Название | Die Zarenmörderin - Das Leben der russischen Terroristin Sofja Perowskaja |
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Автор произведения | Liliana Kern |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711448458 |
Der Prestigeverlust traf den Grafen hart: Es scheiterte nicht nur Lew Perowski als Privatperson, vielmehr stand er da als einziger Versager eines der ältesten aristokratischen Geschlechter Russlands, dessen Mitglieder seit über hundert Jahren der Krone glanzvolle Dienste leisteten. Der Graf musste sich also nicht nur an der beruflichen Laufbahn seines verstorbenen Vaters, der beiden Onkel oder des Bruders messen, sondern vor allem an der des Urgroßvaters Kyrill Rasumowski, der im Alter von achtzehn Präsident der Akademie der Wissenschaften und mit zweiundzwanzig Hetman der Ukraine geworden war.
Die Aristokratenfamilie Perowski stammte von der Zarendynastie Romanow ab: vordere Reihe (v. l.) Sofjas Großeltern, Nikolaj und Scharlotta, ihr Onkel Petr; hintere Reihe in der Mitte: Lew Perowski, Sofjas Vater
Einen so schwindelerregenden Aufstieg hatte Sofjas Ahnherr allerdings seinem Bruder Alexej Rasumowski zu verdanken, und die Biografie des Stammgründers mutet wie ein echtes Märchen an. Der Kosakensohn, der Hirtenjunge aus einem Dorf in der Nähe von Tschernigow, landete seiner außergewöhnlich klangvollen Stimme wegen in der Zarenhofkapelle in Petersburg. Im Jahre 1735 begegnete ihm die junge Großfürstin Jelisaweta, die Tochter des Zaren Peter des Großen, verliebte sich in den schönen Sänger auf den ersten Blick und nahm ihn zum Liebhaber. Neun Jahre später, nach ihrer Thronbesteigung, veranlasste sie Kaiser Karl VII., Rasumowski den Titel eines deutschen Reichsgrafen zu verleihen. Kurz danach bescherte ihm die Zarin selbst noch einen russischen Grafentitel dazu, ernannte ihn erst zum Oberjägermeister und daraufhin zum Feldmarschall, um ihren morganatischen Favoriten nun schließlich heimlich zu heiraten. Zur Erhebung in den Adelsstand gehörte ebenfalls die Namensänderung; so nannte sich die Familie Perowski, nach dem Ort Perowo, wo die Trauung der beiden stattgefunden hatte.
Der ruhmreichen Familientradition gerecht zu werden, gelang dem Grafen offensichtlich nicht. Perowskis Verbitterung und Schmerz entluden sich in seinem aggressiven Verhalten hauptsächlich der Ehefrau sowie dem Küchenpersonal gegenüber. »Der Vater war übertrieben wählerisch, äußerst verwöhnt, wenn es um das Essen ging«, schreibt Sofjas Bruder Wassili in seinen Memoiren. »Einfache Gerichte der Landküche waren nicht nach seinem Geschmack. Bekam er ein solches serviert, sei es noch so lecker, rastete er sofort aus, beschimpfte den Koch, um danach über die Mutter herzufallen. Ungeachtet der Anwesenheit des Personals kränkte er sie mit schlimmsten, beleidigenden Worten, warf ihr und ihrer Verwandtschaft bäuerliche Primitivität vor. Auf alle Demütigungen antwortete die Mutter mit einem beharrlichen Schweigen. Solange er herumtobte, traute er sich nicht, uns Kinder anzuschauen, unsere finsteren Mienen zeigten ihm eindeutig, auf wessen Seite wir standen. Vaters tyrannisches Benehmen empörte besonders Sonja.«
In der Tat war Sofjas Mutter ein Mädchen vom Lande. Sie wurde als Tochter des Kleinadeligen Stepan Wesselowski in einem kleinen Dorf unweit der Stadt Mogilew geboren. Der damals dreißig Jahre alte Graf, ein großwüchsiger, bärenstarker junger Mann, an dessen Haupt das kräftige Kinn sowie die unverhältnismäßig hohe Stirn auffielen, lernte die gescheite junge Frau 1842 kennen und lieben, als das berühmte Ismailowski-Regiment, in dem Perowski als Adjutant des Korpskommandeurs diente, ein Manöver in der Mogilewer Gegend abhielt. Zum Militär wechselte der Graf nach seinem Studium am Petersburger Institut für Nachrichten- und Verkehrswesen und der darauf folgenden Arbeit am Bau des Ladogakanals, wo er als Ingenieur tätig war. Da sich Perowski mit der Kunst der Unterordnung anscheinend schwertat, hängte er einige Jahre später seine Uniform an den Nagel, nahm den Dienst beim Zollamt auf und vermählte sich anschließend mit seiner Braut. Die provinzielle Herkunft seiner Gattin fiel damals noch nicht ins Gewicht: »Da der Vater über eingeschränkte finanzielle Mittel verfügte, besuchten uns neben wenigen Verwandten nur einige seiner Arbeitskollegen sowie ein paar ehemalige Kameraden, und das war’s. … Auch unsere Großmutter Scharlotta stieg immer beim Onkel Petr ab, wenn sie sich in Petersburg aufhielt«, erzählt Wassili Perowski. Ebenso später, in Pskow oder auf »Kilburn«, erregte der Mangel an gehobenen Manieren der Gräfin kein Aufsehen, weil sie in der Provinz lebte, in einer ihr wohl vertrauten Umgebung.
Doch die Situation änderte sich schlagartig, nachdem der Generalgouverneur von Sankt Petersburg und reiche Erbe Lew Perowski seine Türen der vornehmen Gesellschaft geöffnet und den wöchentlichen, damals sehr modernen Jour fixe zu organisieren begonnen hatte. »An diesen Abenden verspürte die Mutter stets Unbehagen, weil man an jeder ihrer Gesten merkte, dass man es mit einer Provinzlerin zu tun hatte, was an dem Vater nicht vorbeiging und was ihn immer wieder wütend machte«, so Perowski weiter. »Es war der Grund für ihre ständigen Auseinandersetzungen, wobei der Vater äußerst grob werden konnte.«
Perowskajas Widerwille der mondänen Petersburger Oberklasse gegenüber übertrug sich auf die zwei jüngeren Kinder, besonders bei Sofja prägte sich diese Abneigung intensiv ein: »Während dieser Tanzabende tummelten Sonja und ich uns zwischen den Gästen, oder noch lieber setzen wir uns irgendwo in die Ecke und machten uns lustig über die herausgeputzten Damen mit ihren tiefen Dekolletés. Es waren die einzigen Bälle, die meine Schwester jemals besuchte. Auch als sie älter wurde, mied sie sämtliche Veranstaltungen solcher Art«, behauptet Wassili Perowski.
Neben den allmählich zum Alltag gewordenen Eheszenen tauchte ein weiteres Problem auf. Der Verdienst eines Mitglieds des Staatsrates, was der Graf jetzt war, reichte vorne und hinten nicht für ein Luxusleben, das ihm sein ehemaliger Posten ermöglicht hatte. Aber den eigenen sozialen Abstieg so offen zur Schau zu stellen und ihn obendrein noch zu akzeptieren, das wollte oder konnte er nicht. So gab der Graf weiterhin das Geld mit vollen Händen aus, weswegen die Familie bald vor einem Schuldenberg stand. Zum Ausmaß der wirtschaftlichen Misere trug gleichermaßen der Einnahmeausfall der vier geerbten Landgüter auf der Krim bei. Dieser kam dadurch zustande, dass ihr Verwalter in die eigene Tasche wirtschaftete und keinen Rubel nach Petersburg schickte. Der Not gehorchend, verkaufte Perowski die unschätzbar wertvolle Kollektion chinesischen Porzellans samt einigen Stücken des Antikmobiliars, eigentlich alles, was ihm sein mittlerweile schwer erkrankter Bruder Petr schenkte, bevor er zu Heilungszwecken nach Genf übersiedelte.
Als nun die Familienikonen verscherbelt wurden, versuchte die energische Perowskaja zu retten, was noch zu retten war. Sie entließ den Verwalter und fuhr mit den Töchtern im Sommer 1867 auf das Landgut »Kilburn«, während die Studenten Nikolaj und Wassili mit dem Vater in Petersburg zurückblieben. Die Trennung der Eheleute tat vor allem den Kindern gut: Sie wurden von den qualvollen, peinlichen Streitereien verschont. Dennoch schaffte es der Graf lediglich bis zum Winter, mit den Söhnen allein zu leben, dann aber, merklich überfordert, teilte er der Ehefrau mit, er wolle sich von ihr trennen, woraufhin er »bei einer moralisch anrüchigen Frau und deren Tochter zwei Zimmer anmietete«.
Im Unterschied zu den sich selbst überlassenen Brüdern erlebte Sofja dagegen eine unbekümmerte Zeit auf dem Lande, wo sie inzwischen reiten lernte: »Wir hatten auf dem Anwesen tatarische Braune, die zum Reiten hervorragend geeignet waren, was die Schwestern natürlich restlos auskosteten«, liest man bei Perowski weiter. »Insbesondere Sonja ritt leidenschaftlich gerne und hatte daran unheimlich viel Spaß, das Pferd galoppieren zu lassen. Da es aber nur einen Frauensattel gab, machte es ihr nichts aus, den für Männer zu benutzen.«
Nach zwei Jahren bereitete Perowski mit seiner Ankunft im Sommer der Krimer Idylle ein jähes Ende. Da die Landgüter »Kilburn« und »Nikolskoje« mit Hypotheken belastet waren und dem Grafen ein Gerichtsverfahren drohte, sah er sich gezwungen, zuerst das etwa 600 Hektar große »Nikolskoje« für 49000 Rubel zu veräußern. Zur Schuldenbegleichung reichte die Summe trotzdem nicht, und nun kam auch »Kilburn« unter