Название | Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja |
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Автор произведения | Liliana Kern |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711448458 |
In diesem Zuge begegnete Sofja dem Studenten des Technischen Instituts Nikolaj Gontscharow. In seinem Auftrag verteilte sie die als Wisselica (Der Galgen) betitelten Flugblätter unter Studierenden. In den Flyern, deren Verfasser wie Herausgeber der junge Mann selbst war, wurde hauptsächlich die Pariser Kommune gefeiert, doch daneben fand man auch Aufrufe zur Revolution sowie zum Ergreifen von Gewaltmaßnahmen gegen hohe Staatsbeamte.
Es war aber ein offenes Geheimnis, dass die Nihilistenkreise unter polizeilicher Beobachtung standen. Die Agenten mieteten sich benachbarte Wohnungen an, um die Gespräche ihrer Bewohner belauschen zu können. Deswegen dauerte es nicht lange, bis eine Razzia in der Kuschelewer Kommune durchgeführt und Sofja zusammen mit der Kornilowa zum Verhör in die Dritte Abteilung der Kanzlei Seiner Majestät – wie der Hauptsitz der Geheimpolizei offiziell hieß – vorgeladen wurde. Mangels belastender Beweise endete der Vorfall mit zwei für die damaligen Verhältnisse relativ harmlosen Konsequenzen für Sofja: Von nun an stand sie im Fadenkreuz der Polizei, und im kommenden Jahr verweigerte man der jungen Frau den Zutritt zum Abschlussexamen zur Grundschullehrerin.
Nichts deutet darauf hin, dass seine erste Begegnung mit der Ordnungsbehörde das Mädchen in irgendeiner Weise einschüchterte, was keineswegs überrascht, denn Sofja kannte nach wie vor keine Angst. Ihre Furchtlosigkeit verstärkte noch zusätzlich die fatale Illusion der Sicherheit, welche die Autorität des Großunternehmers Iwan Kornilow den Kommunardinnen garantierte. Der Hauptgrund aber, warum sie den ersten Besuch in der berüchtigten Dritten Abteilung auf die leichte Schulter nahm, war allerdings das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie an ihre »Ersatzfamilie« so intensiv band, und für diejenigen, die sie liebte, denen sie vertraute, hätte Sofja weit mehr riskiert.
Um der Freundschaft willen protestierte Sofja auch nicht, als Alexandra Kornilowa, die bis gestern noch von dem Leben unter einem Dach mit Männern nicht einmal hören wollte, im Frühsommer 1871 einen Zusammenschluss zwischen ihrer Kuschelewer und der Wulfer Kommune in Erwägung zog. Dass die zielstrebige Kommunardin eine Verschmelzung ausgerechnet mit dieser Nihilistengruppe anpeilte, kam nicht von ungefähr. Abgesehen davon, dass diese die älteste, ja die Urmutter aller Petersburger Arbeitszirkel war, gehörte sie ohnehin zu einer der populärsten. Gegründet hatte sie der Medizinstudent Mark Natanson drei Jahre davor, zu Beginn der Studentenunruhen. Ihre Tätigkeit war zuerst bar jeglicher politisch-ideologischen Aktivitäten, ausschließlich auf die Unterstützung von Studierenden, sei es im Lernbereich, sei es im Hinblick auf die persönliche Weiterbildung, konzentriert. Unmittelbar nach ihrer Entstehung lernte die Kornilowa Natanson kennen und machte daraufhin auch Sofja mit ihm bekannt.
Was Sofjas Freundin so unverhofft dazu veranlasste, gegen eines der Grundprinzipien des Frauenkommunenkodexes zu verstoßen, bleibt unklar. Möglicherweise überredete sie dazu ein Mitstreiter Natansons, mit dem sie laut Gerüchten eine Affäre hatte, oder aber es bewegte das Bild der Pariser Kommune die junge Idealistin zu ihrer plötzlichen Gesinnungsänderung.
Wie auch immer, Kornilowas Absicht rief eine Protestwelle unter den Mitstreiterinnen hervor: »Eines Tages tauchte plötzlich ein Mädchen, spürbar aufgeregt und verärgert, bei mir auf: ›Stell dir mal vor! Die Kornilowa und die Perowskaja, die stets gegen die Einigung mit den Männerzirkeln waren, nehmen jetzt selbst an der Arbeit der Wulfer Kommune teil. Ich verlange heute noch eine Sitzung, weil ich eine Erklärung dafür will‹«, erzählt Jelisaweta Kowalskaja, Sofjas enge Vertraute, die mit sieben Jahren für ihre fronpflichtige Mutter die Freiheit erkämpft hatte. »An diesem Abend war mein Zimmer mit Frauen überfüllt. Wir warteten lange, bis die beiden endlich erschienen. Die Kornilowa kam locker und unbeschwert, mit einer beinahe provokativen Haltung, herein. Die Perowskaja dagegen schaute verlegen und niedergeschlagen, dennoch war sie offensichtlich zum Kampf bereit. Auf die beiden hagelte es Beschuldigungen hernieder, und zwar von allen Seiten. … Nachdem sich der aufgewirbelte Staub einigermaßen gelegt hatte, verteidigte sich die Kornilowa mit dem ihr so eigentümlichen Eifer, dennoch nicht überzeugend. Die Perowskaja benahm sich weit diskreter und verkündete schlicht und einfach: ›Wir haben nicht vor, euch Rechenschaft abzulegen.‹ Daraufhin standen sie auf und verließen die Versammlung.«
Zweifellos fügte sich Sofja nur schweren Herzens dem Vorhaben ihrer Freundin, zumal sie »die Gesellschaft der Frauen derjenigen der Männer vorzog, weil sie sich – wie sie selber behauptete – unter ihnen wohler fühlte«. Trotzdem gab sie nach, ließ sich führen. Hätte sie sich gewehrt, hätte ihr das auch nicht viel geholfen. Die Kornilowa war diejenige, die den Ton angab und es immer schaffte, ihren Willen durchzusetzen.
Schon im August erfolgte die offizielle Vereinigung beider Zirkel. Die neue Kommune bestand aus etwa dreißig Mitgliedern. Zu dem Zeitpunkt aber, als die Verhandlungen beider Arbeitskreise noch liefen, wurde Natanson verhaftet und nach Sibirien verbannt. Die Führung übernahm sein Kommilitone Nikolaj Tschaikowski, so ist die Gemeinschaft ungerechterweise als »Tschaikowzen« in die Geschichte eingegangen. Für die einst von Natanson festgelegten Regeln setzte sein Nachfolger weit radikalere ethische Maßstäbe, indem er von seinen Anhängern einen asketischen Lebensstil jenseits jeglichen Luxus verlangte, mit dem Ziel, die wahre geistige, dem Menschen tief immanente Befriedigung zu erreichen. Es gab kein festes Statut, sondern jede Frage wurde spontan in Anwesenheit aller Kommunarden besprochen. Der Eintritt wurde lediglich denjenigen gewährt, die sich als zuverlässig erwiesen, sich das bedingungslose Vertrauen der »Tschaikowzen« verdienten. Über den potenziellen Kommunarden diskutierte man lange, beurteilte dessen Charakter aus der Perspektive der nihilistischen Weltanschauung, wobei der kleinste Zweifel im Sinne der Unehrlichkeit oder Verlogenheit für eine Abweisung reichte. Das Aufnahmeprozedere basierte auf dem Prinzip der Einstimmigkeit: Gab es nur eine einzige Gegenstimme, musste der Aspirant eine Absage einstecken. So »blieb der Zirkel immer ein Kreis der engsten Freunde. Niemals mehr habe ich so hochmoralische, dermaßen sich selbst treue Menschen getroffen. … Bis heute bin ich ganz stolz darauf, unter ihnen gelebt zu haben«, schwärmte Fürst Petr Kropotkin, der mit neunundzwanzig Jahren der älteste »Tschaikowze« und dazu noch Sofjas männliches Pendant schlechthin war. Er kam aus einem bekannten aristokratischen Geschlecht, dessen Angehörige im Zarenhof zu den Stammgästen zählten. Auf die Karriere als Kammerpage verzichtete er zugunsten seines Interesses für Geografie und Reisen. In der Schweiz kam der Weltreisende in Kontakt mit den russischen politischen Emigranten und kehrte als überzeugter Anarchist nach Russland zurück.
Trotz oder vielleicht gerade wegen der unterschiedlichen Herkunft stand der »Tschaikowze« der ersten Stunde, Sergej Krawtschinski, Sofja weit näher als ihr Standesgenosse. Mit dem Sohn eines Militärarztes verband sie eine herzliche Zuneigung, und es wäre ein Wunder, hätte sich das Mädchen dem jungen Offizier gegenüber gleichgültig verhalten, weil »ein vor Gesundheit berstender, energischer Mann mit roten Wangen, wie bei einem Bauernmädchen, etwas Originelles, ja Ungewöhnliches ausstrahlte. Schon bei dem ersten Blick auf den Jüngling mit Vorliebe für elegante Anzüge fielen sofort seine Lebensfreude und Willensstärke auf.« Darüber hinaus war er neben Sofja »der zweite allgemeine Liebling der Kommune«, und Sofja zollte allein den außergewöhnlichen Männern Aufmerksamkeit, jenen, welche sich von der Umgebung scharf abhoben, sich durch besondere Eigenschaften hervortaten. Krawtschinski erlebte Sofja »als Verkörperung der Jugend« und behauptete: »Ihrem [Sofjas – L. K.] rundlichen Gesicht haftete etwas Lebendiges, Forsches und zugleich etwas Naives an. Sie war zum Lachen aufgelegt und lachte leidenschaftlich gern, mit der unaufhaltsamen Heiterkeit eines kleinen Kindes.«
Sofja war der unbestrittene Liebling der »Tschaikowzen«-Kommune.
Die enge Beziehung zwischen Sofja und Sergej Krawtschinski stellte keine Ausnahme dar. Im Gegenteil basierte das Dasein der »Tschaikowzen« »auf Freundschaft, Sympathien, vollem Vertrauen und Gleichberechtigung aller Kommunarden«. Das einmalige Zusammengehörigkeitsgefühl trug dazu bei, dass sich die Gruppe sehr schnell zum einflussreichsten der Petersburger Zirkel profilierte. Es dauerte auch nicht lange, bis ihr Zellennetz alle bedeutenden Städte des Zarenreiches umspannte.
Zu ihrem Versammlungstreffpunkt