Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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Mädchen. Das war Alexandra, die jüngste der vier Schwestern Kornilow. Sie hieß mich willkommen und führte mich in das mit Wortgefechten erfüllte Zimmer, durch welches dicke Rauchschwaden zogen, sodass man kaum atmen konnte. Etwa zwanzig Frauen fand ich darin vor. Einige von denen unterhielten sich rege, während der Rest, zuhörend, ganz ruhig dasaß. … In der Mitte befand sich eine junge Frau, fast noch ein Kind. Ihr graues, einfaches Kleid mit weißem Kragen, so etwas wie eine Schuluniform, sah nicht besonders schick aus. Es war klar, dass sie dem Kleidungsstil keine Beachtung schenkte, so stand sie in krassem Gegensatz zu den anderen. … Von einer schlanken Blondine stürmisch attackiert, konterte sie zurückhaltend, jedoch mit einer nicht zu brechenden Beharrlichkeit. … Der Blick ihrer grauen Augen war eher ausweichend, doch ihm war eine unbeugsame Sturheit zu entnehmen, genauso wie ihrer Haltung ein gewisses Misstrauen. Wenn sie schwieg, presste sie die schmalen Lippen zusammen, als würde sie sich fürchten, etwas Überflüssiges zu sagen. Ein ernster Ausdruck haftete stets in ihrem gedankenversunkenen Gesicht, alles in allem strahlte die ganze Erscheinung des Mädchens eine klösterliche Askese aus. … Mitternacht war schon längst vorbei, als sich die Gesellschaft auflöste. Die Kornilowa bat mich, noch eine Weile zu bleiben. Nachdem sich die letzten Besucherinnen auf den Weg gemacht hatten, erfuhr ich, dass die junge Frau im grauen Kleid Sofja Perowskaja war.«

      Durch ihre Freundschaften geriet Sofja nun in die Gesellschaft der Nihilistinnen, dennoch war sie zunächst offensichtlich nicht bereit, deren antifeminine Einstellung zu übernehmen. Wahrscheinlich fasste sie einerseits immer noch keinen Mut zu einem so radikalen Schritt, denn das Äußere sowohl dieser Frauen als auch ihrer männlichen Gesinnungsgenossen, die sich ebenfalls schwarz kleideten und Jakobinerhüte, lange Haare sowie Bärte trugen, irritierte die Öffentlichkeit so sehr, dass man eine große Portion Begeisterung und nicht weniger Kühnheit brauchte, um sich mit einem solchen Habitus unter Menschen zu trauen.

      Andererseits dürfte diese anfängliche Distanzierung ebenfalls auf der Unfähigkeit der blutjungen Sofja beruhen, den Sinn des nihilistischen Strebens nach der absoluten Befreiung des Individuums aus dem Joch der Kirche, Familie oder des Staates zwecks Schaffung eines »neuen Menschen« zu begreifen. Diese kurzlebige Bewegung der 60er und 70er Jahre entstand in der Umbruchsära der bereits erwähnten Reformen Alexanders II., in welcher alle bis dahin geltenden Werte, sei es politischer, kultureller oder religiöser Natur, in Zweifel gezogen wurden. »Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität verbeugt, keinem Prinzip blind vertraut, möge man ihm noch so viel Zuversicht schenken«, definierte Iwan Turgenew den Anhänger der jungen Skeptikergeneration und gab ihm zugleich den Namen: Der Dichter leitete den Begriff vom lateinischen »nihil« (»nichts«) ab.

      Die Befürworter einer neuen, auf antitraditionellen Grundlagen basierenden Gesellschaft machten die staatlichen Behörden, vor allem die Polizei, auf sich aufmerksam. »Es reichte lediglich eine solche Lappalie, wie kurz geschorene Haare bei Frauen oder ein langer Bart, um einen jungen Menschen zum Staatsfeind zu erklären und ihn ins Gefängnis zu stecken. Daraufhin verbannte man ihn irgendwohin, weit weg, und zwar ›auf unbefristete Dauer‹, wie man es im bürokratischen Jargon formulierte.«

      Mit den Nihilistinnen entdeckte die mitten in der Pubertät steckende Sofja den Reiz des Verbotenen, einen bis dahin ungeahnten Nervenkitzel, während sie bei der Gratwanderung am Rande des Illegalen die Grenzen auslotete. Dass die Gruppe um die sechzehnjährige Kornilowa nicht ins polizeiliche Visier genommen wurde, war nur der Tatsache zu verdanken, dass es sich hier um die Tochter eines der größten russischen Unternehmer handelte, zu dessen Kundschaft sowohl der Zarenhof als auch die Vertreter der reichsten Schicht beziehungsweise die größten Firmen des Landes zählten. Darüber hinaus räumte der für jene Zeit erstaunlich tolerante Iwan Kornilow seinen Töchtern vollkommene Selbständigkeit ein und gewährte ihnen in jeder Situation Schutz. In diesem Spiel mit dem Feuer drohte den Mädchen also keine Gefahr.

      Ebenso wie die Abenteuerlust begeisterte Sofja der enorm hohe Wert, den Nihilisten auf Bildung, vor allem auf Naturwissenschaften, legten, weil das Mädchen fest entschlossen war, Mechanik zu studieren, sobald Frauen Zutritt auch zum Technikstudium erlangen würden, und das solle in absehbarer Zukunft geschehen, immerhin beteuerte das Wassili.

      In der Gesellschaft der Nihilistinnen war Sofja mit einem weiteren Erlebnis nicht nur konfrontiert, vielmehr wurde sie von dieser Entdeckung völlig übermannt. Das Gefühl der uneingeschränkten, ja totalen Freiheit verspürte Sofja 1870, als sie zum ersten Mal ohne Familie verreiste. Da Lew Perowski am Jahresanfang schwer erkrankte, rieten ihm die Ärzte, im Ausland Hilfe zu suchen, und so brach er im Frühling in Begleitung der Ehefrau und der älteren Tochter zur Reise nach Aachen auf. Obgleich er schon monatelang von der Familie getrennt lebte und nicht einmal zum Mittagessen nach Hause kam, ließ ihn die Gräfin nicht allein fahren.

Bildtextbeschreibung

      Vom Gefühl der uneingeschränkten Freiheit übermannt: ganz vorn Sofja; in der Mitte (v. l.) Alexandra Kornilowa, Anna Wilberg; dahinter Sofja Leschern von Herzfeldt, 1870

      Die Abwesenheit der Eltern nutzte Sofja sofort aus, indem sie ohne ihr Wissen und demnach auch ohne ihre Erlaubnis – die hätte sie bestimmt nicht erhalten! – zusammen mit Alexandra Kornilowa und Anna Wilberg eine Datscha in der Nähe Petersburgs, im Dorf Lesnoje, anmietete. Den drei Freundinnen schloss sich Sofja Leschern von Herzfeldt an, eine dreiundzwanzig Jahre alte, stämmige Generalstochter mit kurz geschorenen schwarzen Haaren und einem energischen Kinn. Sie war ebenfalls sowohl eine der Teilnehmerinnen der Alartschinski-Kurse als auch des Arbeitskreises der Kornilowa. Etwa sechs Monate verbrachten die jungen Frauen auf dem Lande, lernten viel, viel mehr aber genossen sie beim Schwimmen, Reiten oder bei Bootsfahrten die unbeschwerten Tage, weit weg von jeglicher Kontrolle. »Die drei erzählten mir hinterher, dass Sonja, als wäre sie verrückt geworden, ihr Pferd bis zur Erschöpfung galoppieren ließ oder das Tier zwang, sich aufzubäumen, während die anderen Mädchen in tausend Ängsten schwebten«, so Wassili Perowski. »Sie hatte stets meine Klamotten an: ein weißes Hemd, eine Pumphose und Stiefel. Ein Bekannter, der ihr zufälligerweise in Lesnoje begegnete, erkannte sie nicht wieder und dachte, sie wäre ein Junge.«

      Die einsame Sofja berauschte sich aber vor allem an der echten Kameradschaft, die in der Frauenbande herrschte, an der durch überschäumende Lebensfreude geprägten Atmosphäre. Das Bewusstsein, einer »Familie« endlich wirklich anzugehören, dort wirklich angekommen zu sein, zog das Mädchen so unwiderstehlich zu Kornilowas Zirkel. Weder Sofja noch ihre Geschwister hatten Freunde und konnten sie durch den ständigen Wohnortwechsel auch nicht haben. »Es ist unbestritten, dass die Perowskaja ausschließlich zu den Schülerinnen der Alartschinski-Kurse Kontakte pflegte.«

      Darüber hinaus herrschte in Sofjas Familie eine bedrückende emotionale Kälte, hervorgerufen durch die Entfremdung der Eltern voneinander, wofür man genügend Beweise in Wassilis Memoiren findet. Äußerst selten begegnet einem dort ein Zeichen irgendeiner sentimentalen oder nostalgischen Wärme, ihr Ton weist eher auf einen Bericht als auf Lebenserinnerungen hin. Das zerrüttete Familienverhältnis hinderte die Kinder daran, ein Zugehörigkeitsempfinden zu entwickeln, demzufolge standen sich die Geschwister gegenseitig nicht nah. Neben der Mutter, die sie abgöttisch liebte, fand Sofja in Wassili die einzige vertraute Person, bevor sie zu den Nihilistinnen kam, und diese gaben ihr nun alles, was sie bis dahin zu Hause so sehr vermisst hatte.

      Daher nahm sich Sofja nicht einmal eine Sekunde zum Überlegen, als sie, vor die Wahl gestellt, sich zwischen der Familie und dem Zirkel der Nihilistinnen entscheiden zu müssen, die Freundschaft wählte. Den ersten Selbstbestimmungsversuch wagte die junge Frau im Herbst, unmittelbar nach der Heimkehr der Eltern aus Deutschland. Die Aachener Kur brachte dem Grafen keine gesundheitliche Besserung, weswegen er stets mürrisch herumlief. Da er wieder unter einem Dach mit der Familie wohnte, lud Sofja ihre Freundinnen nur in seiner Abwesenheit ein. Einmal fand er sie doch vor, und an diesem Tag ging es Perowski besonders schlecht. Die bestiefelten Mädchen mit grauen – in Russland verpönten! – Brillen, die wie Matrosen qualmten und dabei in einer außergewöhnlich derben Sprache miteinander redeten, missfielen ihm sehr. Als die jungen Frauen weg waren, untersagte Perowski der Tochter jeglichen Kontakt zu ihnen.

      Auf das Verbot reagierte die empörte Sofja sofort mit der Ankündigung,