesrepublik als auf die DDR zu. Bismarck und Kohl haben nach den zentralen Zäsuren in ihrer politischen Biografie, bei Bismarck 1870 / 71, bei Kohl 1989 / 90 stets betont, das, was das schließliche Resultat war, in einem Fall das (kleindeutsche) Deutsche Reich, im anderen das wiedervereinigte Deutschland, von Anfang an gewollt zu haben. Unbestreitbar haben dabei beide Legenden gestrickt. Sie haben jeweils die Gelegenheit beim Schopf gepackt, als an sich wenig auf den Gewinn beziehungsweise Wiedergewinn nationaler Einheit hindeutete – und als dann mit einem Mal neue Umstände plötzliche Chancen eröffneten.
In Süddeutschland hatten sich gegen Ende der 1860er-Jahre hin die Distanzierungsbemühungen gegenüber Preußen und dem Norddeutschen Bund verstärkt. In Bayern stürzte über die Jahreswende 1869 / 70 der preußenfreundliche Ministerpräsident Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst nach einer Landtagswahl, bei der in Gestalt der bayerischen »Patriotenpartei« das katholisch-konföderale Element die Mehrheit errungen hatte. Erst der Ausbruch des Krieges gegen Frankreich im Juli 1870, geschickt als Nationalkrieg gegen den »Erbfeind« inszeniert, schuf die psychologischen Voraussetzungen zur Überwindung der Mainlinie.
In den 1980er-Jahren schien nationale Einheit im geteilten Deutschland in weite Ferne gerückt. Die politischen und publizistischen Eliten in Westdeutschland hielten dieses Ziel zumeist für historisch überholt und für antieuropäisch. Helmut Kohl betrieb, dokumentiert in seiner Zehn-Punkte-Erklärung vor dem Deutschen Bundestag vom 28. November 1989, drei Wochen nach dem Fall der Mauer in Berlin, eine improvisierte Wiedervereinigungspolitik. Auf sie war man weder in den Bonner Ministerien und Fraktionen noch in den Redaktionen der meinungsbildenden Medien vorbereitet.
Es bleibt der große Unterschied, dass 1870 / 71 Krieg geführt wurde und viel Blut floss – über 100 000 Kriegstote auf französischer, über 40 000 auf deutscher Seite –, und dass 1989 / 90 in Europa kein Schuss fiel, sieht man vom Untergang des Ceauçescu-Regimes im Dezember 1989 in Rumänien ab. Und das wiedervereinigte Deutschland profilierte sich dann, wider alle unterstellten deutschen Unsicherheiten, als verlässlicher Teil der europäischen Integration. Das Deutsche Reich hingegen habe, so die vergleichende Kritik, als »halbhegemoniale« Größe in Europa mehr oder weniger isolierte Machtpolitik betrieben, mit dem schließlichen Fiasko des Ausbruches des Ersten Weltkrieges 43 Jahre nach der Reichsgründung. Derlei Vergleiche, zuungunsten Bismarcks und seiner Schöpfung, verleugnen aber die historischen Kontexte, die stets mit zu bedenken sind. Kriegführung galt im 19. Jahrhundert als sozusagen naturgegebenes Instrument der Politik. Alle europäischen Großmächte hatten daran Anteil, Frankreich dreimal, im Krimkrieg 1853 bis 1855, 1859 im oberitalienischen Feldzug gegen Österreich und schließlich 1870 / 71 im Krieg gegen Preußen-Deutschland. Dazu kam ein imperiales Abenteuer wie seine Intervention in den sechziger Jahren in Mexiko. Russland führte in dieser Phase zweimal Krieg, im Krimkrieg und gut 20 Jahre später gegen das Osmanische Reich. Mit blutigen Feldzügen integrierte es die Kaukasus-Region in sein Imperium. Die europäischen Konfliktlagen der Zeit hat Bismarck auf dem Berliner Kongress von 1878 zu entschärfen versucht. Entscheidender für