Название | Bismarck: Der Monolith - Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts |
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Автор произведения | Tilman Mayer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711446935 |
Jeder der vier hier in die Betrachtung einbezogenen Kanzler war bemüht, das Urteil der Nachwelt möglichst selbst zu prägen, ja, was in keinem Falle gelingen konnte, gültig festzuzurren. Den größten Aufwand trieb aus diesem Quartett bis heute Helmut Kohl, am wenigsten manipulativ und am meisten wohl im Stile eines Chronisten ging Konrad Adenauer vor. Seine Erinnerungen gelten heute noch als aussagekräftige Quelle dafür, wie die frühe Bundesrepublik auf Westkurs getrimmt wurde.69 Bismarcks und Adenauers Memoirenwerk unterscheiden sich gravierend. Adenauer arbeitete mit hohem Dokumenteneinsatz, Bismarck wollte Genugtuung. Die jeweilige Gegenwart stimulierte ihn dazu, danach die jeweils geschilderte Vergangenheit auszurichten. »Bismarck, der Realist, war darauf bedacht, die Unfähigkeit seiner Nachfolger bloßzustellen. Bismarck, den Narzissten, gelüstete es, aller Welt zu offenbaren, wie schäbig man mit ihm verfahren war. Bismarck, der Pädagoge wollte die nächste Generation in den Prinzipien unterweisen, auf denen jede deutsche Außenpolitik gründen müsse. Bismarck, der Monarchist, zögerte, das Ansehen der Dynastie zu beschädigen. Dieser letzte Bismarck scheint die Vorherrschaft gehabt zu haben, doch nur um Haaresbreite […].«70 Aber so antipodisch Bismarck und Adenauer auch vorgingen, beide bedurften sie einer verlässlichen disziplinierenden, mitunter verzweifelnden Hilfestellung: In Adenauers Fall war es seine frühere Mitarbeiterin Anneliese Poppinga. Sie stellte das Gerüst zur Verfügung und recherchierte die Materialien. Ohne sie hätte es ebenso wenig je Memoiren Adenauers gegeben wie ohne Lothar Buchers Fron in Friedrichsruh die Erinnerungen Otto von Bismarcks. Bucher tat sich noch sehr viel schwerer als Anneliese Poppinga: Mit sehr viel weniger Material musste er aus den assoziativ-unsystematischen Erzählungen Bismarcks etwas machen, die Diktate wie ein Puzzle neu zusammenlegen. Die Gedanken und Erinnerungen erschienen wenige Monate nach Bismarcks Tod im November 1898. Der dritte Teil, mit der Kritik an Kaiser Wilhelm II. und der Entlassung im Mittelpunkt, folgte erst nach dem Ende der Monarchie 1921. Bismarck und Helmut Kohl haben sich über ihr je eigenes Memoirenwerk hinaus eines weiteren Kunstgriffes bedient: Sie gewährten ihnen nahestehenden Historikern noch in ihrer Amtszeit privilegierten Aktenzugang und taten so das ihnen Mögliche, um ein wissenschaftliches Bild ihrer Zeit vermitteln zu können. In beiden Fällen stand dabei naturgemäß das Zentralereignis ihrer Epoche im Mittelpunkt, bei Bismarck die Reichsgründung, bei Kohl die deutsche Wiedervereinigung. Mit anderen Worten: Was für Bismarck der nationalliberale, kleindeutsch orientierte Historiker Heinrich von Sybel war, wurde für Helmut Kohl der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld mit einer Arbeitsgruppe, die die verschiedenen für die Wiedervereinigung Deutschlands 1989 / 90 relevant anmutenden Themenfelder darstellte. Sybel war seit 1875 Direktor der preußischen Staatsarchive. Bismarck gewährte ihm qualifizierten Aktenzugang, und auf dieser Grundlage erschien 1889 bis 1894 das siebenbändige Werk Die Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I. Der einschlägige Brockhaus-Artikel resümierte 1934: »Die Darstellung erstreckt sich ausschließlich auf die politische Entwicklung und das Wirken Bismarcks.«71 Der erst in Mainz, dann in München lehrende Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld galt als CDU-orientiert und in diesem Spektrum deutlich eher auf dem europäischen als auf dem nationalen Flügel stehend. Weidenfeld war vor allem durch Publikationen zur Legitimierung einer stetig fortschreitenden Intensivierung der europäischen Integration hervorgetreten. Er gehörte zu jenen, die die Deutsche Frage in einer künftigen europäischen Struktur aufgehoben sahen.72 Sein eigenes Opus magnum über den außenpolitischen Kontext der deutschen Wiedervereinigung »basiert auf einer Fülle von internen Dokumenten der Bundesregierung, die in der Regel einer dreißigjährigen Sperrfrist unterliegen. Eine Sondergenehmigung hatte den Zugang bereits wenige Jahre nach Abschluss des Einigungsprozesses eröffnet, was sonst nach dem Jahr 2020 ein Fall für die Historiker gewesen wäre.«73 Freilich ließ es Kohl nicht damit sein Bewenden haben. Im selben Jahr wie die Bände der Arbeitsgruppe um Werner Weidenfeld zur Geschichte der Deutschen Einheit 1998 erschien eine Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes zum Wiedervereinigungsgeschehen.74 Und dieses Gesamtopus wurde also gerade noch auf den Weg gebracht und abgeschlossen, bevor durch den Wechsel im Kanzleramt von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder Hindernisse hätten aufgebaut werden können. Kohl selbst hat bislang, neben einem Spezialband zur deutschen Einheit75, ein dreibändiges Memoirenwerk vorgelegt. Und dies einmal mehr mit dem Anspruch des politischen Akteurs, seine und die Geschichte seiner Zeit definitiv darstellen zu können – was ihm freilich so wenig gelingen wird, wie allen anderen Memoirenschreibern vor und nach ihm: »In meinen Erinnerungen geht es mir wesentlich darum, zu erklären, was wir damals warum und wie entschieden haben […]. Damit erhalten die Leserinnen und Leser einen unverstellten Einblick in jene schicksalhaften Jahre unserer Republik und in die komplizierten politischen Zusammenhänge dieser Zeit.«76 Im Falle der vierbändigen Denkwürdigkeiten des Fürsten Bülow, die er aus gutem Grund erst nach seinem Tode 1930 und1931 erscheinen ließ, ist der extrem hohe, auf die Spitze getriebene Subjektivitätsgrad so offenkundig, dass sich die Frage nach einer Dekonstruktion dieses Memoirenwerkes gar nicht mehr stellt. Bülow erscheint als genialer Politiker, unbestechlicher Beobachter von Zeit und Zeitgenossen wie als unübertrefflicher Bildungsbürger mit einem Zitatenvorrat ohnegleichen. Aber wer all das als Lektürevoraussetzung mit einer gewissen Ironie akzeptiert, mag von diesen vier Bänden Denkwürdigkeiten, die die Geschichte des Kaiserreiches auf ihre Weise bemerkenswert vielgestaltig vermitteln, vielleicht mehr profitieren als von einem Memoirenwerk, das auf der uneinlösbaren Prämisse von Objektivität beharrt.
9. Schlussfolgerungen
Das Quartett der vier Kanzler Bismarck, Bülow, Adenauer und Kohl erscheint durch so viele ganz unterschiedliche Bedingungs- und Handlungsfaktoren in sich differenziert, dass ein Vergleich nur sehr fragmentarisch angestellt werden kann. Er wurde in diesem Beitrag daher auch nur ansatzweise versucht, in manchem angedeutet. Zwei von den vier Akteuren waren Adelige, zwei, die beiden Kanzler aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, kleinbürgerlicher Abkunft. Bismarck und Bülow agierten in einem Bezugsrahmen mit weiterhin bestehender preußischer Monarchie, deutschem Kaiser beziehungsweise preußischem König, Sonderstellung des Militärs, Groß-, in Ansätzen Weltmachtanspruch des Nationalstaates, den es in so hohem Maße ab 1918 und ab 1949 endgültig nicht mehr gab. Adenauer und Kohl führten ein Staatswesen mit tatsächlich nicht mehr vorhandener Souveränität, einbezogen in die NATO und integriert in die Europäische Union, am Ende sogar ohne eigene Währung. Dazu kam ihre Rolle als Parteipolitiker in einer parlamentarischen Demokratie. Und es fiele gewiss nicht schwer, weitere, markante Gegensätze ausfindig zu machen.
Gleichwohl stellt sich doch die Frage, ob nicht alle vier Akteure in zwar nicht gleichzusetzenden, aber wenigstens in Teilen vergleichbaren Bezugsrahmen handeln mussten und ob nicht bei Bismarck, Adenauer und Kohl auf eine bestimmte, durchaus ähnliche Weise historische Größe geltend gemacht werden kann.