Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja. Liliana Kern

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Название Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja
Автор произведения Liliana Kern
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448458



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Vielfalt entstand. Es war also keine leichte Aufgabe, einen einheitlichen Gesetzeskodex auszuarbeiten, der sowohl dem weitgehend europäisierten baltischen Adel als auch demjenigen aus den entferntesten Winkeln Sibiriens oder etwa Kasachstans oder Turkmenistans Rechnung tragen konnte.

      Die schleppende Durchführung des Erneuerungsprozesses hatte ihre Ursache ebenso in einer »gewissen Halbheit in Alexanders Charakter«, in mangelndem Selbstvertrauen und dem daraus resultierenden Wankelmut, kurzum in der Unfähigkeit des Zaren, mit Konflikten fertig zu werden. Der zermürbende Kampf brauchte allmählich die Energie des Imperators auf, sein Asthmaleiden verschlechterte sich, und der Zweifel ergriff Besitz von seinem Gemüt.

      Trotz des erbitterten Widerstands seitens des reaktionären Lagers sowie persönlicher Schwankungen ließ sich Alexander II. von vornherein über die Tatsache nicht hinwegtäuschen, dass die Abschaffung der Leibeigenschaft nur noch eine Frage der Zeit war, und in diesem Falle befürwortete er lieber »eine Umwälzung von oben als eine von unten«.

      Im Falle ihres »Wandels von unten« begriffen die »Tschaikowzen« letzten Endes, dass er gescheitert war, aber nicht an Lethargie oder Bildungsmangel der ehemaligen Leibeigenen, sondern an deren eisernem Festhalten am »bäuerlichen Zarenmythos«. Aus diesem Grund betrachteten die Bauern die Appelle zum Aufruhr als ein Komplott ihrer ehemaligen Herren, die sich auf diesem Wege des »Väterchens Zar« entledigen wollten. In den jungen Idealisten vermuteten sie Strohmänner, hinter denen die Adeligen die Strippen zogen. Die ehemaligen Fronpflichtigen begegneten deshalb den jungen Agitatoren misstrauisch und ließen sie in ihren Häusern nicht übernachten. Wenn sie das doch taten, dann beschatteten sie die »Gäste« auf Schritt und Tritt, aus Angst, bestohlen zu werden.

      Bei einer Übernachtung bekam einer der jüngsten »Volkstümler«, der siebzehnjährige Lew Dejtsch, ein schwächlicher, bebrillter Junge mit schmalem Gesicht, von seinem Gastgeber erzählt, wie dieser einen Propagandisten überführt habe. Der Bauer ließ sich mit dem jungen Mann in ein Gespräch ein, als würde er sich für die Bücher, welche der Agitator bei sich trug, interessieren, und äußerte dabei den Wunsch, einige von ihnen zu bekommen. Die beiden verabredeten daraufhin einen Termin für den nächsten Tag, wo und wann die Übergabe stattfinden sollte. Nachdem sie Abschied voneinander genommen hatten, verständigte der Bauer die Polizei. »Ich lag auf einer Bank, die sich längs der Wand hinzog, und beobachtete den Bauern«, so Dejtsch. »Ein selbstgefälliges Lächeln schwand nicht aus seinem Gesicht. … Ich fragte mich nur, was weiter kam, obwohl das Ende leicht begreiflich war. Ein Polizist kam zum vereinbarten Treffpunkt und arretierte den unglücklichen Propagandisten samt allem Beweismaterial. Für den Verrat erhielt der Bauer einige Rubel. Ich legte mich mit dem Gesicht gegen die Wand und blieb bis zum Morgen wach.«

      Doch nicht nur bei den Bauern stießen die »Volkstümler« auf Unmut. Gleichermaßen waren sie den Dorfverwaltern und inbesondere den Priestern ein Dorn im Auge. Um den jungen Leuten zu zeigen, dass sie dort unerwünscht waren, scheuten sie vor keinem Mittel zurück, weder vor Intrigen noch vor Gerüchten, weil »das Leben im Dorf eine nimmersatte Habgier nach zusätzlichen Einnahmequellen prägte«, so Wera Figner. »Unsere Anwesenheit stellte eine direkte Bedrohung für sie dar. Wenn ich neben dem Popen am Bett des Kranken stand, konnte er dann um den Preis des geistlichen Beistandes feilschen? Wenn ich der Gerichtsverhandlung beiwohnte, ging gewiss der Schreiber an diesem Tag leer aus, ohne übliche Geldgeschenke oder Naturalien. … Bevor ich überhaupt begriff, was sich da abspielte, erfuhr ich von den Bauern, dass der Priester behauptete, ich lebte illegal und beherberge bei mir die Kriminellen. Damit aber nicht genug, er beteuerte auch, ich hätte keine Schule besucht, besitze keine Zeugnisse und sei so viel medizinisch ausgebildet wie er selbst. … Am Schluss schrieb er in dem Bericht an die Bezirksverwaltung, die Stimmung in seiner Gemeinde habe sich seit meiner Ankunft radikal verschlechtert: Nur noch wenige kämen in die Kirche, die Bauern würden nicht mehr so fleißig arbeiten, und überhaupt seien die Leute widerspenstig und ungehorsam geworden.«

      Natürlich gab es unter den Bauern auch diejenigen – wenn auch ganz rar gesät –, die mit den jungen Idealisten sympathisierten und sogar selbst als Propagandisten agiert hatten. Einem solchen begegnete Jekaterina Breschkowskaja. Die mittelgroße, schwarzhaarige Frau mit strengen Gesichtszügen gehörte zu den ältesten Propagandisten, obwohl sie erst dreißig Jahre alt war, als sie »ins Volk« ging und dafür den Ehemann und das Kind verließ. Da sie nicht genau wusste, wo der von ihr gesuchte Mann wohnte, erkundigte sie sich mehrmals unterwegs. Die von ihr angehaltenen Passanten bemühten sich um jeden Preis, auch den Grund ihres Besuches in Erfahrung zu bringen, und so erfand die Breschkowskaja stets neue Geschichten, um sie loszuwerden. »Endlich stand ich vor der Tür, und die war geschlossen. Ich klopfte lange und heftig, bis ein korpulenter, kräftiger Bauer mit einem roten Gesicht, zerzausten Haaren und schwarzen, glänzenden Augen vor mir erschien. Offensichtlich stand er unter Alkoholeinfluss. Außerdem sah man ihm sofort an, dass er erst von mir geweckt wurde. Ohne etwas zu fragen, sagte er mir sofort, seine Frau sei nicht da, worauf ich antwortete, ich würde eine Weile auf sie warten. Wir setzten uns auf die Bank, und ich fing das Gespräch an:

      ›Ich habe gehört, Sie würden sich für Arbeiterrechte einsetzen und bei den Versammlungen ganz klug diskutieren. Sie seien reichlich über die Situation informiert.‹

      Mein Gesprächspartner lächelte mich an:

      ›Ja, das tue ich, aber mich unterstützt niemand. Die Leute haben Angst. Wenn ihre Vorgesetzten sie anschreien, verkriechen sie sich sofort in die Löcher und mucken nicht auf.‹

      Merklich aufgeregt erzählte er, wie er in den Fabrikhallen vor den Beschäftigten aufgetreten sei, aber plötzlich verlangsamte sich sein Redefluss, wobei er ständig ein und dasselbe wiederholte. Als ich ihm die Hand zum Abschied reichte, kam er wieder zu sich, zog rasch eine unter der Bank stehende Flasche hervor und stellte zwei Becher auf den Tisch: Ich solle bleiben und mit ihm trinken, versuchte er, mich zu überreden. … Unterwegs ließ mich das Gefühl bitterer Enttäuschung nicht los.«

      Den niederschmetternden Erfahrungen zum Trotz bemühten sich die »Volkstümler« weiterhin hartnäckig, die Bauernmasse zur Revolution zu bewegen, aber im Laufe der Zeit stieg permanent die Zahl derjenigen, welche die aussichtslose Lage nicht verkrafteten und die Dörfer nach und nach verließen.

      Da der »Gang ins Volk« nicht die angestrebten Resultate brachte, widmeten sich nun die »Volkstümler« der Arbeiterschaft. So äußerte Sofja im Sommer 1873, nach ihrer Rückkehr in Petersburg, den Wunsch, sich an der Propagandaarbeit in den Fabriken zu beteiligen, und wurde mit der Agitation unter den Beschäftigten in den Baumwollspinnereien beauftragt, woraufhin das Mädchen zusammen mit dem »Tschaikowzen«-Veteranen, dem Leutnant Leonid Schischko, eine Wohnung in der Saratow-Straße, in der Nähe der besagten Betriebe, anmietete. Die beiden gaben sich mithilfe der gefälschten Pässe als Ehepaar aus. Diese konspirative Taktik war unter »Tschaikowzen« sehr beliebt, da die Wohngemeinschaften von alleinstehenden jungen Leuten sofort ins Fadenkreuz der Polizei gerieten.

      Ende September zog Sofja dann mit dem siebzehnjährigen Dmitri Rogatschew, dem Sohn eines reichen Landbesitzers, zusammen. Vor geraumer Zeit war der junge Artillerieoffizier der Despotie seines Vaters entronnen und hatte sich den »Tschaikowzen« angeschlossen. Die »Eheleute« ließen sich hinter dem Newa-Tor, in der Nähe der Textilfabrikkomplexe, nieder. »Der schweigsame, gutmütige Rogatschew, der schon zuvor eine fiktive Ehe geschlossen hatte, verhielt sich den anderen gegenüber immer distanziert, ja geradezu unterwürfig«, somit funktionierte die »Partnerschaft« einwandfrei. Bei diesem Umzug handelte es sich ebenfalls um einen Auftrag. Die von dem falschen Bräutigam Sergej Sinegub betriebene Propaganda in den Textilbetrieben stieß auf eine außergewöhnlich große Resonanz; so benötigte er Unterstützung und lud Sofja und Rogatschew zur Hilfe ein. Sinegub war auch der erste Nachbar des »Paares« und lebte mit seiner inzwischen nicht mehr fiktiven Frau Larissa zusammen: Die beiden hatten sich wirklich ineinander verliebt.

      Die Propaganda unter der Arbeiterschaft war keine neue Wirkungsdomäne der »Tschaikowzen«. Schon seit der Gründung der Kommune stand die Aufklärung des Industrieproletariats in deren Interessenfokus, blieb aber vorerst im Schatten des »Gangs ins Volk«. Diese Aktivität bestand darin, die Arbeiter sowohl einzeln als auch gruppenweise in Geschichte, Physik, Geografie etc. zu unterrichten. Die Lehrstunden